16/04/2025 0 Kommentare
Passionspunkt II: Über Sport und Politik
Passionspunkt II: Über Sport und Politik
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Passionspunkt II: Über Sport und Politik
Passionspunkt II: Elternhaus von Helene Mayer
Musik
Anmoderation:
Herzlich Willkommen zum 2. Passionspunkt in Offenbach, heute vorm Elternhaus der Fechterin Helene Mayer. Mein Name ist Burkhard Weitz. Ich bin Pfarrer an der Friedenskirche Offenbach.
Neben mir steht Waldemar Krug. Er war Präsident des Offenbacher Fechtclubs von 1863, dem zweitältesten Fechtclub Deutschlands, als der Club sein 150. Jubiläum feierte. Er hat damals auch den Nachlass von Helene Mayer gesichtet. Sie zählte zu den größten Stars des Clubs. Kaum jemand hat sich so eingehend mit Helene Mayers Leben auseinandergesetzt, wie Waldemar Krug. Herr Krug, danke, dass Sie unser Experte sind und uns von Helene Mayer erzählen, die als Tochter eines Juden 1936 bei den olympischen Spielen in Berlin für Deutschland focht, man muss leider sagen: bei Hitlers Propagandaspielen.
Danke an die Stadt Offenbach, insbesondere das Ordnungsamt, das uns die Genehmigung erteilt hat, heute diesen Ort für unser öffentliches Gedenken zu nutzen.
Danke an die Klezmerband Naschuwa, die uns schon gestern mit ihrer wunderbaren Musik begleitet hat.
Danke, dass ihr auch heute wieder dabei seid.
Ein genereller Dank geht an die Geschichtswerkstatt Offenbach, ganz besonders an Barbara Leissing, die das Format „Passionspunkte“ mit ins Leben gerufen und mit ihrer Expertise überhaupt ermöglicht hat.
Ein Dank geht an die offene Stadtkirchenarbeit unter Leitung von Manuela Baumgart, die uns mit ihrer Erfahrung und ihren Kontakten viele Türen geöffnet hat. Waldemar Krug, Sie haben das Wort:
Bericht von Waldemar Krug zu Helene Mayer
Am 2.2.1906 zog Ludwig Carl Mayer, Helene Mayers Vater, ein jüdischer Arzt, nach Offenbach am Main. In der Bahnhofstraße 18, im Haus, vor dem wir stehen, eröffnete er seine Arztpraxis. 1908 heiratete er seine Frau Ida Anna. Das Paar hatte drei Kinder: 1909 wurde Eugen geboren, im Dezember 1910 Helene, 1916 Ludwig.
Hier wuchs also Helene Mayer auf. Mit zehn Jahren wurde sie einem Fechtmeister im Fechtclub Offenbach von 1863 vorgestellt, im zweitältesten Fechtclub Deutschlands. Er erkannte Helenes Talent. Der Funke sprang über – Helene wurde eine begeisterte junge Fechterin.
Mit ihr ging es steil aufwärts:
1923 gewann Helene Mayer die Jugendmeisterschaft im Florett.
1924 wurde sie Deutsche Vizemeisterin.
1925 siegte Helene Mayer bei den Deutschen Meisterschaften in Köln, 14-jährig.
Sechs Mal in Folge blieb sie Deutsche Meisterin – eine vorher und seither nicht mehr wiederholte Leistung.
Am 4. November 1927 folgte der erste Sieg beim Londoner „Hutton-Memorial-Cup“. Erstmals nach 9 Jahren wurde England geschlagen.
Noch im selben Jahr siegte sie beim großen internationalen Offenbacher Fechtturnier.
Helene Mayer war noch Schülerin an der Schillerschule in Offenbach, als sie mit ihrem weißen Stirnband und ihren hochgesteckte Zöpfen, der sogenannte Brezelfrisur, zur Ikone des deutschen Sports aufstieg.
1928, bei der 9. Olympiade der Neuzeit in Amsterdam gewann sie den ersten Platz. Als sie am 13. August heimkehrte, füllte eine Menschenmenge den Hauptbahnhof in Frankfurt. Gegen 20.30 Uhr empfing man sie auch im Hauptbahnhof Offenbach: Böllerschüsse, ein großer Fackelzug mit Zehntausenden Offenbachern, inklusive aller Sportvereine begleiteten die Olympiasiegerin durch die Stadt. Die Kapelle der 168er und der Sängerchor vom Turnvereins begleiteten die Ehrung musikalisch.
