Querulantentum

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# Predigt

Querulantentum

Liebe Gemeinde!

Kennen Sie das? Sie geraten mit jemanden über ein Thema in eine Auseinandersetzung. Sie sind unterschiedlicher Meinung. Niemand will nachgeben. Die Meinungsverschiedenheit verfestigt sich. Jede Partei bleibt bei Ihrer Ansicht. Mit der Zeit steigern Sie sich selbst in eine Art prophetische Haltung hinein: Sie müssten um der Wahrheit willen bei Ihrer Meinung bleiben und dürften kein bisschen nachgeben. 

Wenn Sie es in einem Konflikt so weit gebracht haben, dürfen Sie davon ausgehen, dass Ihr Gegenüber ähnlich über seine Ansicht nachdenkt, dass er oder sie für die reine Wahrheit ficht und keinen Zentimeter nachgeben darf. – So, liebe Gemeinde, kommt man nicht weiter. 

Und dann gibt es andere Situationen, in denen es nicht um Meinungsverschiedenheiten geht, sondern um Anstand. 

  • Sie sehen Boshaftigkeit, und Sie fordern Menschlichkeit. 
  • Sie sehen Egoismus, und Sie fordern Gemeinsinn. 
  • Sie sehen Selbstbereicherung, und Sie fordern Fairness und Kontrolle. 

Ich meine nicht eine Situation,  wie ich sie eingangs geschildert habe: in der Sie Ihrem Gegenüber im Laufe eines Konflikts Boshaftigkeit, Egoismus und Selbstbereicherung unterstellen – auch wenn der Konflikt eigentlich ganz andere Anfänge hatte. Sondern ich meine eine Situation, in der der Konflikt bei dieser Beobachtung ihren Ausgang nimmt: 

  • Jemand ist gewalttätig oder mit Worten gemein und verletzend und spielt seine Überlegenheit aus. 
  • Jemand ist nur noch mit sich selbst beschäftigt und nimmt die anderen in seinem Umfeld überhaupt nicht mehr wahr. 
  • Jemand wirtschaftet in die eigene Tasche und schert sich nicht um Recht und Gesetz – und kommt damit durch. 

Solche Situationen gibt es. Vielleicht haben einige von Ihnen sie schon mal in Ihrem Leben erlebt – nicht, weil Sie mit jemandem überkreuz waren, sondern weil Sie einen Akt der Ungerechtigkeit oder der fehlenden Fairness nicht ertragen konnten, vielleicht sogar bei einem Menschen, der Ihnen im Prinzip sympathisch war. 

Solche Situationen erleben wir im privaten Bereich, und wir erleben sie auf der großen politischen Ebene. Aber wo wir sie auch erleben, im Grunde ähneln diese Situationen einander. 

Und von einem, der sich gegen die Übermacht von Bosheit, Egoismus und Selbstbereicherung wendet und daran verzweifelt, handelt der heutige Predigttext. 

Es ist ein Selbstzeugnis des biblischen Propheten Jeremia. Propheten sind Mahner, und Jeremia ist unter den biblischen Propheten der Inbegriff des Mahners, der eigentlich kein Mahner sein will, der unter seinem Auftrag leidet, aber der nicht anders kann als mahnen. Etwas treibt ihn, auch wenn ihn diese Mahnungen in eine schwierige Lage bringen, auch wenn diese Mahnungen andere gegen ihn aufbringen. Hören Sie selbst, wie Jeremia sein Leid klagt. Ich lese seine eigenen Worte, wie sie in Jeremia 20,7-13 festgehalten ist: 

