Schlange und Kreuz

Schlange und Kreuz

Schlange und Kreuz

# Predigt

Schlange und Kreuz

Liebe Gemeinde,

Sie haben eben in der Lesung eine sonderbare Geschichte gehört (4. Mose 21,4-9). Sie spielt während der Zeit, als Israel der Sklaverei in Ägypten entkommen war. 40 Jahre musste das Volk durch die Wüste ziehen, bevor es ins verheißene Land kommen durfte. 40 Jahre der Mühsal, und alles nur für eine Hoffnung in weiter Ferne. 

Das Volk war frei. Aber es wohnte nicht mehr im fruchtbaren Land am Nil, sondern in der Wüste. Es hatte Sklaverei gegen Armut und Kargheit eingetauscht – eine Mühsal gegen die andere. Und es murrte gegen Gott. Und Gott strafte das Volk. Warum? Weil es nicht erkannte, wie kostbar die Freiheit ist. 

Ich frage mich manchmal, ob wir nicht heute wieder genau da stehen. Wir murren wegen Kleinigkeiten, und nicht wenige stellen die Nachrichtenlage völlig verzerrt dar, weil sie sich einseitig über krude Nachrichtenkanäle informieren; und sie sind wieder bereit, die Freiheit gegen Autoritarismus einzutauschen. Sie rufen nach Leuten, die mal so richtig aufräumen. Sie verlangen nach einer Alternative zur aktuellen Politik, obwohl die aktuelle Politik im Vergleich zu allem, was sonst so an Dilettantismus droht, noch erstaunlich gut bedient.

Damals, in der Wüste, strafte Gott das Volk für seinen Leichtsinn. Schlangen kamen ins Lager der Israeliten. Sie bissen die Menschen tot. Die Leute rannten zu Mose, er solle etwas dagegen tun. Und Mose wandte sich Gott zu. 

Von Gott kam daraufhin einen sonderbare Ansage. Und es entfaltete sich eine jener Geschichten, die niemand so richtig deuten kann, die aber irgendwann eine überraschende Deutung findet – als hätte diese Geschichte über Jahrhunderte nur deshalb in der Bibel geschlummert, um irgendwann wachgeküsst zu werden. 

Die Geschichte geht so weiter: Gott befiehlt Mose, einen ehernen Stab aufzurichten, also einen Eisenstab. Oben soll das Bildnis einer ehernen Schlange sein, also eine aus Eisen gegossene Schlange. Und dann heißt es: Jeder, der diese Schlange ansieht, überlebt die bösen Schlangenbisse und bleibt am Leben. 

Die Geschichte klingt ein bisschen nach einer Frühform der Homöopathie: Man heilt Gleiches mit Gleichem. Man fügt sich den giftigen Anblick einer Schlange zu, allerdings von Ferne und nur in geringen Dosen, um dem gefährlichen Anblick der realen Schlangen zu widerstehen; mehr noch: um ein Gegengift zu ihrem Gift zu entwickeln. - Hokuspokus im Alten Testament. 

Die Geschichte ist symbolhaft über unserem Altar hier in der Friedenskirche angedeutet. Unter den Piktogrammen nach Rudolf Koch, die man nach dem 2. Weltkrieg beim Wiederaufbau unserer Friedenskirche in die Wand überm Altar eingefügt hat, ist eines mit einem Kreuz und einer Schlange. 

Die Schlange steht für die Schlange des Paradieses, die das Menschenpaar zur Sünde verführt. Das Kreuz steht für den Erlöser, der am Kreuz die Macht der Sünde überwand. 

Der Predigttext für den heutigen Sonntag bindet beides, Paradiesesgeschichte und Leidensgeschichte Jesu über jene sonderbare Begebenheit in der Wüste zusammen und stellt so einen Zusammenhang her.  

Der Predigttext ist ein Auszug aus dem Gespräch, das Jesus mit dem ihm wohlgesonnenen Pharisäer Nikodemus führt. Nikodemus kommt in der Nacht zu Jesus und will wissen, wer genau dieser Jesus ist, dieser Mensch, der so große Zeichen tut. Er sagt zu Jesus: „Niemand kann die Zeichen tun, die du tust, wenn nicht Gott bei ihm ist.“

Und Jesus versucht Nikodemus diese andere Wirklichkeit zu erklären, die man sehen, die man erkennen muss, um Jesus zu verstehen. Jesus sagt: dass man sich dafür von Grund auf verwandeln lassen muss, er sagt: dass man wiedergeboren werden muss. Er sagt: dass man geistlich werden muss. 