1928 kam es zu einem merkwürdigen Briefwechsel. Eine Schulleiterin aus Dresden wandte sich per Brief an Klaudius Bojunga, den Schuldirektor an der Schillerschule, und schrieb: „An unserer Schule wird lebhaft und dauernd die Behauptung erörtert, dass sie (gemeint ist Helene Mayer) nicht christlicher Religion sei.“ Die Antwortkarte möge Dr. Bojunga bitte zurücksenden.
Klaudius Bojunga antwortete, Helene Mayer gehöre zur israelitischen Gemeinde Offenbach. Für die Schule sei dies aber völlig belanglos. Helene Mayer sei ein bescheidenes, pflichttreues, unbefangenes Kind, das nur liebenswerte Züge aufweise. In Bezug auf die Familie sei ihm die Richtigkeit der Mendelschen Vererbungsgesetze deutlich geworden. Während der Bruder mehr „zur semitischen Seite mendele, neige Helene mehr zur „arischen“ Seite.
Im April 1929 gewann Helene Mayer die Europa-Meisterschaft in Neapel. Im November errang sie erneut den „Hutton-Pokal“ in London. Im Wintersemester 1930/31 studierte Helene Mayer an der Sorbonne in Paris. In der Nacht vom 27. auf den 28. April – kurz bevor sie nach Offenbach heimkehrt – starb ihr Vater völlig überraschend an einer Herzattacke.
In diesem Jahr, 1931, gewann Helene die Europa-Meisterschaften in Wien. Und das Internationale Olympische Komitee wählte Berlin als Austragungsort der Olympiade 1936.
1932, im Vorfeld der Olympischen Spiele in Los Angeles gewährte der Deutsche Akademische Auslandsdienst Helene ein zweijähriges Stipendium am bekannten „Scripps College“ in Claremont, 40 Meilen östlich von Los Angeles. Helene Mayer war in diesem Sommer auch für die Olympiade nominiert. Dort erreichte sie aber „nur“ den 5. Platz.
Helene Mayer blieb anschließend freiwillig in Amerika. Ende Januar 1933 die Nationalsozialisten ergriffen die Macht in Deutschland. Fast jährlich besuchte sie ihre Heimat bis zum Ausbruch des Krieges. Offenbar fürchtete sie keine politische Verfolgung in Deutschland.
Im Juni 1933 erfuhr Helene Mayer, dass ihr deutsches Stipendium aufgehoben wurde. Im „Scripps College“ konnte sie aber bleiben. Ob ihre Gebühren erlassen oder von anderer Seite bezahlt wurden, ist nicht mehr nachzuvollziehen.
Damals widerfuhr Juden überall in Deutschland, dass man sie aus Sportvereinen ausschloss. Über einen Ausschluss von Helene Mayer aus dem Offenbacher Fechtclub gibt es keinerlei Unterlagen. Ein früherer Vorstand des Fechtclubs, Willi Seelmann, erläuterte 1973, also viele Jahre später, wie es sich tatsächlich zugetragen hatte:
„Lange Zeit geschah zunächst nichts. Unser jüdischer Fechter Hans Halberstadt war weiterhin im Vorstand tätig. Später wurden die rein jüdischen Mitglieder gebeten, von sich aus zu kündigen. Die Familie Mayer betraf dies nicht. Erst unter großem weiteren Druck wurde auch bei Familie Mayer angefragt, ob sie den Club verlassen wollten, was Eugen Mayer (der Bruder von Helene) ablehnte. Danach erfolgte seitens des Fechtclubs keine Reaktion mehr. In Amerika wurde berichtet, dass Helene Mayer ausgeschlossen worden sei. Der Fechtclub Offenbach konnte und wollte dies nicht dementieren, um nicht – aus verständlichen Gründen – die Aufmerksamkeit auf dieses Thema zu lenken. Damit waren Spekulationen Tür und Tor geöffnet.“ Soweit Willi Seelmann.
Am 15. September 1935 erließen die Nationalsozialisten das Gesetz „zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“. Es verbot die Eheschließung sowie den außerehelichen Geschlechtsverkehr zwischen Juden und Nichtjuden.
