Passionspunkt I: Über Schuld und allzu schnelle Vergebung

Passionspunkt I: Über Schuld und allzu schnelle Vergebung

Passionspunkt I: Über Schuld und allzu schnelle Vergebung

# Neuigkeiten

Passionspunkt I: Über Schuld und allzu schnelle Vergebung

Anmoderation: 

Herzlich Willkommen zum ersten Passionspunkt in diesem Jahr in Offenbach. Herzlich Willkommen vor dem Gebäude der Industrie und Handelskammer, an einem Ort, der heute ein friedlicher und guter Ort ist, während der Nazizeit aber als Ort des Schreckens galt. Hier stand einst das Gestapo-Gefängnis von Offenbach. 

An drei Tagen der Karwoche, heute, morgen und übermorgen, werden wir an unterschiedlichen Orten Offenbacher Leidensgeschichten erzählen. Wir, das sind die Friedenskirche Offenbach in Zusammenarbeit mit der Stadtkirchenarbeit unter der Leitung von Dr. Manuela Baumgart und in Zusammenarbeit mit der Geschichtswerkstatt Offenbach. Mein Name ist Burkhard Weitz, ich bin Pfarrer an der Friedenskirche. 

Heute gibt uns Gabriele Hauschke-Wicklaus von der Geschichtswerkstatt Offenbach einen Einblick in ihre aktuelle Forschung. Frau Hauschke-Wicklaus forscht zu den Spruchkammerverfahren nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Wir kennen die gerichtliche Aufarbeitung des Nazi-Unrechts gegen Ende der 1940er und Anfang der 1950er Jahre unter dem Stichwort Entnazifizierung. 

Heute geht es also um eine Leidensgeschichte, die ihren Anfang unter der Schreckensherrschaft der Nazis ihren Anfang nahm, die aber auch nach Kriegsende nicht aufhörte. Es geht um die Suche nach Gerechtigkeit. Gabriele Hauschke-Wicklaus wird uns an einem Einzelfall Einblick in die Schwierigkeiten dieser Suche nach Gerechtigkeit einführen. 

Mein Dank gilt dem Ordnungsamt der Stadt Offenbach, das unsere drei Veranstaltungen im öffentlichen Raum heute, morgen und übermorgen genehmigt hat. 

Dank an die Klezmerband Naschuwa. Klezmer ist die Musik der osteuropäischen Juden und gar nicht die Musik der Deutschen jüdischen und anderen Glaubens, die damals ins Visier der Nazis und ihrer perversen Gesetzgebung gerieten. Aber das Elend der Millionen osteuropäischer Juden steht heute beispielhaft für das Elend jener Juden und Roma, jener politisch Oppositionellen und Freidenker, jener Individualisten und Andersgestrickten, die hier in Offenbach festgenommen und an diesem Ort erniedrigt, gequält und entmenschlicht wurden. Daran erinnert die Klezmerband Naschuwa mit ihrer Musik. Danke, dass ihr da seid, danke für eure Musik.

Dank an Gabriele Hauschke-Wicklaus für Ihre Expertise. Danke, dass Sie uns Einblick geben in Ihre Forschung.  Dank an alle, die diesen und die anderen Passionspunkte mit vorbereitet haben. An die Jugendlichen der Friedenskirche, an Daniel July und Henri Lias Laps, die heute Passagen aus dem Text von Frau Hauschke-Wicklaus vortragen werden. 

Dank auch an die Geschichtswerkstatt Offenbach mit Barbara Leissing und an die offene Stadtkirchenarbeit unter Leitung von Dr. Manuela Baumgart. Frau Hauschke-Wicklaus, Sie haben das Wort.


Gabriele Hauschke-Wicklaus

Sehr geehrte Damen und Herren,

wie wurde nach Ende der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft über Täter und Mitläufer geurteilt? Dieser Frage möchte ich heute mit Ihnen anhand eines Beispielfalles nachgehen.

Als Erinnerungsort habe ich diesen Ort an der IHK ausgewählt, wo sich in der NS-Zeit das Gestapo-Gefängnis befand. Hier geschahen Verbrechen, über die nach dem Krieg geurteilt wurde. Ab Anfang März 1943 mussten sich hier nach Vorladung der Gestapo die jüdischen Ehepartner bzw. Ehepartnerinnen aus sog. Mischehen einfinden. Sie wurden verhört und nach kurzer Inhaftierung im Gestapogefängnis zur Staatspolizeistelle in Darmstadt überführt, von wo die meisten bald darauf nach Auschwitz oder in Arbeitslager deportiert wurden.

