22/10/2025 0 Kommentare
Was sehe ich, wenn ich Gott schaue?
Was sehe ich, wenn ich Gott schaue?
# Predigt

Was sehe ich, wenn ich Gott schaue?
Liebe Gemeinde, und ganz besonders: Liebe Tauffamilie!
Der Predigttext erzählt heute von einem, der sich mit seinem Bruder zerstreitet. Es ist ein absolutes Zerwürfnis. Da scheint nichts mehr zu kitten zu sein.
Jakob flieht vor Esau. Und gefangen im Kleinklein des Familienstreits, bei dem der eine sagt: „Du hast mir nie was gegönnt. Du hast alles immer nur genommen und für dich beansprucht“ – und der andere sagt: „Du hast es doch so gewollt. Ich habe mir nur genommen, was mir zusteht. Du hast es dir immer bequem gemacht, ich habe wenigstens einen Plan“ – gefangen in diesem Kleinklein läuft Jakob, bis es dunkel wird. Er flieht von Beer Scheva, was ganz im Süden des heutigen Israel liegt. Und er macht sich auf zu einem entfernten Verwandten nach Haran, was im Süden der heutigen Türkei liegt. Ich lese vor aus dem ersten Buch Mose 28, Kapitel 10 bis 19.
Jakob zog von Beerscheba nach Haran.
Unterwegs kam er an einen Ort, an dem er übernachtete.
Denn die Sonne war schon untergegangen.
Er nahm einen von den Steinen dort
und legte ihn neben seinen Kopf. Dann schlief er ein.
Im Traum sah er eine Leiter,
die von der Erde bis zum Himmel reichte.
Auf ihr stiegen Engel Gottes hinauf und herunter.
Plötzlich stand der Herr vor ihm und sagte:
»Ich bin der Herr, der Gott deines Vaters Abraham und der Gott Isaaks. Das Land, auf dem du liegst, will ich dir und deinen Nachkommen geben. Sie werden so zahlreich sein wie der Staub auf der Erde. Du wirst dich nach Westen und Osten, nach Norden und Süden ausbreiten. Durch dich und deine Nachkommen sollen alle Völker der Erde gesegnet sein. Siehe, ich bin bei dir und behüte dich überall, wohin du auch gehst. Ich bringe dich zurück in dieses Land. Ich werde dich nicht verlassen, bis ich vollbringe, was ich dir verheißen habe.«
Als Jakob aus dem Schlaf erwachte, sagte er:
»Der Herr ist an diesem Ort anwesend, und ich wusste es nicht.«
Da fürchtete er sich und dachte:
»Vor diesem Ort muss man Ehrfurcht haben! Hier ist gewiss ein Haus Gottes und ein Tor zum Himmel.«
Am Morgen stand Jakob früh auf und nahm den Stein, den er neben seinen Kopf gelegt hatte.
Er stellte ihn als Kultstein auf und rieb seine Spitze mit Öl ein. Jakob nannte den Ort Bet-El, das heißt: Haus Gottes.
Es gibt so unendlich viel, was an dieser Geschichte rätselhaft erscheint und was man vertiefen könnte:
Was ist das für ein Stein, den er neben seinen Kopf legt und dann am Ende als Kultstein aufrichtet und dessen Spitze mit Öl einreibt?
Wieso geht Jakob davon aus, dass sein Traum mit dem Ort verknüpft ist, an dem er schläft, und wieso gibt er diesem Ort den Namen Bet-El, Haus Gottes?
Welches Land verspricht Gott dem Jakob im Traum, und wieso hat Gott Jakobs Großvater Abraham ein ganz anderes Land versprochen, sechzig, siebzig Kilometer Luftlinie weiter im Süden?
Aber das kann man alles ein anderes Mal erörtern. In dieser altertümlich wirkende Geschichte sind ja – über das Altertümliche hinaus – offenkundig universell menschliche Erfahrungen konserviert, sonst hätte man diese Geschichte nicht überliefert. Heute möchte ich auf drei dieser universell menschlichen Erfahrungen näher eingehen.