„Herr, du hast mich überredet und ich habe mich überreden lassen. Du bist für mich zu stark geworden und hast gewonnen.
So bin ich jeden Tag zum Gespött geworden, alle lachen mich aus.
Immer wenn ich reden will, schreie ich es heraus. »Gewalt und Zerstörung!« muss ich rufen.
Das Wort des Herrn ist mir eine Last geworden. Den ganzen Tag bringt es mir nur Hohn und Spott.
Ich fasste für mich den Entschluss: Ich denke einfach nicht mehr an ihn. Nie wieder werde ich in seinem Namen reden.
Doch da brannte es in meinem Herzen wie Feuer, eingeschlossen in meinem Inneren. Ich versuchte es auszuhalten, schaffte es aber nicht.
Ich hörte das ganze üble Gerede: »Er verbreitet um sich herum nur Schrecken! Zeigt ihn an!« – »Ja, lasst ihn uns anzeigen!« Selbst alle, die mir nahestehen, warten nur, dass ich stürze: »Vielleicht schaffen wir es, ihn vorzuführen. Dann können wir ihn packen und uns rächen.«
Doch der Herr ist bei mir. Er beschützt mich wie ein starker Held. Deshalb werden meine Verfolger zu Fall kommen und keinen Erfolg haben. Sie werden sich schämen, weil es ihnen nicht gelingt. Für immer wird ihre Schande unvergessen sein.
Der Herr Zebaot prüft den Gerechten, er untersucht Herz und Nieren.
Dir vertraue ich meinen Fall an und werde sehen, wie du Rache an ihnen nimmst.
Singt für den Herrn und lobt den Herrn! Denn er rettet das Leben des Wehrlosen, aus der Gewalt der Übeltäter befreit er ihn.

Soweit Jeremias Klage – und Sie merken, gegen Ende verwandelt sich die Klage in Gotteslob. Denn letztlich fühlt sich Jeremia doch von Gott getragen. 

Wir dürfen uns aber nicht vorzeitig von diesem Gefühl des Getragenseins ablenken lassen von dem, was Jeremia eigentlich durchzustehen hat. Zeile für Zeile gehe ich mit Ihnen Jeremias Worte durch. 

Jeremia steht unter einem Zwang zum Mahnen. Er sagt: 

Herr, du hast mich überredet und ich habe mich überreden lassen. Du bist für mich zu stark geworden und hast gewonnen.

Und hier schon müssen wir aufpassen. Es gibt heute zwei Denkfiguren im Bereich der Kirchen: eine liberale, von Christus aus denkende. Und eine radikale, vom verletzten Ich aus konstruierte Denkfigur. 

Ich fange an bei der Letzteren. Sie kennen vielleicht Abrahams größte Prüfung, er solle zum Brandopfer machen, was ihm am allerliebsten ist, was ihm alles bedeutet, woran sein Herz am meisten hängt: seinen Sohn Isaak. Und Abraham folgt dem Befehl widerspruchslos. Der dänische Philosoph Sören Kierkegaard hat diesen Weg Abrahams als eine große, einsame Entscheidung eines Menschen beschrieben, der sich genötigt sieht, alle menschliche Ethik über Bord zu werfen und seinen einsamen Weg zu gehen, den kein anderer Mensch nachvollziehen kann, für den er sich die Verurteilung aller anderer einholt und um dessen Willen er als einsamer und gebrochener Mensch sterben muss. 

Heutzutage missbrauchen radikale Fundamentalisten Kierkegaards Deutung des Abraham, um zu behaupten: Gott habe ihnen den Auftrag gegeben, Ärzte zu ermorden, die Abtreibungen begehen, oder Menschen zu erschießen, die mit ihrem liberalen Gedankengut das christliche Abendland schwächen oder er habe ihnen geboten, mit einem Auto in eine Menge zu fahren, um die Stimmung im Land zu polarisieren und das Land in einen Bürgerkrieg zu führen. 

Das ist Missbrauch. So hat Kierkegaard den einsamen Glaubenshelden Abraham nie porträtieren wollen. Im Gegenteil, wer Kierkegaards Denkfigur des unverstandenen Menschen mit seiner einsamen, nicht zu rechtfertigenden Entscheidung missbraucht, um seinen eigenen Terror zu legitimieren, verkehrt diese Denkfigur in ihr Gegenteil. Denn sie ist ja gerade nicht geeignet, irgendeine menschenfeindliche Handlung zu legitimieren. Sie eignet sich nur, um die Gebrochenheit des religiösen Menschen zu beschreiben. 