Bereits im September 1942 waren 354 Juden und Jüdinnen aus Offenbach deportiert worden: die Gebrechlichen, die über 65-Jährigen oder die im Ersten Weltkriegs Ausgezeichneten nach Theresienstadt, alle anderen in das Vernichtungslager Treblinka. 

Jüdinnen und Juden, die mit einem sog. „Arier“ verheiratet waren, waren durch Erlasse der Reichsregierung noch im September 1942 in Offenbach von den Massendeportationen ausgenommen. 

Ab März 1943 wurden die Parteidienststellen in Offenbach über die Gauleitung angewiesen, Verstöße der verbliebenen Juden gegen Anordnungen der NS-Regierung bei der Staatspolizeistelle in Darmstadt oder der Gestapo - Außenstelle in Offenbach anzuzeigen. 

1943 gehörte Joseph Hedderich zu den zuständigen Beamten der Geheimen Staatspolizei in Offenbach. Hedderich war seit 1920 zunächst als normaler Polizeibeamter und ab 1928 als Kriminalassistent in Neu-Isenburg tätig.1936 wurde er gegen seinen Willen nach Offenbach versetzt und war dort mit Unterbrechungen bei der Gestapo eingesetzt. 1939 wurde er zum Beitritt in die NSDAP aufgefordert, aber erst 1941 in die Partei aufgenommen und 1943 zum Kriminalsekretär befördert. In dieser Funktion hatte er als Sachbearbeiter für Juden- und Kirchenangelegenheiten die Fälle zu bearbeiten, die ihm die Dienstelle in Darmstadt und sein Vorgesetzter Schmitz in Offenbach vorlegte, um Juden in sog. Mischehen zu verfolgen. 

Hedderich hatte sie in das Gebäude der Gestapo hier in der Ludwigstraße vorzuladen. Die meisten Anzeigen waren konstruiert und beinhalteten Vorwürfe wie „Beschimpfung der Regierung“ oder der „HJ und des BDM“ oder „Missachtung der Auflagen für Juden“ wie das Nichttragen des Judensterns oder Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln.

Hedderich hatte von Anfang März bis Anfang April 1943 19 jüdische Partner aus Mischehen zu befragen und festzunehmen. Unter ihnen war auch Theodor Haas, dessen Schicksal ich näher darstellen möchte.

Theodor Haas – 1883 in Bürgel geboren – lebte nach seiner Heirat im Jahr 1934 mit seiner Ehefrau Maria Elisabeth im Dreieichring 16. Die amtliche Meldekarte von 1938 registriert, dass die Ehefrau „arischer Herkunft“ sei und der jüdischen Gemeinschaft nie angehört habe. 1937 gründete Theodor Haas eine Handelsgesellschaft für Lederwaren und Reiseartikel. Gemäß der „Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben von November 1938“ musste er das Unternehmen zwangsweise schließen und zum Lebensunterhalt in einer anderen Lederwarenfabrik arbeiten. Im Mai 1941 musste das Ehepaar die Wohnung im Dreieichring räumen und ein sog. Judenhaus in der Ludwigstraße 28 umziehen. Darüberhinaus wurde ihm das noch vorhandene Sparvermögen entzogen. Nach Aussagen von Elisabeth Haas wurde ihr Ehemann am 16.3.1943 zur Vernehmung bei der Gestapo einbestellt, von wo er nicht mehr heimkehrte.

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Wie wurde Josef Hedderichs Tätigkeit als Gestapobeamter in der Nachkriegszeit im Rahmen der Entnazifizierung eingeschätzt?

 Ab Juli 1945 verhaftete die amerikanische Militärbehörde in Offenbach zahlreiche NSDAP-Mitglieder, SA, SS und Gestapo-Angehörige. Josef Hedderich wurde in Neu-Isenburg  nach Befragung durch die US-Spionageabwehr („Counter Intelligence Corps“) CIC zunächst freigelassen , aber im März 1946  festgenommen und in das Internierungslager in Darmstadt eingeliefert. 

In seinem Meldebogen schrieb Hedderich:

 „Rassisch-politisch und religiös verfolgten Menschen habe ich in großer Zahl geholfen und sie vor dem Gefängnis u dem KZ bewahrt. Hierüber kann ich den Beweis erbringen. Unterlagen sind vorhanden.“

Nach dem Gesetz zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus vom 5. März 1946 hatten sog. deutsche Spruchkammern darüber zu entscheiden, wie die Verantwortlichkeit des Einzelnen im NS-System einzuschätzen ist und wie das Maß der Sühneleistung für das weitere Leben ausfallen sollte. Für jede Spruchkammer wurde ein öffentlicher Kläger bestellt, der nach Prüfung der Meldebogen die Ermittlungen leitete und dann Klage erhob. Die Spruchkammer, die aus einem Vorsitzenden und zwei  Beisitzern bestand, „hatte von Amts wegen alles zu tun, was zur Erforschung der Wahrheit notwendig war.“ 

Zu fragen war: Ist der Betroffene ein Hauptschuldiger, der in der Gestapo Verbrechen gegen Opfer oder Gegner des Nationalsozialismus begangen hat? Oder ist er ein belasteter Aktivist, der durch seine Tätigkeit die Gewaltherrschaft der NSDAP wesentlich gefördert und seine Stellung zu inhumanen Maßnahmen ausgenutzt hat? 