Erstens: Jakob öffnet sich der Himmel im Traum; er sieht Gott vor sich stehen. Was sehe ich, wenn sich der Himmel auftut und ich plötzlich Gott schaue?
Zweitens: Eine Leiter verbindet Himmel und Erde. Was passiert mit mir, wenn ich diese Leiter hinaufsteige?
Drittens: Jakob sagt: Der Herr ist an diesem Ort anwesend, und ich wusste es nicht.
Ich fange vorne an.
Jakob öffnet sich der Himmel; er sieht Gott vor sich stehen. Was sehe ich, wenn sich der Himmel auftut und ich plötzlich Gott schaue.
Natürlich können wir diese Frage nur in unserem Verstehenshorizont und nur für uns beantworten. Ich habe lange darüber nachgedacht. Vielleicht ist das ein Moment der Erkenntnis, dass ich plötzlich über mich hinauswachse, über den Alltagsstreit und das Alltagsgezänk hinauswachse und merke, wie belanglos diese Streitigkeiten vor dem Ewigen sind. Ich schaue Gott und erkenne: Gott ist Liebe, und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm.
Gestern Abend war so ein Moment, in dem mich kurz das Gefühl beschlich, ich hätte so einen Moment der Erkenntnis. Es war im Konzert mit Serra Tavsanli hier in der Kirche. Serra hat ihr Konzert mit einem wunderbaren Gedicht des türkischen Dichters Yunus Emre beschlossen, einer kleinen Gottesschau:
Kommt, lasst uns
Bekanntschaft schließen.
Lasst die Dinge einfach fließen.
Lasst uns in Liebe leben.
Niemand überlebt die Welt.
Bekanntschaft schließen.
Die Dinge einfach fließen lassen.
In Liebe leben.
Das Leben ist kurz, wir sind doch nur ein winziges Aufflackern im Angesicht der Ewigkeit. Lasst aber doch wenigstens dieses Licht leuchten, verschwendet es nicht an die Dunkelheit.
Ich glaube auch, wenn wir taufen / als wir gerade Mathilde und Karl getauft haben, erinnern wir daran, dass unser Leben eingebettet ist in etwas viel Größeres. Wir erinnern an unsere eigentliche Bestimmung, Menschen zu sein, Gottes Ebenbild, ein Gleichnis dessen, der die Liebe ist.
Zweitens: Eine Leiter verbindet Himmel und Erde. Was passiert mit mir, wenn ich diese Leiter hinaufsteige?
Mit irdischen Leitern verbinden wir den Aufstieg, die Karriere, und mit dem Aufstieg verbinden wir Leistung, die wir erbringen müssen, und für die wir mit einer höheren Sprosse auf der Karriereleiter belohnt werden.
Aber die Himmelsleiter ist etwas anderes als die irdische Leiter. Je mehr ich mich Gott nähere, desto mehr füllt Gott mich aus, desto weniger bin ich es, der sein Leben meistert, desto mehr zieht sich mein Ego zurück, desto mehr tritt Liebe, tritt Vertrauen an die Stelle der Selbstbehauptung.
Die himmlische Leiter führt zu immer mehr Erkenntnis Gottes – nämlich zu der Erkenntnis, dass ich mein Leben nicht aus eigener Kraft, sondern aus Gottes Gnade lebe.
Als junger Mensch schreibt man oft seinen Lebenslauf. Dann listet man auf, was man schon alles gemacht und geschafft hat. Und je häufiger man das tut, desto mehr festigt sich die innere Gewissheit, dass man sein Leben selbst gestaltet; dass man sein Glück oder Unglück selbst in der Hand hat, dass jeder seines Glückes Schmied ist.
Aber nach und nach stellen sich Fehlschläge ein, auch Schicksalsschläge. Dinge, für die man selbst nichts kann. Auch berufliche Probleme, die man sich selbst nicht zuschreiben mag, sondern deren Ursache man bei anderen sieht.
Und damit ändert sich der Blick auf die Welt. Man sieht, wie viel Glück und Fügung einem dem Weg bereitet hat. Man erkennt an, dass längst nicht alles aus eigener Kraft gelungen ist. Dass oft die Umstände einfach günstig waren, oder dass man mit guten Ergebnissen überrascht wurde, oder auch mit schlechten Ergebnissen der eigenen Arbeit.