Und Nikodemus wundert sich und fragt: Wie kann das geschehen?

Und dann erklärt ihm Jesus, was er meint, mit folgenden rätselhaft klingenden Worten – ich will euch gleich auch zu erklären versuchen, wie man diese Worte verstehen kann. Jesus verweist auf die Geschichte der Israeliten in der Wüste mit den giftigen Schlangen im Lager und sagt in Johannes 3,14-21, dem heutigen Predigttext: 

Wie Mose in der Wüste die Schlange erhöht hat, so muss der Menschensohn erhöht werden, damit alle, die an ihn glauben, das ewige Leben haben. 

Denn so sehr hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, auf dass alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben. 

Gott hat den Sohn nicht in die Welt gesandt, damit er sie verurteilt. Vielmehr soll er die Welt retten. 

Wer an ihn glaubt, wird nicht verurteilt. Wer aber nicht glaubt, ist schon verurteilt, denn er hat nicht an den geglaubt, der Gottes einziger Sohn ist.

Das ist aber das Gericht, dass das Licht in die Welt gekommen ist, und die Menschen liebten die Finsternis mehr als das Licht, denn ihre Werke waren böse. 

Wer Böses tut, hasst das Licht und tritt nicht ins Licht, damit seine Taten nicht herauskommen. 

Wer sich bei dem, was er tut, nach der Wahrheit richtet, tritt ins Licht. Seine Taten sollen bekannt werden, denn Gott selbst bestimmt sein Handeln. 

Jesu Worte sind rätselhaft, da geht es Nikodemus nicht anders als uns: Es ist für den Mann nicht einfach, Jesus zu folgen. Denn das, was Jesus sagt, ist ja auch schwer zu verstehen und schwer in Worte zu kleiden. 

Jesus vergleicht die Erhöhung der Schlange am Stab mit der Erhöhung des Menschensohns am Kreuz. Schon das Wort „Erhöhung“ ist doppeldeutig. 

Es meint auf der einen Seite, dass Mose den Stab hoch aufrichtet, um die Schlange hoch oben, weit über der Erde zu positionieren. Ebenso wird der Menschensohn, also Jesus, am Kreuz hoch oberhalb der Erde positioniert werden. Jesus spielt damit auf die Kreuzigung an – und er stellt den Bezug zwischen Schlange und Kreuz her, wie auf dem Piktogramm überm Altar hier in der Friedenskirche. 

Nur tut Jesus das mit einem widersprüchlichen Wort – mit einem absichtlich widersprüchlichen Wort. Denn Jesus widerspricht der Logik der Welt. Er spricht von „Erhöhung“ – und er meint „Erhöhung“ auch im anderen, übertragenen Sinn. Wer auf diese Weise weit oben über dem Boden positioniert ist, so Jesus, ist auch tatsächlich erhöht, also hoch und erhaben.

Nikodemus kann das nicht verstehen. Das ist für ihn ein Schritt zu viel. Denn Menschen, die damals gekreuzigt wurden, wurden nicht erhöht, sondern erniedrigt. 

Jesus will damit sagen: Der Menschensohn wird diesen Weg der Schmach gehen. Er, der göttliche Gestalt hatte, erniedrigt sich selbst, wird gehorsam bis zum Tod sein – und darum wird Gott ihn erhöhen. 

Wörtlich sagt Jesus: 

Wie Mose in der Wüste die Schlange erhöht hat, so muss der Menschensohn erhöht werden, damit alle, die an ihn glauben, das ewige Leben haben.“ 

Gott erhöht Jesus also, den Menschen zum Heil. Jesus wird gekreuzigt und auf diese widersprüchliche Weise „erhöht“ werden, damit der Menschheit dadurch Gutes widerfährt. Auch das betont Jesus gegenüber Nikodemus:

„Denn so sehr hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, auf dass alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.“ 

Die Frage ist nur: Wie kann der Kreuzestod Jesu etwas sein, das uns zum Heil gereicht? Wie kann Jesu Foltertod der Menschheit zum Guten gereichen?

