Weltliteratur!

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# Predigt

Weltliteratur!

Liebe Gemeinde, 

der verlorene Sohn, das ist jemand, der sein Startkapital im Leben verprasst. Einfach sinnlos verprasst. Der bettelarm und reumütig vor der Haustür steht. Was sagen Sie ihm, wenn Sie die Tür öffnen?

Wir haben das Gleichnis unseren Konfis vorgelegt. Sie sollten den Inhalt erst sachlich erfassen und dann nachspielen. In der Reflexion danach war allen Jugendlichen klar: Der Vater hätte den Sohn mal so richtig konfirmieren müssen. Er hätte ihm mal so richtig die Meinung sagen müssen, ihm den Kopf waschen müssen. Für die 13-Jährigen war klar: So geht’s nicht.  

Irgendwann wachsen diese Jugendlichen aus diesem Alter heraus, ziehen selbst in die weite Welt, müssen wirtschaften, spüren immer mehr, wie alles Gelingen am seidenen Faden hängt – und spätestens mit Ende 20 dürfte auch den Behütetesten unter ihnen klar sein, worum es im Gleichnis vom verlorenen Sohn geht: um eine Gnade, auf die sie selbst vielleicht auch mal angewiesen sein werden. Wer weiß. 

Ich behaupte: Die meisten von uns waren schon mal verloren. Vielleicht nicht real verloren, aber doch in der eigenen Angst und Sorge, in den eigenen Befürchtungen und Phantasien verloren. Und manch eine oder einer von uns war auch schon von Anfang an verloren, als Scheidungskind aus dem sicheren Nest gefallen, auf der verzweifelten Suche nach der großen Geborgenheit, nach dem erlösenden Satz „Ich liebe dich, du bist doch mein Kind, du kannst immer zu mir kommen.“

Wir haben am vergangenen Mittwoch im Predigtvorbereitungskreis über dieses Gleichnis gesprochen. Und während wir es noch einmal lasen, wurde mir klar: Das ist Weltliteratur. Nur ein Genie kann sich dieses Gleichnis ausgedacht haben. Es ist bis ins Feinste durchdacht. Jeder Mensch auf der Welt kann es verstehen, egal in welcher Kultur man aufwächst. Es ist leicht zu verstehen, aber nicht leicht verdaulich. Man kann sich mit den Figuren identifizieren, aber nicht ohne Bauchschmerzen. Das Gleichnis berührt, aber es stößt auch ab, wirft schier unlösbare Fragen auf, lässt einem keine Ruhe. 

Wir müssen dem große Bruder zustimmen, wenn er seinen Vater anklagt: „Für meinen kleinen Bruder, der in der Fremde alles verprasst hat, feierst du ein Fest, aber nicht für mich, der ich immer bei dir war, der ich dir treu an deiner Seite gedient habe!“ Denn in der Kirche sind wir ja diejenigen, die immer treu dabeibleiben. Und die Gedankenlosen da draußen, das sind diejenigen, die sich wie der verlorene Sohn verhalten. Sollte Gott uns, die wir doch treue Kirchgänger sind, nicht besser aufnehmen, als die Gottlosen? Sollte er uns nicht einen privilegierten Platz im Himmel reservieren? Was will Jesus uns, den Treuen, mit diesem Gleichnis sagen. Das ist die eine Frage, die einen bei diesem Gleichnis umtreiben kann.

Die andere Frage: Muss ich nicht dem Vater widersprechen, wenn ich selbst einmal in seine Situation gerate und ich meinem Kind verzeihen soll, zumal wenn mich dieses Kind wieder und wieder enttäuscht, wenn es mich wieder und wieder mit seinen Anklagen und Unbotmäßigkeiten überzieht und mir einfach die Kraft ausgeht? Wie lange soll ich verzeihen? 

Petrus fragt Jesus einmal: „Wie oft muss ich meinem Bruder, der an mir sündigt, vergeben? Reicht siebenmal? Und Jesus sagt: „Nicht siebenmal, sondern siebzigmal siebenmal.“  

Kann ich das? Und vor allem: Schaffe ich das? Geht mir nicht irgendwann die Puste aus? Und ist es nicht irgendwann das Beste für alle Beteiligten, wenn ich als Vater oder Mutter ab einem gewissen Punkt eine Scheidelinie ziehe und sage: „Bis hierhin, liebes Kind, und nicht weiter. Unsere Kommunikation ist nur noch Streit. Wir kommen aus diesem Muster nicht mehr heraus. Ich muss mich jetzt selbst schützen“? - Ja, das ist absolut berechtigt. Und dann darf ich mich daran erinnern, dass der Vater im Gleichnis vom verlorenen Sohn für Gott steht. Und dass ich nicht Gott bin. Ich mag langmütig sein, aber nicht endlos langmütig wie Gott. Irgendwann sind meine Reserven aufgebraucht. 