Die altkirchliche Deutung hat diese Glaubensentwicklung in das Bild von der Himmelsleiter eingekleidet. Der Mensch lernt nach und nach, wie die Engel mühelos die Leiter auf- und abzugehen. Er lernt sich dem Himmel zu nähern. Aber der steile Anstieg auf der Leiter ist gefährlich. Ständig besteht die Gefahr, dass einen eine Versuchung in die Tiefe reißt. Gefahren lauern wie Selbstgenügsamkeit, Selbstüberschätzung, Anmaßung, Überheblichkeit.
Demut ist ein schwieriger Begriff. Wir wollen aufrecht durchs Leben gehen, nicht unterwürfig, gebeugt oder klein gemacht. Und wir wollen auch nicht anderer Leute Anforderungen erfüllen; sondern wir fühlen uns im Glauben befreit.
Aber wenn ich das Anliegen der Alten Kirche aufgreife und auf heute anwende, dann ist doch gemeint, dass ich als glaubender Menschen im Laufe meiner Entwicklung lerne, Dinge und auch Menschen loszulassen, die ich nicht halten kann. Ich lerne Dinge anzunehmen, die ich nicht ändern kann.
Auf diesem schmalen Grat durch’s Leben zu kommen, aufrecht und klar, aber frei von Selbstüberschätzung, frei von Geringschätzung für andere und auch offen für die manchmal wundersamen Wege, die Gott mit uns geht, das macht meines Erachtens unsere christliche Existenz aus. Das Leben so zu bestehen, das möchten wir mit der Taufe auch Mathilde und Karl mitgeben auf ihrem Weg des Groß- und Erwachsenwerdens.
Das Dritte: Jakob sagt: Der Herr ist an diesem Ort anwesend, und ich wusste es nicht. Unser neuer Gemeindepädagoge Assefa, den ihr, liebe Andrea, lieber David, ja jetzt auf der Familienfreizeit näher kennengelernt hat, hat mir sein philosophisches Motto gesagt:
Das Leben wird nach vorne gelebt und nach hinten verstanden. Es ist ein Satz des dänischen Philosophen Sören Kierkegaard.
Es wird immer wieder Situationen der Gottverlassenheit und der Einsamkeit geben. Wir möchten den Kindern, die wir taufen / Mathilde und Karl aber genau das auf den Weg geben: Ein Vertrauen, dass sie auch dann gehalten sind – auch wenn sie nichts davon spüren. In der Depression, in der Verzweiflung sehen wir nur schwarz. Erst im Rückblick lässt sich die Linie nachzeichnen, der Weg, den Gott mit uns in dieser Zeit gegangen ist. Erst im Rückblick lässt sich dem im besten Fall ein Sinn, eine Bedeutung abgewinnen. Aber die Aufgabe des Glaubens ist, mutig nach vorne zu leben.
Wenn die Kinder / Mathilde und Karl größer werden, geben wir ihnen ein Handwerkzeug an die Hand, dass sie solche Momente bestehen: Worte, die sie beten können, wenn ihnen ihre eigenen Worte fehlen:
Und ob ich schon wanderte im finstern Tal,fürchte ich kein Unglück; denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich. Du bereitest vor mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde. Du salbst mein Haupt mit Öl und schenkst mir voll ein.
Worte, die ich mir in manchen Situationen nicht selbst sagen kann, aber die mir zugesagt sind. Worte, mit denen ich beten kann, wenn meine eigenen Worte versagen:
Dein Reich komme.
Dein Wille geschehe,
Unser tägliches Brot gib uns heute.
Vergib uns unsre Schuld.
Führe uns nicht in Versuchung.
Erlöse uns von dem Bösen.
Und wir bitten Gott und beten für uns selbst und für unsere Kinder / für Mathilde und Karl, dass sie irgendwann wieder sagen können:
„Der Herr ist an diesem Ort anwesend, und ich wusste es nicht.“ Aber er ist anwesend, und er war es – und er bleibt es. Amen.
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