Die erste Antwort, die Jesus gibt, lautet:

Gott hat den Sohn nicht in die Welt gesandt, damit er sie verurteilt. Vielmehr soll er die Welt retten.“ Wir deuten das in der Regel so, dass Jesus die Schuld der Welt trägt. So rettet Jesus die sündige Menschheit. Entscheidend ist aber hier die Aussage: Gott will die sündige Menschheit retten. Er will sie nicht verurteilen

Dann fährt Jesus fort – und hier wird es wieder rätselhaft: Wer an ihn (den Menschensohn – also Jesus) glaubt, wird nicht verurteilt. Wer aber nicht glaubt, ist schon verurteilt, denn er hat nicht an den geglaubt, der Gottes einziger Sohn ist.“

Warum ist, wer nicht glaubt, schon verurteilt – wenn doch Gott die sündige Menschheit eigentlich retten will? Jesu Erläuterung bleibt rätselhaft: 

Das ist aber das Gericht, dass das Licht in die Welt gekommen ist, und die Menschen liebten die Finsternis mehr als das Licht, denn ihre Werke waren böse. 

Wer Böses tut, hasst das Licht und tritt nicht ins Licht, damit seine Taten nicht herauskommen. 

Wer sich bei dem, was er tut, nach der Wahrheit richtet, tritt ins Licht. Seine Taten sollen bekannt werden, denn Gott selbst bestimmt sein Handeln.“ 

Ich will Ihnen jetzt nicht eine ein-für-allemal Erklärung bieten. Denn diese Worte sind und bleiben rätselhaft, und man hat sie in der Geschichte der Christenheit immer mal anders gedeutet, hat anderes hervorgehoben. Das macht ja die Botschaft des Neuen Testamentes aus, dass sie unterschiedliche Zugänge bietet. Dass sie Menschen zu jeder Zeit einen Weg anbietet, ihr Leben geistlich zu durchdringen und hintergründig zu verstehen. 

Ein Schlüssel, den ich Ihnen heute für diese Sätze anbieten möchte, liegt dieser Tage auf der Hand. Wir können diese Worte Jesu für uns übernehmen, wenn wir uns vergegenwärtigen, wo wir heute im Kampf zwischen Licht und Finsternis stehen. Denn darum geht es: Um das, was heute Licht und Finsternis scheidet. Nicht das physische Licht von der physischen Finsternis, sondern das geistliche Licht von der geistlichen Finsternis. 

„Die Menschen liebten die Finsternis mehr als das Licht“, sagt Jesus, „denn ihre Werke waren böse. Wer Böses tut, hasst das Licht und tritt nicht ins Licht, damit seine Taten nicht herauskommen. Wer sich bei dem, was er tut, nach der Wahrheit richtet, tritt ins Licht.“

Ich gehe zurück an den Anfang der Predigt: Wie war das bei dem Volk Israel, das aus der Sklaverei in die Freiheit geführt hatte und jede Menge Durststrecken erleben musste – hat das Volk Israel den Wert der Freiheit erkannt, oder war es bereit, wegen einiger Unangenehmlichkeiten die Freiheit wieder gegen die Sklaverei einzutauschen?  

Ich weiß gar nicht, ob Sie das in letzter Zeit mitbekommen haben. Elon Musk hetzt seit einiger Zeit auf seiner Social Media Plattform X gegen Richter, die seine Verfügungen stoppen – gegen Richter in Italien, Brasilien, Deutschland, auch gegen Richter in den USA. Das muss man sich mal vorstellen: Ein Beauftragter der Regierung hetzt gegen die Gerichte, die eine Kontrollinstanz bilden, um staatliches Handeln einzuhegen. Es geht um richterliche Urteile gegen Fake News, in den USA geht es auch um richterliche Verfügungen gegen die Massenentlassungen von Regierungsmitarbeitern. 

Der demokratische Rechtsstaat sieht mehrere Instanzen vor, die staatliches Handeln kontrollieren. Eine davon sind die Gerichte. Wenn Gerichte von Regierungsseite eingeschüchtert werden, wenn im Zuge der Massenentlassungen in den USA nun auch noch Richter ins Visier der Regierung kommen sollten und die Justiz auf diese Weise gefügig gemacht werden soll, dann könnte es mit dem Rechtsstaat ganz schnell vorbei sein. Welche Instanz könnte uns dann noch retten? 

