Wer vergibt wem?

Wer vergibt wem?

Wer vergibt wem?

# Predigt

Wer vergibt wem?

Liebe Gemeinde, 

der Predigttext für den heutigen Sonntag steht im Lukasevangelium, Kapitel 6; die Verse sind Teil der Feldrede, die wir aus dem Matthäusevangelium unter dem Namen Bergpredigt kennen. Ich lese die Verse 36 bis 42 vor. Da sagt Jesus zur Volksmenge: 

»Seid barmherzig, so wie euer Vater barmherzig ist. Ihr sollt andere nicht verurteilen, dann wird Gott auch euch nicht verurteilen. Sitzt über niemanden zu Gericht, dann wird Gott auch über euch nicht zu Gericht sitzen. Vergebt anderen, dann wird Gott auch euch vergeben.

Schenkt, dann wird Gott auch euch beschenken: Ein gutes Maß wird euch in den Schoß geschüttet – festgedrückt, geschüttelt und voll bis an den Rand. Denn der Maßstab, den ihr an andere anlegt, wird auch für euch gelten.«

Jesus erzählte ihnen auch ein Gleichnis: »Kann etwa ein Blinder einen Blinden führen? Werden sie nicht beide in die Grube fallen? Kein Jünger steht über seinem Lehrer. Auch wenn er fertig ausgebildet ist, ist er nur wie sein Lehrer.

Du siehst den Splitter im Auge deines Bruders oder deiner Schwester. Bemerkst du nicht den Balken in deinem eigenen Auge? Wie kannst du zu deinem Bruder oder zu deiner Schwester sagen: ›Komm her! Ich zieh dir den Splitter aus deinem Auge.‹ Siehst du nicht den Balken in deinem eigenen Auge? Du Scheinheiliger! Zieh zuerst den Balken aus deinem Auge! Dann hast du den Blick frei, um den Splitter aus dem Auge deines Bruders oder deiner Schwester zu ziehen.«

Was soll ich dazu sagen? Ja. – Richtig. – Überheblichkeit ist Jesu Sache nicht. Sich zum Richter über die anderen aufzuspielen – anderen Leuten Böses nachsagen, statt erst einmal vor der eigenen Haustüre zu kehren – unbarmherzig über andere urteilen, all das ist Jesu Sache nicht. Und vermutlich stimmen wir alle zu: So was tut man nicht!

Damit könnte die Predigt zu Ende sein. Aber Jesu Worte wären nicht Jesu Worte, wenn nicht irgendeine Provokation darinnen stecken würde. Und ich muss die Worte nur einmal gegen den Strich bürsten, dann wird auch deutlich, wo der Haken bei der Sache ist. 

Als sich 1945 Nazis und ehemalige SS-Offiziere absetzten und sich auf den sogenannten Rattenlinien über den Balkan in den Nahen Osten absetzten, oder über Spanien nach Lateinamerika, um dort ihrer gerechten Verurteilung zu entgehen und den geraubten Wohlstand zu genießen, den sie sich beiseitegeschafft hatten, da kamen sie auch in Klöstern unter. Und sie trafen auf Geistliche, die über sie Sätze formulierten, wie: Seid barmherzig, wie euer Vater barmherzig ist. Ihr sollt andere nicht verurteilen, dann wird Gott auch euch nicht verurteilen. Sitzt über niemanden zu Gericht, dann wird Gott auch über euch nicht zu Gericht sitzen. – Gemeint war: Es müsse doch mal Schluss sein mit den Verurteilungen. Jetzt sei die Zeit der Vergebung angebrochen. Mit dieser Begründung halfen Geistliche den Nazi-Schergen, ihren gerechten Urteil zu entkommen. 