Das Reichsbürgergesetz vom 14. November 1935 unterschied Reichsbürger, Staatsangehörige und Ausländer. Definiert wurde auch, wer als „jüdischer Mischling“ Reichsbürger bleiben könne und wer als „Jude“ davon ausgeschlossen sei.
In Amerika kamen Zweifel auf, ob man überhaupt noch an den Spielen in Berlin teilnehmen solle. Umfragen fanden in der Bevölkerung statt. Jüdische Kreise sprachen sich für eine Absage aus. Das Nationale Olympische Komitee der USA zögerte. Das Internationale Olympische Komitee entschied, die Idee einer Verlegung der Spiele nicht weiter zu verfolgen. Dazu sei es zu spät.
Für Helene Mayer stellten sich lauter Fragen: Sollte sie als deutsche Sportlerin teilnehmen, wenn sie eingeladen würde? Als Amerikanerin teilzunehmen, kam aufgrund der olympischen Bestimmungen nicht in Frage. Was, wenn sie eine Einladung ausschlüge – was würde mit ihrer Familie in Deutschland geschehen? Amerikanischen Medien verbreiteten divergierende Meinungen. Und als die Spiele näher rückten, berichteten sie über die jüdischen Teilnehmenden in Berlin.
„Eine internationale Protestbewegung hatte sich formiert“, schreibt die Süddeutsche Zeitung in einem Porträt der Jahrhundertsportlerin von 2020. Und weiter: „Sollte das Regime den jüdischen Sportlern aus Deutschland die Teilnahme verwehren, müsse die internationale Gemeinschaft die Spiele in Berlin boykottieren. Das wäre ein schwerer Schlag für die Pläne Hitlers gewesen, der Welt ein freundliches Gesicht Deutschlands zu präsentieren, während er den Vierjahresplan vorantrieb, der Deutschland auf den Vernichtungskrieg vorbereiten sollte.“
Helene Mayer selbst hat nicht viel über diese Zeit verlauten lassen. Ausschlaggebend war für sie aber damals, dass sie, die für Olympia Nominierte, als „Reichsbürgerin“ nach Deutschland kommen durfte. Das gibt sie in einem handschriftlichen Brief vom 10. Dezember 1935 an die Direktorin von „Mills College“ zu erkennen.
Helene Mayer schrieb: „Heute früh erhielt ich die Antwort des Reichssportführers. Mein Bruder und ich sind Reichsbürger und ich soll an den Olympischen Spielen teilnehmen.“ Anschließend beantragte Helene Mayer Urlaub ab Semester-Ende bis zum Herbst 1936.
Über die Wirkung der Nürnberger Gesetze resümiert das Onlinelexikon Wikipedia unter Verweis auf einen Artikel eines deutschen Sportwissenschaftlers von 1972:
„Vertreter der Wirtschaft im nationalsozialistischen Deutschland hatten Bedenken wegen möglicher Auswirkungen im Ausland. Die befürchteten Sanktionen waren jedoch kaum spürbar. Da nach den Gesetzen die ‚jüdischen Mischlinge‘ Rudi Ball (Eishockey) und Helene Mayer (Fechten) an den im Deutschen Reich ausgetragenen Olympischen Sommer- und Winterspielen 1936 teilnehmen durften und sie im Ausland auch als Juden wahrgenommen wurden, wurde geplanten Sanktionen im Zusammenhang mit den Olympischen Spielen (vor allem von Seiten der USA) der Boden entzogen.“
Am 13. Februar 1936 überquerte Helene Mayer mit der „Bremen“ den Atlantik. Sie war glücklich, ihre Familie zu Hause in Königstein zu sehen, Fahrrad zu fahren und ihr Lieblingsgericht „Linsensuppe“ zu essen. Sie besuchte den Offenbacher Fechtsaal, traf Freunde und trainierte in Frankfurt beim Fechtkollegen Erwin Casmir.
