Zaudern oder mit dem Kopf durch die Wand -

Zaudern oder mit dem Kopf durch die Wand -

Zaudern oder mit dem Kopf durch die Wand -

# Predigt

Zaudern oder mit dem Kopf durch die Wand -

Liebe Gemeinde, 

„Wir liegen vor dir mit unserm Gebet und vertrauen nicht auf unsre Gerechtigkeit, sondern auf deine große Barmherzigkeit.“ Das ist der Wochenspruch aus dem Bußgebet des Propheten Daniel, den wir eingangs im Gottesdienst gehört haben. 

Wir vertrauen nicht auf unsre Gerechtigkeit, sondern auf Gottes große Barmherzigkeit.

Was heißt das, nicht auf die eigene Gerechtigkeit zu vertrauen? Und was heißt es, auf Gottes Barmherzigkeit vertrauen? Wir bekommen in der Lesung des heutigen Sonntags darauf eine andere Antwort, als im Predigttext. Und in beiden erhalten wir wiederum eine andere Antwort, als in den Mahnungen der biblischen Propheten, eine andere auch als in Jesu Bergpredigt. 

Die biblischen Propheten und Jesus von Nazareth rufen zu einer radikalen Gerechtigkeit auf: Helft den Armen, nehmt euch der Rechtlosen an, der Witwen und Waisen, widersetzt euch den Rechtsbeugern. Jesus fordert sogar noch mehr: Macht euch um des Friedens willen wehrlos. Vergebt einander. Urteilt nicht übereinander. Seid selbstlos, damit von euch kein Streit ausgehe.  

Lässt sich der Wochenspruch in diese Linie einordnen? Er ist ein Bekenntnis, dass wir eben nicht auf unsere eigene Gerechtigkeit vertrauen. – Was Unterschiedliches bedeuten kann.  

Das eine: Wir vertrauen nicht auf unsere Maßstäbe, sondern geben uns den Maßstäben Gottes hin. 

Das heißt: Unsere Gerechtigkeit setzt auf Fairness, dass jeder bekommt, was er oder sie sich verdient hat. Wer viel arbeitet, soll viel bekommen. Wer wenig arbeitet, soll wenig bekommen. 

Aber Gottes Gerechtigkeit setzt darauf, dass jede und jeder hat, was sie oder er zum Leben braucht. Jeder Tagelöhner im Weinberg – so erzählte es das Gleichnis aus der Lesung – bekommt einen Silbergroschen. Das war damals für einen Tagelöhner eine gute Bezahlung. Wer den ganzen Tag gearbeitet hat, bekommt einen Silbergroschen. Wer erst später dazu gekommen ist, bekommt auch einen Silbergroschen. Sogar diejenigen, die erst zum Schluss dazugekommen sind, bekommen einen Silbergroschen, auch wenn sie nur eine oder zwei Stunden gearbeitet haben. Jede und jeder hat, was sie oder er zum Leben braucht. 

Die Gerechtigkeit, von der Jesus im Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg redet, wäre demnach etwas anderes als das, was wir für gerecht halten. 

Entsprechend hieße das Bekenntnis aus dem Bußgebet des Daniel, unserem Wochenspruch: Wir vertrauen nicht auf unsere Gerechtigkeit, sondern auf Gottes Gerechtigkeit, die nicht nach gerechter Verteilung fragt, sondern nach einem guten Auskommen für alle. 

Die andere Deutung unseres Wochenspruchs „Wir vertrauen nicht auf unsere Gerechtigkeit“ hieße: Wir vertrauen nicht darauf, dass wir die Forderung nach Gerechtigkeit einlösen können, nicht einmal theoretisch einlösen könnten. In diese Richtung weist der Predigttext für den heutigen Sonntag, den ich Ihnen jetzt einmal vorlesen möchte.