Die große Stärke des Gleichnisses ist aber doch, dass es eine Erzählung ist. Anders als im Gespräch Jesu mit Petrus gibt das Gleichnis keine generelle Handlungsanweisung. Es sagt nicht: „Du sollst siebzigmal siebenmal verzeihen!“  Sondern Jesus erzählt eine Geschichte. Er erzählt, wie es dem Vater mit seinen beiden Söhnen ergangen ist. Und er erzählt, welche Entscheidungen wer an welcher Stelle getroffen hat, erst der jüngere Sohn, dann der Vater, dann der ältere Sohn. Und dass sie alle Menschen sind und andere Entscheidungen hätten treffen können. 

Jesus erzählt, wie der Sohn sich selbst besinnt, wie er in sich geht. Seine Überlegung lautet: „Wie viele Arbeiter hat mein Vater, und sie alle haben mehr als genug Brot. Aber ich komme hier vor Hunger um.“ 

Und der verlorene Sohn trifft eine faire Entscheidung. Er fordert nichts von seinem Vater. Er sieht eine Chance für sich, und die will er ausprobieren. Er will seinem Vater gegenüber einräumen: „Vater, ich bin vor Gott und vor dir schuldig geworden. Ich bin es nicht mehr wert, dein Sohn genannt zu werden.“ Und er will ihm eine Bewerbung einreichen, wie er sie jedem anderen Arbeitgeber auch geben würde. Er will vorschlagen: „Nimm mich als Arbeiter in deinen Dienst.“

Und Jesus erzählt auch von der Reaktion des Vaters. Für alle, die sich selbst in der Rolle des verlorenen Sohns sehen, ist sie umwerfend, überwältigend. Der Vater sieht seinen jüngeren Sohn schon von Weitem kommen – als hätte er die ganzen Jahre an der Tür gewartet und Ausschau gehalten. Er hat Mitleid mit ihm. Er läuft seinem Sohn entgegen. Er fällt ihm um den Hals und küsst ihn.

Diese Reaktion des Vaters gehört nicht zum Kalkül des Sohnes. Der Sohn ist noch nicht so weit. Er versteht die Szene nicht, kann das Verhalten seines Vaters nicht einordnen. Und er stellt klar: „Vater, ich bin vor Gott und vor dir schuldig geworden. Ich bin es nicht mehr wert, dein Sohn genannt zu werden.“

Spätestens jetzt wissen wir, dass hier kein Spiel gespielt wird. Sondern die Dinge ereignen sich nun einmal so. Da ist einer, der nichts hat, und dem seine Situation, sein eigenes Verschulden klar sind, und auch, dass er keinen Anspruch auf irgendwas hat.  

Die Reaktion des Vaters ist auch wieder ein Teil der Erzählung. Und die Erzählung besagt: So hat es sich zugetragen. – Der Vater aus der Erzählung reagiert nicht auf die abwehrenden, klarstellenden Worte seines Sohnes. Er antwortet nicht ihm, sondern er wendet sich schon seinen Knechten zu und erteilt ihnen Anweisungen. Seine Wiedersehensfreude hat ihn so überwältigt, dass er handelt. Er befiehlt seinen Dienern: „Holt schnell das schönste Gewand aus dem Haus und zieht es ihm an. Steckt ihm einen Ring an den Finger und bringt ihm Sandalen für die Füße. Dann holt das gemästete Kalb her und schlachtet es: Wir wollen essen und feiern!“ 

Man muss auf die Details achten. Der Vater sagt seinen Knechten: „Holt das gemästete Kalb“, nicht „ein gemästetes Kalb“. So steht es auch im griechischen Original. Der Vater holt das Wertvollste hervor, das er hat. Es ist keine abgestufte Reaktion. Es geht nicht darum, was angemessen gewesen wäre; das Ochsenfleisch von der Schlachtung letzter Woche hätte es sicherlich auch getan. Sondern es geht darum, dass die Freude, den Sohn wiederzusehen, grenzenlos ist. 