Bei den Olympischen Spiele in Berlin stand Helene Mayer wieder ganz vorn. Sie gewann die Silber-Medaille. Aufsehen erregte, dass sie auf dem Sieger-Podest den rechten Arm zum Hitler-Gruß ausstreckte. Später war zu lesen, sie habe sich als „Deutsche“ den „Gepflogenheiten“ ihres Heimatlandes angepasst. Das Foto ging um die Welt und spielte der nationalsozialistischen Propaganda in die Hände. Wer es zu sehen bekam, sollte denken: Seht mal, alles gar nicht so schlimm in Nazi-Deutschland.
Im September 1936 kehrte Helene Mayer ernüchtert nach Amerika zurück. Im November 1936 schrieb sie einen Brief an ihren Freunde in Deutschland: „Ich denke so oft an die Tage in Deutschland zurück. Ihr könnt Euch gar nicht vorstellen, wie stark die Erinnerung in mir weiterlebt. Jetzt bin ich gerade 3 Monate von zu Hause weg – zu Hause war Königstein im Taunus bei Mutter ...“
Und sie endet mit den Zeilen: „Ja, so vergeht die Zeit mit viel Arbeit und viel Heimweh. Manchmal schaue ich mir die Weltkarte an und sehe mit Schrecken, wie weit San Francisco wirklich von Deutschland entfernt ist. Guckt nur selber mal! Ob wir uns wohl in der Zukunft wiedersehen werden? Ich weiß nur, dass ich wieder nach Deutschland kommen möchte, aber dort ist sicher kein Platz für mich.... ich bin eben eins von den Menschenkindern, die von einem harten Schicksal betroffen wurden. Ich liebe Deutschland genauso sehr wie ihr und ich fühle und denke genauso deutsch wie Ihr!“
1937 reiste Helene Mayer zu den Fecht-Weltmeisterschaften nach Paris – und wurde Weltmeisterin. Danach besuchte sie Deutschland. Es heißt, sie habe nach ihrer Ankunft im Hauptbahnhof in Frankfurt am Main wartende Journalisten gefragt: „Was berichtet man über meinen Weltmeisterschafts-Titel?“ Die ernüchternde Antwort: „Nichts!“ Darauf entgegnet sie: „Dann muss ich doch in Amerika bleiben“. Die Offenbacher Zeitung widerspricht dieser Aussage – über WM-Titel sei doch berichtet worden.
Helene Mayer kehrte nach Amerika zurück. 1938 kam sie noch einmal zu Besuch in ihre Heimat. Achtmal wurde Helene Mayer zwischen 1939 und 1946 US-Fechtmeisterin. 1940 erhielt sie die amerikanische Staatsbürgerschaft.
Bei Olympia 1948 in London trat sie nicht mehr an. Erstmals nach 10 Jahren, kam sie ins kriegszerstörte Deutschland zurück. Später heiratete sie in München und zog mit ihrem Mann nach Stuttgart. Am 1953 erlag Helene Mayer, noch nicht ganz 43 Jahre alt, in Heidelberg einer tödlichen Erkrankung.
©Waldemar Krug, 2010
Musik
Theologische Reflexion
Pierre de Coubertin, Initiator der Olympischen Spiele der Neuzeit und Gründer des Internationalen Olympischen Komitees, sagte 1896:
„Sollte die Institution [Olympische Spiele] gedeihen [...], kann sie ein mächtiger, wenn auch indirekter Faktor zur Sicherung des Weltfriedens sein. [...] Wir werden keinen Frieden haben, solange die Vorurteile, die die verschiedenen Rassen trennen, nicht überwunden sind. Um dieses Ziel zu erreichen, gibt es kein besseres Mittel, als die Jugend aller Länder in regelmäßigen Abständen zu freundschaftlichen Wettkämpfen über Muskelkraft und Beweglichkeit zusammenzubringen.“
Manchmal scheint Coubertins Idee zu funktionieren. 2018 meldeten Nord- und Südkorea bei den Olympischen Spielen vereintes Team für den Eishockey-Wettbewerb der Frauen an. Die Spielerinnen aus Nord und Süd sprachen mit unterschiedlichem Dialekt, die Kommunikation war oft schwierig. Ein internationales Publikum feuerte das Team in den Stadien an und sang: "Wir sind eins". Die Koreanerinnen schieden in der Vorrunde aus. Aber sie weckten Hoffnung, dass Nord- und Südkorea eines Tages doch zusammenfinden könnten.