Als die DDR aufgelöst wurde und hochrangige Politiker und Stasileute in unauffälligen bürgerlichen Existenzen untertauchten, da hörte man Sätze wie: »Es muss auch irgendwann mal gut sein. Wir sollten nicht übereinander zu Gericht sitzen. Wir sollten uns nicht gegenseitig verurteilen. Hatten wir nicht alle Dreck am Stecken? Zieh doch erstmal den Balken aus deinem Auge!«

Und je mehr die Fälle von sexualisierter Gewalt auch in den Kirchen bekannt wurde, erfuhren wir, warum dieser Skandal so lange verschwiegen worden war, welche gefährliche Haltung in den Kirchen so lange verhindert hatte, dass der Skandal aufgearbeitet und die Opfer angehört wurden. Pfarrer wollten nicht schlecht über Kollegen reden. Pfarrer wollten nicht unbarmherzig sein. Sie wollten nicht den Splitter im Auge ihres Bruders beklagen; ein jeder solle doch erst einmal den Balken aus dem eigenen Auge ziehen. – Und so unterblieb die Anklage, unterblieb die Unterstützung für die Opfer, ihr Recht einzuklagen, unterblieb die Konfrontation der Täter mit ihrem Unrecht. 

Wir wissen, dass dies eine missbräuchliche Deutung dieser Verse ist. Jesus kann nicht gemeint haben, dass man Übeltätern verzeihen soll, damit sie ihrem gerechten Urteil entkommen. Denn in derselben Feldrede sagt er wenige Verse zuvor: 

»Selig seid ihr, die ihr arm seid. Denn euch gehört das Reich Gottes.
Selig seid ihr, die ihr jetzt hungert. Denn ihr werdet satt werden.
Selig seid ihr, die ihr jetzt weint. Denn ihr werdet lachen.«

Jesus wendet sich denen zu, denen Unrecht widerfährt. Und er wendet sich von denen ab, die sich an anderen bereichern, die satt und zufrieden sind und andere Menschen ins Elend stürzen. Er sagt: 

»Wehe euch, ihr Reichen! Denn ihr habt euren Trost bereits erhalten. 
Wehe euch, die ihr jetzt satt seid, denn ihr werdet hungern. 
Wehe euch, die ihr jetzt lacht, denn ihr werdet weinen und klagen.« 

Die Übeltäter von gestern zu decken und im Namen der Demut Vergebung ausgerechnet für diejenigen zu verlangen, die Jahre lang unbarmherzig anderen Schaden zugefügt haben – genau darum geht es Jesus nicht. Sondern wir müssen genauer lesen und hören, was gemeint ist, wenn Jesus sagt: 

»Seid barmherzig, so wie euer Vater barmherzig ist.
Ihr sollt andere nicht verurteilen, dann wird Gott auch euch nicht verurteilen.«

Jesus vergleicht das Verhältnis von Mensch zu Mensch mit dem Verhältnis von Gott zu Mensch. Der Überlegene, nämlich Gott, ist vergebend. So sollt ihr auch sein, wenn ihr in der überlegenen Position seid – und zwar gegenüber denen, die in der unterlegenen Position sind. Die Stärkeren sollen die Schwächeren nicht verurteilen. Sie sollen sich nicht über sie erheben.  

Das heißt nicht: Die Stärkeren von gestern sollen sich mit den Stärkeren von heute zusammentun, um zu erreichen, dass die Schwächeren ihnen vergeben sollen. Davon ist hier nirgends die Rede. 

Nein, nach dem Zweiten Weltkrieg hätten sich die Kirchenleute, die einigermaßen ungeschoren durch den Krieg gekommen waren, gerade nicht mit den Tätern der Kriegszeit zusammentun und gemeinsam beschließen, dass die Opfer von gestern den Tätern von gestern zu vergeben haben. Davon ist bei Jesus nicht dir Rede. 

Nach der Wende sollten die Mächtigen nicht untereinander beschließen, dass das Volk den ehemaligen Mächtigen aus der DDR zu vergeben hat. Auch davon ist bei Jesus nirgends die Rede. 