Er stammt aus dem Buch eines Predigers – manche behaupten, dieser Prediger sei der König Salomo gewesen, was aber nicht sein kann. Denn diese Art der Weisheit ist von der griechischen Philosophie beeinflusst; sie stammt aus einer Zeit, da war der biblische König Salomo schon 800 Jahre tot. Und dieser Prediger, auf Hebräisch: Kohelet genannt, unter dem Namen finden Sie ihn auch in Ihrer Bibel – dieser Prediger tritt ziemlich illusionslos auf. Er glaubt nicht, was fast alle anderen Autoren der Bibel glauben: Dass wir für unser gerechtes Tun belohnt und für unser böses Tun bestraft werden. Sondern er macht in seinem Leben die Erfahrung, die viele von uns machen: Der Böse triumphiert, der Gute hat das Nachsehen. Eine Erfahrung, die uns heute im Zeiten von Autokraten und Lügnern wie Wladimir Putin und Donald Trump große Sorgen bereitet. 

Ich lese den Abschnitt vor, Prediger 7,15-18

Beides habe ich beobachtet in meinem Leben, das rasch vorüberzieht:
Da ist ein gerechter Mensch, der kommt ums Leben, obwohl er die Gebote befolgte.
Und da ist ein ungerechter Mensch, der hat ein langes Leben, obwohl er Böses tat.
Darum rate ich dir: Sei nicht übertrieben gerecht und bemühe dich nicht, überaus klug zu sein! Warum willst du dich selbst zerstören?
Handle aber auch nicht allzu gottlos, und tu nicht so, als wärst du dumm! Warum willst du vor deiner Zeit sterben?
Man sagt: »Gut ist es, wenn du das eine anpackst und auch von dem anderen deine Hand nicht lässt.« Denn wer Gott ernst nimmt, dem gelingt beides.

Soweit der Predigttext. 

Hier geht es nicht mehr darum, dass Gott andere Maßstäbe als wir für das hätte, was gerecht und was ungerecht ist. Sondern hier wird vorausgesetzt, dass klar ist, worin gerechtes Tun besteht: Nämlich sich anständig und fair zu verhalten. Sich also so verhalten, wie Trump und Putin es gerade nicht tun. Sie fahren ihre Ellenbogen aus. Sie schieben andere beiseite. Sie achten anderer Leute Rechte einen Dreck. Sie setzen gnadenlos ihre eigenen Interessen durch. Für sie gilt das Recht des Stärkeren, nicht gleiches Recht für alle. 

Allerdings sagt der Prediger, also Kohelet, nicht: Solches Verhalten werde früher oder später bestraft. Gottes Gerechtigkeit sei stärker und setze sich gegen solche Rüpeleien durch. 

Sondern er gesteht illusionslos ein: Leute wie Putin und Trump kommen mit ihren Rüpeleien durch. Und wir machen uns lächerlich, wenn wir nur dagegen anmoralisieren. Wir dürfen uns auf einen schmutzigen Kampf einstellen. Wir dürfen uns nicht in Purismus ergehen, sondern werden uns auch hin und wieder rüpelhaft gegen die Autokraten behaupten müssen. Wir sollen pragmatisch handeln, uns nicht im Idealismus verzetteln. Allerdings sollen wir dabei eines nicht vergessen: Wir sollen weiterhin auf Gottes Gnade vertrauen:

Mit dieser Erkenntnis im Hinterkopf, bekommt der Wochenspruch ein besonderes Geschmäckle: „Wir liegen vor dir mit unserm Gebet und vertrauen nicht auf unsre Gerechtigkeit, sondern auf deine große Barmherzigkeit.“

Er heißt nicht mehr: Wir scheitern an unserer Gerechtigkeit, deswegen müssen wir demütig sein vor Gott. Sondern er heißt: An hehren Gerechtigkeitsforderungen festhalten bringt sowieso nichts. Also lasst uns auch ein bisschen sündigen. Gott wird es uns schon nachsehen. 

Hier bewirkt nicht mehr die radikale Gerechtigkeitsforderung, dass wir erkennen, wie schwach und gebrechlich wir ihr gegenüber sind, und wie sehr wir doch auf Gottes Gnade angewiesen sind.  