Es gibt eine Instanz, die immer hält, die allem Bösen widerstehen kann. Sie heißt: das Gewissen. Das Gewissen ist der Ort, wo das Licht gegen die Finsternis kämpft. Wo die finsteren Stimmen auf mich einflüstern und sagen: „Bring dich in Sicherheit, es ist doch alles gar nicht so schlimm, schwimm lieber mit dem Strom und spiel nicht den Helden.“ Und wo die Lichtstimmen dagegenhalten und sagen: „Das ist unanständig. Das gehört sich nicht. Da darfst du nicht mitspielen.“

Das Gewissen ist nicht etwas, das jedem Menschen natürlich mitgegeben ist. Die Gewissensinstanz als solche zu erkennen, sie als den Ort anzuerkennen, wo sich die entscheidenden Fragen im Leben abspielen, das erfordert ein geistliches Verständnis der Welt. Das Gewissen ist Teil dieser anderen Wirklichkeit, die man erkennen muss, um Jesus zu verstehen.

„Die Menschen liebten die Finsternis mehr als das Licht“, sagt Jesus, „denn ihre Werke waren böse. Wer Böses tut, hasst das Licht und tritt nicht ins Licht, damit seine Taten nicht herauskommen. Wer sich bei dem, was er tut, nach der Wahrheit richtet, tritt ins Licht.“

Jesus selbst geht den Weg ans Kreuz. Er nimmt alle Nachteile dieser Welt auf sich. Er stirbt den schmachvollsten Tod, den man sich vorstellen kann, den Tod am Kreuz. "Darum hat ihn Gott erhöht und hat ihm den Namen gegeben, der über alle Namen ist, dass in dem Namen Jesu sich beugen sollen aller derer Knie, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind, und alle Zungen bekennen sollen, dass Jesus Christus der Herr ist, zur Ehre Gottes, des Vaters" (Philipper 2,9).

Wie die Israeliten auf die Schlange geschaut haben und ihnen von dort her Rettung kam vor den bösen Bissen der Schlange, so sollen wir auf das Kreuz Christi schauen, sollen wir uns am Kreuz Christi orientieren. Von dort her kommt uns Rettung vor den bösen Bissen der Finsternis, vor den bösen Bissen der Sünde. 

Das Gewissen, das ist die letzte Kontrollinstanz. An ihm soll sich die Finsternis die Zähne ausbeißen. Das Gewissen, das lassen wir uns nicht nehmen. 

Die Passionszeit ist eine Zeit der Schulung. In ihr schauen wir schonungslos auf unser Leben. Wir sehen auf die Schwere unserer eigenen Versäumnisse. Wir schulen uns darin, die eigene Kehrseite anzusehen. Wir schulen uns darin, uns selbst zu ertragen.  

Finsternis heißt: Die eigene Kehrseite von sich fernhalten. Die Menschen lieben die Finsternis mehr als das Licht. Das Licht aber bringt zutage, was mich eben auch ausmacht. Das Licht leuchtet meine Finsternis aus. 

An Christus glauben heißt: Auf das Kreuz des Hingerichteten sehen. Denn dieser Christus ist – obwohl schuldlos – verurteilt worden. 

Glauben heißt: Die Schwere der eigenen Versäumisse anerkennen und aushalten können. Glauben heißt: Das Gottvertrauen haben, dass uns vergeben werden kann. Dass Gott uns vergeben kann. Dass wir eben nicht verloren sind. 

Wer auf den am Kreuz Erhöhten sieht, der wie die Schlange des Mose hoch oben am Pfahl steckt, kann auch den Anblick dessen ertragen, was er selbst angerichtet hat. Denn er sieht den, der dafür sorgt, dass ich trotz aller Schuld weiterleben kann. In der Spannung von Schuld und Vergebung können wir leben, können wir anständig bleiben, komme, was wolle. 

Und so ist der, der alle Schuld auf sich nahm, die Medizin für alles, was uns durch Schuld den Atem zu nehmen droht. Er befreit uns von der Enge, die Schuldgefühle in uns auslösen. 

Der Menschensohn vertreibt die Finsternis. Er richtet uns auf. Er macht uns wieder zu Menschen, die aufgerichtet, die aufrichtig durchs Leben laufen können. Er gibt uns wieder das Licht. Er bringt uns wieder ans Licht. Amen. 

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