Und die Pfarrer sollen nicht unter sich ausmachen, dass die Opfer den Tätern zu vergeben haben. Auch das hat Jesus nie verlangt. Sondern Jesus stellt sich genau dieser Art von Überheblichkeit entgegen, wenn er sagt. 

Kann etwa ein Blinder einen Blinden führen? 
Werden sie nicht beide in die Grube fallen? 

Jesus wendet sich gegen jede Form von Anmaßung, jede Form von Besserwisserei und Arroganz, wenn er sagt:

Kein Jünger steht über seinem Lehrer. Auch wenn er fertig ausgebildet ist, ist er nur wie sein Lehrer.

Mach dich nicht größer, als du bist – lautet der Rat. 

Siegrid Weiß fiel am vergangenen Mittwoch im Predigtvorbereitungskreis ein Bild von ihrem Katzenkalender ein. Die kleine kuschelige Katze hockt vorm Spiegel, bestaunt ihr Spiegelbild und sieht darin einen Tiger. Lebensweisheiten kommen neuerdings von Katzenkalendern. 

Aber genau darum geht es: Du bist kein Tiger. Du jagst dein Essen noch nicht einmal selbst. Du bist ein kleines kuscheliges Fellknäuel, ein schnurrendes Kopfkissen, und du bekommst dein Essen im Napf serviert. Halte dich nicht für jemand, der du nicht bist. Bescheide dich, bleibe demütig – und zwar du, der du dich über andere erhebst.   

Nicht du anderer Mensch, über den sich andere erhoben haben, denen andere Unrecht getan haben. Nicht du, der du zerstört in der Ecke liegst und eigentlich nur möchtest, dass Recht gesprochen wird, damit das Unrecht gesühnt wird. Damit das Unrecht publik wird. Damit das Unrecht beendet wird. 

Wer erhebt sich über wen? – Wenn wir das mitdenken, verstehen wir auch den letzten Satz aus dem Predigttext für den heutigen Sonntag: 

Du siehst den Splitter im Auge deines Bruders oder deiner Schwester. Bemerkst du nicht den Balken in deinem eigenen Auge? Wie kannst du zu deinem Bruder oder zu deiner Schwester sagen: ›Komm her! Ich zieh dir den Splitter aus deinem Auge.‹ Siehst du nicht den Balken in deinem eigenen Auge? Du Scheinheiliger! Zieh zuerst den Balken aus deinem Auge! Dann hast du den Blick frei, um den Splitter aus dem Auge deines Bruders oder deiner Schwester zu ziehen.

Was ist das für ein Balken in deinem Auge? – mal abgesehen davon, dass die Vorstellung, ein 10 mal 10 cm starkes Vierkantholz im Auge zu haben, etwas skurril anmutet – es ist eine humorvolle Übertreibung. Ja, Jesus hatte Humor. Und die Jünger durften lachen. 

Aber was ist das für ein Balken in deinem Auge? Welches unübersehbare Unrecht versuchst du zu ignorieren?, was redest du klein?, woran siehst du so auffällig vorbei? Stelle dich dem! Tu nicht so, als sei da nichts gewesen, und zwar du, der du Übles getan hast, der du anderen Menschen Schaden zugefügt hast, der du verletzt und gequält und vielleicht sogar getötet hast. Stelle dich dem, damit du auf Gottes Gnade hoffen kannst. Ja, du, du überheblicher Scheintiger auf dem Podium. Dich trifft die Anklage! 

Und nicht du verletztes Wesen, das du in der Ecke kauerst. Nicht du, verletzte Seele, die du Heilung brauchst. Nicht du, geschundener Leib, den nach Gerechtigkeit dürstet. 

Denn »selig seid ihr, die ihr arm seid. Euch gehört das Reich Gottes.
Selig seid ihr, die ihr jetzt hungert. Ihr werdet satt werden.
Selig seid ihr, die ihr jetzt weint. Ihr werdet lachen.«
Amen. 

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