Sondern hier schiebt sich eine Desillusionierung in den Vordergrund: Mäßige dich. Allzu radikal nach Gerechtigkeit rufen bringt nichts. Du musst irgendwie einen Mittelweg suchen. Gott wird es dir schon nachsehen. 

Liebe Gemeinde, warum erzähle ich Ihnen das? Ich selbst gerate bei den widersprüchlichen Forderungen der Bibel an meine Grenzen. Ich stehe hier und sage Ihnen frank und frei: Ich kann Ihnen nicht sagen, in welche Richtung Sie jetzt denken sollen. 

Sollen Sie Gottes Gerechtigkeitsforderung als absoluten Maßstab über alles stellen und daran unser ganzes Tun messen? Dann würden Sie schier verzweifeln über die große Verdorbenheit des Menschengeschlechts, und Sie müssten sich selbst einschließen. Wir selbst sind ja nicht besser. Und dann müssten Sie Sonntag für Sonntag Gott um Vergebung bitten. 

Das wäre ungefähr die Art von Leben, die Martin Luther in der ersten seiner 95 Thesen vorschwebte: Wenn unser Herr und Meister Jesus Christus sagt: Tut Buße, dann will er, dass unser ganzes Leben eine Buße sei. 

Wer so lebt, grübelt viel, macht sich jede Entscheidung schwer, zögert bei großen Entscheidungen, hadert mit falschen Entscheidungen. Ich habe großen Respekt vor Menschen, die so leben. Mein Lieblingsreformator Philipp Melanchthon war so ein Mensch. Er suchte stets Frieden und Ausgleich. Er hinterfragte sich selbst in allem, was er tat. Er gab sich nie hundertprozentig mit irgendetwas zufrieden. Solche Menschen wie Philipp Melanchthon sind mit hochsympathisch, weil sie so bedächtig und so umsichtig sind. 

Oder Sie nehmen von vornherein eine moderate Position ein, wie sie der Prediger, wie sie Kohelet in seiner Rede entfaltet – und Sie sagen: Niemand ist perfekt. Und wir würden uns nur selbst schädigen, wenn wir ständig mit diesem Perfektionsdrang durch die Gegend liefen und uns alle gegenseitig damit verrückt machen. Wir sollen maßvoll leben, das Leben genießen. Aber wir sollen auch freudig auf Entscheidungen zugehen.  

“Pecca fortiter, sed fortius fide“, rief Martin Luther einmal seinem zaudernden Freund Melanchthon zu. „Sündige kräftig, aber noch stärker: glaube!“ Geh mutig auf Entscheidungen zu. Fälle auch mal falsche Entscheidungen. Aber ganz wichtig, und noch viel wichtiger als deine Entscheidungsfreude, ist dein Glaube. Vertrau auf einen gnädigen Gott. Glaube schließt auch Demut ein. Gott wird es richten, und ich kann auf Gnade hoffen, wenn ich in der Situation, in der ich gefordert bin, mein Bestes gebe – und wenn es nicht gut genug ist. 

Wer so lebt, ist mehr ein Poltergeist, als es Melanchthon war. Aber vielleicht brauchen wir auch solche Menschen, Menschen mit Entscheidungsfreude. 

Was führt uns unterschiedliche Menschen am Ende wieder zusammen? 

Es ist wohl das Bekenntnis des Daniel: „Wir liegen vor dir mit unserm Gebet und vertrauen nicht auf unsre Gerechtigkeit, sondern auf deine große Barmherzigkeit.“ Dass wir skeptisch sind und bleiben gegenüber den Gerechtigkeitsmaßstäben, die wir selbst anlegen. Und dass wir, bei aller Entscheidungsfreude, vor allem eines nicht aus dem Blick verlieren: Wir sind und bleiben egal ob wir zaudern oder zügig handeln – wir sind und bleiben auf Gottes Gnade angewiesen. Amen. 

Dies könnte Sie auch interessieren

0
Feed