Die Botschaft gilt dem Kind, das verloren war. Sie geht nicht gegen Eltern, denen die Puste ausgeht. Sondern sie gibt dem verlorenen Kind zu verstehen: „Egal, was dir im Leben widerfährt, welches Unrecht du selbst zu verantworten hast – und wie spät auch immer du zur Einsicht gekommen sein magst (denn zur Einsicht ist der verlorene Sohn ja gekommen): dein himmlischer Vater wird sich über deine Rückkehr freuen. Maßlos freuen!“

„Mein Sohn hier war tot und ist wieder lebendig“, ruft der Vater im Gleichnis voller Leidenschaft aus. „Er war verloren und ist wiedergefunden.“

Jesus, der dieses Gleichnis erzählt, ist sich sehr über die Provokation, die darin steckt, bewusst. Ein weiteres Detail seiner Erzählung macht dies deutlich. 

Ich hatte früher ein englisches Bibelerzählbuch für Kinder, so eines aus dem 19. Jahrhundert, eines voller moralischer Botschaften, in dem alle Geschichten detailreich ausgemalt waren. Zur Geschichte vom verlorenen Sohn gab es ein Bild, in dem ein junger Mann im Wirtshaus zu sehen war, wie er Frauen umarmte, die sehr freizügig gekleidet waren und tiefe Einblicke in ihre sekundären Geschlechtsmerkmale gaben. Wie diese Frauen ganz offenkundig lachten und sich mit dem jungen Mann vergnügten.  

Im nächsten Bild sah man immer noch diese Frauen. Nur hockte der Sohn nun am Schweinetrog, und die Frauen feierten im Hintergrund des Bildes weiter im Wirtshaus. Die moralische Botschaft dieser Bilder: Menschen, die für Geld zu haben sind, lassen dich im Stich, wenn du in Not bist. Ich als Kind dachte: Wie kann der verlorene Sohn so dumm sein und annehmen, man könne sich Freunde erkaufen? – Ich war der untergeschobenen Interpretation der viktorianischen Kinderstube ganz erlegen.  

So erzählt Jesus das Gleichnis aber nicht. Am Anfang erzählt Jesus, dass der junge Mann in einem fernen Land. ein verschwenderisches Leben führte und sein ganzes Vermögen verschleuderte. Er erzählt von einer Hungersnot, für die der verlorene Sohn nun wirklich nichts kann, und dass er einen der Bürger des Landes um Hilfe bittet, also jemanden, der seinem früheren bürgerlichen Stand entspricht. Der verlorene Sohn weiß sich also zu helfen, er ist alles andere als dumm. Der Mann schickt ihn aufs Feld zum Schweinehüten. Und am Schweinetrog, an dem die Schweine ihn nicht mitessen lassen, da überkommt ihn die Reue. Von Huren und Dirnen keine Spur. Der verlorene Sohn mag leichtsinnig gehandelt haben. Moralisch verwerflich handelt er nicht. 

Erst am Ende des Gleichnisse, als der große Bruder auftritt und sich über die ungerechte Behandlung durch den Vater beschwert, macht uns Jesus das Mitgefühl für den kleinen Bruder schwer. Er springt dem großen Bruder erzählerisch zur Seite, verschärft sein Argument und legt ihm Wissen in seine Worte, das wir bis dahin noch gar nicht hatten: „Dein Sohn hat dein Vermögen mit Huren vergeudet“, sagt er. Er hat es völlig sinnlos ausgegeben, dazu noch unmoralisch und dumm vergeudet. 

Spätestens jetzt sollte sich jede Sympathie für den jüngeren Bruder in Luft aufgelöst haben. Jesus macht es uns durch seine Erzählweise schwer, die Entscheidung des Vaters für seinen jüngeren Sohn zu akzeptieren. Und ja, wir dürfen und sollen an diesem Gleichnis knabbern. 

Und ich knabbere daran. Aber immer, wenn ich selbst verloren bin, oder wenn ich eine verlorene Seele erlebe, die niemanden mehr hat, und die sich nichts sehnlicher wünscht, als jemanden, der sie endlich mal in den Arm nimmt, dann denke ich an den Vater aus dem Gleichnis vom verlorenen Sohn, der alle Fehler verzeiht, alle Unzulänglichkeiten außer Acht lässt, sich einfach nur freut und ruft: „Mein Kind ist wieder lebendig. Es war verloren und ist wiedergefunden.“ Und der dann das Schönste hervorholt und einfach nur noch feiert. Amen

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