40 Jahre, nachdem Coubertin seine Idee von den sportlichen und friedlichen Wettkämpfen zwischen den Völkern formuliert hatte, also 1936, sollte Deutschland die Olympischen Spiele in Berlin ausrichten. In Deutschland herrschten die Nationalsozialisten bereits im dritten Jahr.
Von Anfang an hatten die Nazis Juden verfolgt, zunächst mit gezieltem Straßenterror. Im zweiten Monat nach der Machtergreifung erteilten sie jüdischen Ärzten, Apothekern, Rechtsanwälten und Bademeistern Berufsverbote. Am 1. April 1933 organisierten sie den ersten Boykott jüdischer Geschäfte. Ab dem 7. April 1933 wurden jüdische Beamte aus dem Staatsdienst ausgeschlossen, dann auch aus Vereinen, Berufsverbänden und evangelischen Landeskirchen, aus allgemeinen Schulen und zunehmend aus dem öffentlichen Leben. Das Regime ließ Konzentrationslager einrichten, wo auch Juden mit fadenscheinigen Anklagen inhaftiert und gequält wurden. Im September 1935 wurde Ausgrenzung und Isolierung der deutschen Juden mit den Nürnberger Gesetzen Staatsgesetz. Juden verloren einen Großteil ihrer staatsbürgerlichen Rechte.
Insbesondere in den USA rief die systematische Diskriminierung und Entrechtung der deutschen Juden eine Welle der Empörung hervor. Stimmen wurden laut, man solle die Olympischen Spiele in Deutschland boykottieren. Denn allen war klar: Hitler wollte die olympischen Spiele für Propaganda missbrauchen.
Tatsächlich wollte Hitler beschwichtigen und von allem, was Deutschland im Ausland Negativschlagzeilen einbrachte, ablenken. Die Welt sollte über sportliche Erfolge reden, nicht darüber, dass er sich gleichzeitig auf einen neuen Weltkrieg vorbereitete – und auf die vollständige Auslöschung des deutschen Judentums.
Hätte man auf die Unheilspropheten hören sollen? Es wäre eine gute biblische Tradition, die Beschwichtigungen beiseitezuschieben und den Unheilspropheten das Feld zu überlassen. In der biblischen Sammlung von 16 Prophetenbüchern kommen ausschließlich Unheilspropheten zu Wort. All die vielen Glückspropheten, die auch in Israel auftraten, sind vergessen. Die wenigen Unheilspropheten behielten Recht. Ihre Worte wurden aufbewahrt. Hätte man doch nur auf sie gehört!
Die verpasste Gelegenheit eines kollektiven Boykotts der Olympiade 1936 in Berlin hatte eine Nachgeschichte. 20 Jahre später bei der Olympiade in Melbourne, Australien, weigerten sich Spanien, die Niederlande und die Schweiz, zusammen mit Sportlern aus der Sowjetunion aufzutreten. Die Staaten des Warschauer Pakts waren nur wenige Wochen vor den Spielen in Ungarn einmarschiert.
1980 verweigerte die Bundesrepublik Deutschland zusammen mit den USA eine Teilnahme an der Sommer-Olympiade in Moskau, nachdem die Sowjetunion in Afghanistan einmarschiert war.
2008 warnte der damalige Vorsitzende der China-Delegation im EU-Parlament, Reinhard Bütikhofer, vor einer Teilnahme an der Sommerolympiade in China. Bütikhofer sagte damals: Das, was Peking da inszeniert, wird eine Propagan- daschau werden für ein autoritäres System, das sich immer mehr in Richtung Totalitarismus zurückentwickelt. Die Augen davor zu verschließen und so zu tun, als wäre das nicht politisch, das ist unrealistisch, unredlich und unehrenhaft [...].
Doch je häufiger solche Boykottaufrufe laut werden, desto weniger wirken sie. Je weniger die große Politik imstande ist, für einen wirklich friedlichen Rahmen der olympischen Idee zu sorgen, für einen Rahmen, in dem Völkerverständigung im Vordergrund steht, ohne den schalen Beigeschmack, dass zugleich Negativschlagzeilen unter den Teppich gekehrt werden – je weniger die große Politik dazu imstande ist, desto größer lastet der Druck auf den einzelnen Athletinnen und Athleten.