Wenn Jeremia sagt: Herr, du hast mich überredet und ich habe mich überreden lassen. Du bist für mich zu stark geworden und hast gewonnen,

dann spricht hier nicht das radikale Ich, das seine politischen Vorstellungen gegen andere mit Gewalt durchsetzen will. Sondern dann spricht hier der gebrochene Mensch, wie ihn Kierkegaard beschreibt, dem jede Rolle lieber wäre als die Rolle dessen, der seinen Einspruch geltend machen muss. Denn Jeremia fährt fort: 

So bin ich jeden Tag zum Gespött geworden, alle lachen mich aus.

Mahnen ist unbequem. Fokussiert zu bleiben und nicht in die bequeme Haltung des Querulanten zu verfallen, ist anstrengend. Bei aller Anklage gerecht zu bleiben und nicht in selbstgerechte Übertreibungen zu verfallen, erfordert harte Arbeit. Es erfordert, dass man sich mit der Position der Gegenseite beschäftigt, sich daran abarbeitet und sich nicht mit billigen Unterstellungen zufriedengibt. 

Und doch bleibt man als Mahner der ungeliebte Überbringer der schlechten Nachricht.

Immer wenn ich reden will, schreie ich es heraus. »Gewalt und Zerstörung!« muss ich rufen. Das Wort des Herrn ist mir eine Last geworden. Den ganzen Tag bringt es mir nur Hohn und Spott. 

Wie finde ich eine Balance zwischen Schwarzmalerei, die darin besteht, alles unnötig schlecht zu reden, und gewinnender Ansprache, die andere mitnimmt – aber gleichzeitig in Gefahr steht, das Böse zu verharmlosen, den Egoismus nicht zu benennen und die Selbstbereicherung kleinzureden?

Als Mahnende geraten wir schnell in die Sackgasse. Man stempelt uns als Nervensägen ab, steckt uns in eine Schublade mit den querulantischen Fundamentalisten, mit denen, die ihre verbohrten Ansichten mangels besserer Einsicht mit Gewalt durchsetzen wollen. Schnell sind wir aus dem Rennen genommen, man nimmt uns nicht ernst. Die Mehrheit kippt gegen uns. Wir wollen aufgeben, sehen keinen Sinn mehr, für das zu streiten, auch wenn wir die Schwäche in der Argumentation der Gegenseite treffend beschreiben können. Und auch wenn wir wissen, es liegt nicht an den guten Argumenten, dass wir unterliegen, sondern es liegt an der allgemeinen Ermüdung, an der allgemeinen Resignation, an der allgemeinen Perspektivlosigkeit, dass sich die Mehrheit dem Irrweg einer Minderheit unterwirft, oder dass sie den Egoismus der wenigen nicht erkennt, oder dass sie den Zynismus einer kleinen Kaste von Superreichen hinnimmt, als wäre alle Politik nur Spaß und Unterhaltung. Auch Jeremia will aufgeben:  

Ich fasste für mich den Entschluss: Ich denke einfach nicht mehr an ihn. Nie wieder werde ich in seinem Namen reden.  

Aber auch wenn sich der Prophet zurückhält, bleibt das Unrecht bestehen. Er kann nicht weggucken, kann seine Einsicht nicht ungeschehen machen, weshalb er doch wieder seine Rolle des Mahners einnimmt – allen üblen Erfahrungen zum Trotz. 

Jeremia formuliert es so: Doch da brannte es in meinem Herzen wie Feuer, eingeschlossen in meinem Inneren. Ich versuchte es auszuhalten, schaffte es aber nicht.  

Das erneute Mahnen ändert nichts an seiner Situation. Er mag aus der Erfahrung schlauer geworden sein. Aber das nützt ihm nichts. Sein Isolation verstärkt sich nur.  

Ich hörte das ganze üble Gerede: »Er verbreitet um sich herum nur Schrecken! Zeigt ihn an!« – »Ja, lasst ihn uns anzeigen!« Selbst alle, die mir nahestehen, warten nur, dass ich stürze: »Vielleicht schaffen wir es, ihn vorzuführen. Dann können wir ihn packen und uns rächen.«

Hier endet das innere Zwiegespräch dessen, der sich für das Wohl aller einsetzt – und dabei nur Misstrauen und Hass erntet, allgemeines Unverständnis und Gegenreaktionen. Wir wissen im Allgemeinen, dass Jeremia davor warnt, der Übermacht der über Israel herrschenden Kolonialmacht zu widerstehen. Aber was hier im Besonderen die Konfliktlage war, wissen wir nicht. Auch nicht, wie dieser spezifische Konflikt ausgeht.