Wie verhält man sich in einer solchen Situation? Der Apostel Paulus vergleicht seine selbstlose Mission, das Christentum zu verbreiten, mit einem sportlichen Wettkampf. Wie die Athleten bei der Vorbereitung auf den sportlichen Wettkampf, müsse auch er selbstlos auf vieles verzichten. Eines aber unterscheide ihn von den Athleten: Sie kämpften für ihr eigenes Ansehen und damit um einen vergänglichen Kranz. Er aber, Paulus, kämpfe für etwas Höheres. Er kämpfe um einen unvergänglichen Preis.
Müssen auch die sportlichen Athleten für etwas Höheres kämpfen? Die Schwarzen 200-Meter-Läufer Tommie Smith und John Carlos demonstrierten bei der Siegerehrung der Olympischen Spiele in Mexiko-Stadt 1968 mit gereckter Faust gegen rassistische Diskriminierung in den USA. Sie wurden daraufhin aus dem olympischen Dorf verbannt. Später mussten sie auch das US-Olympiateam verlassen und erhielten kein Fördergeld mehr.
Zwei Mitglieder des deutschen Olympiateams galten nach den Nürnberger Gesetzen als sogenannte „Halbjuden“, weil ein Elternteil jüdischen Glaubens war: Rudi Ball und Helene Mayer. Rudi Ball spielte bei den olympischen Winterspielen 1936 in Garmisch-Partenkirchen für die deutsche Eishockey-Nationalmannschaft. Der Torjäger galt als der beste europäische Eishockey-Spieler. Er blieb auch während des Holocausts Spieler des Berliner SC – bis 1944. Er genoss ein Privileg, das Hunderttausenden Anderen verwehrt blieb.
Auch Helene Mayer bekam als Ausnahmeathletin den Status „deutsche Reichsbürgerin“ zuerkannt. Sie hatte ihre Ausgrenzung in Deutschland nicht akzeptieren wollen. Für sie war der Ausnahmestatus eine Art Bestätigung. Sie zeigte bei der Olympiade 1936 den Hitlergruß und verstörte damit viele Menschen jüdischen Glaubens in den USA. Vermutlich war für sie der Hitlergruß auch ein Zeichen dafür, dass sie sich nicht ausgrenzen ließ, sondern trotz allem weiter dazugehörte. – Außenstehende konnten dieses Zeichen nur anders verstehen: als verquere Unterstützung eines gewalttätigen Antisemiten.
Sport und Politik lassen sich nicht trennen. Sie zu trennen, widerspricht auch Coubertins Grundidee vom völkerverbindenden Charakter der Olympiade. Es widerspräche Coubertins Vision, dass die Olympischen Spiele ein mächtiger Faktor zur Sicherung des Weltfriedens sein könnten. Doch Athleten mit der politischen Seite des Sports allein zu lassen, überfordert sie.
Ja, Helene Mayer hatte die Wahl. Sie hätte auch der deutschen Olympiateam fernbleiben können. Und ja, sie hat mit ihrem Auftritt wohl die falsche Wahl getroffen.
Und nein: Helene Mayer einen Vorwurf zu machen, wäre wohl selbstgerecht. Sie war in einer Situation, die es so vorher bei olympischen Spielen nicht gegeben hatte. Sie konnte die Konsequenzen ihres Tuns für sich und ihre in Deutschland verbliebene Familie nicht abschätzen.
Helene Mayer war keine moralische Heldin, so wenig wie wir moralische Helden sind. Sie wollte auch gar nicht um einen unvergänglichen Siegerkranz kämpfen. Helene Mayer war wohl ein Mensch wie wir, zwar eine Ausnahmesportlerin, aber eine normale junge Frau, missbraucht von der großen Politik, alleingelassen.
Urteilt nicht, mahnt Jesus, damit Gott euch nicht verurteilt. Denn so wie ihr jetzt andere richtet, werdet auch ihr gerichtet werden.
Unter dem Segen Gottes wollen wir heimgehen. Und in der Gewissheit, dass Gott unser Denken und Tun gnädig ansehen wird; dass Gott uns trotz allem segnen und behüten möge, dass er sein Angesicht über uns leuchten lasse und uns gnädig sei, dass er sein Angesicht auf uns erhebe und uns seinen Frieden geben möge. Amen.
Wir hören zum Abschluss die Klezmerband Naschuwah.
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