Aber das innere Zwiegespräch wäre nicht biblisch, wenn es nicht doch irgendwie getragen wäre von einem Grundvertrauen. Und so fährt Jeremia in einer plötzlichen Stimmungsumkehr zuversichtlich fort: 

Doch der Herr ist bei mir. Er beschützt mich wie ein starker Held. Und er äußert seine Zuversicht, dass sich das Blatt eines Tages wenden werde: Deshalb werden meine Verfolger zu Fall kommen und keinen Erfolg haben. Sie werden sich schämen, weil es ihnen nicht gelingt. Für immer wird ihre Schande unvergessen sein.

Gottes Gerechtigkeit steht für Jeremia außer Frage: 

Der Herr Zebaot prüft den Gerechten, er untersucht Herz und Nieren. Dir vertraue ich meinen Fall an und werde sehen, wie du Rache an ihnen nimmst.

Weshalb er zum Schluss ein Loblied auf Gott anstimmt: 

Singt für den Herrn und lobt den Herrn! Denn er rettet das Leben des Wehrlosen, aus der Gewalt der Übeltäter befreit er ihn. 

Mich lässt dieser Schluss etwas ratlos zurück. Er nimmt zwar die Botschaft des heutigen Sonntags auf: „Meine Augen schauen stets auf den Herrn“ – occuli mei semper ad Dominum. Meine Augen schauen auf dem Herrn, und ich mache mich bereit, ihm zu folgen, wohin er auch geht. Und ja, dafür brauche ich die Gewissheit, dass der Herr bei mir ist, mich beschützt und meine Verfolger zu Fall bringt. Und diese Gewissheit soll und darf ich auch bei mir tragen. 

Aber das hebt ja die schwierige Situation nicht auf, in der sich der mahnende Prophet befindet. Wir müssen noch in einem letzten Gedankengang einmal genauer darauf schauen, was es in der Passionszeit heißt, die Augen auf den Herrn zu richten und ihm nachzufolgen – in die Passion, ins Leiden, ans Kreuz. 

Kaum ein anderer Text beschreibt das komprimierter als der älteste Hymnus im ganzen neuen Testament, den Paulus in seinen Philipperbrief einflicht. Der Hymnus geht so: 

Er, der in göttlicher Gestalt war, hielt es nicht für einen Raub, Gott gleich zu sein, sondern entäußerte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an, ward den Menschen gleich und der Erscheinung nach als Mensch erkannt. Er erniedrigte sich selbst und ward gehorsam bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz. 

Nachfolge ist immer Nachfolge ans Kreuz. Nachfolge ist nie, die eigenen Gewissheiten mit Gewalt durchzudrücken. Sondern Gehorsam zu sein, Selbsterniedrigung auszuhalten, die Knechtsgestalt zu ertragen. 

Nachfolge ist immer Selbstentäußerung. Nachfolge ist nie triumphal. Nachfolge heißt, den Predigttext für den heutigen Sonntag von vorne zu lesen, die Klage des Propheten ins Zentrum zu stellen, sich in ihr wiederzufinden, aber doch durchzuhalten. 

Nachfolge ist aber doch zumutbar, weil wir wissen, dass Gott uns nicht im Stich lässt. Deswegen können wir in Jeremias Zuversicht einstimmen, wie auch der Philipperhymnus über Jesus von Nazareth, den Christus, jubelt: 

Darum hat ihn auch Gott erhöht und hat ihm den Namen gegeben, der über alle Namen ist, dass in dem Namen Jesu sich beugen sollen aller derer Knie, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind, und alle Zungen bekennen sollen, dass Jesus Christus der Herr ist, zur Ehre Gottes, des Vaters.

Amen.

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