Im Laufe des Jahres 1946 hörte der Kläger 7 Ehepartner-Partnerinnen aus Mischehen als Belastungszeugen und 17 Entlastungszeugen an. Ich habe 2 Aussagen ausgewählt.

Zunächst die Aussage von Elisabeth Haas: „Ich war seit 30. Januar 1934 mit Theodor Haas (Jude) verheiratet. Am 13.März 1943 bekam mein Mann eine Ladung, wo er sich am 16. März 1943 auf der Gestapo-Dienststelle Offenbach a. M.  melden musste. Da die Ladung auf 8 Uhr vormittags lautete und er bis 11 Uhr noch nicht zurückgekehrt war, begab ich mich zu der genannten Dienststelle. Hierbei meldete ich mich bei einer Dame, wobei mich ein gewisser Hedderich, der gerade zwischen Tür und Angel stand, im barschen Ton anfiel, was ich wolle. Nachdem ich ihm erklärte, dass mein Mann schon seit 8 Uhr auf der genannten Dienststelle sei und ich wissen wollte, was mit ihm geschehen wäre, erklärte derselbe mir, ich sollte am Nachmittag noch einmal vorsprechen. Gegen 3 Uhr am Nachmittag begab ich mich wieder zur Gestapo, frug dortselbst Herrn Hedderich, worauf derselbe mir erklärte, er könne mir dies nicht sagen, da ich als Arierin auf freiem Fuße wäre. Nach ungefähr 2-tägiger Haft im Polizeigefängnis Offenbach a.M. wurde mein Mann mit noch 10 Nichtariern nach Darmstadt in das Gestapo-Gefängnis verbracht. Dortselbst war er ungefähr 50 Tage, von wo man ihn in ein KZ verfrachtete. In diesen 50 Tagen in Darmstadt bekam ich einmal 10 Minuten Sprecherlaubnis, und zwar zwecks Regelung von Steuerangelegenheiten. Post erhielt ich von diesem Zeitpunkt ab einmal eine Karte, und zwar von fremder Hand geschrieben, von einem Ort bei Auschwitz… Im September 1943 fand ich in meinem Briefkasten die Todesnachricht meines Mannes aus Auschwitz.“

Andere Belastungszeugen beschuldigten Hedderich, ihre Ehepartner geprügelt und beschimpft zu haben.

Als Entlastungszeuge sagte Pfarrer Griesheimer aus:                                                                       

Ich bin katholischer Pfarrer. Ich habe den Betroffenen 1938 bei der Verhaftung verschiedener Kapläne kennengelernt und hatte den Eindruck, dass Hedderich nicht solch ein Mensch ist wie die anderen Gestapobeamten. Im Mai 1938 wurde ich verhaftet und saß 8 ½ Wochen im Gefängnis in Darmstadt. Wenn irgendeine Anzeige gegen einen Geistlichen vorlag, dass Predigten und Post überwacht werden sollte, kam Hedderich stets frühzeitig zu mir, um die Betreffenden noch zu warnen. (…) Bei der Vernehmung des Kaplan Münch hat er sich sehr gut verhalten und erlaubte mir, noch mich von demselben zu verabschieden. Anschließend saß Münch 20 Wochen wegen Vergehen gegen das Heimtückegesetz und  Verbreitung von staatsfeindlichen Schriften.(..) Dass Hedderich Katholik war, wusste ich nicht und ich frug auch nicht danach; ich bemerkte nur, dass er es mit mir und den anderen Geistlichen gut meinte. Ich frug ihn, ob er nicht aus der Gestapo austreten könne, worauf er mir sagte, dass ihn dann nur das KZ oder Schlimmeres erwarten würde.“

In der Klageschrift vom 17. Dezember 1946 wurde Josef Hedderich in die Gruppe I als Hauptschuldiger eingereiht mit der Begründung: 

„Neben der formalen Belastung – als Angehöriger der Gestapo im Rang eines Kriminalsekretärs und der Mitgliedschaft der NSDAP - wird der Betroffene beschuldigt, sich in seiner Eigenschaft als Gestapo-Angehöriger an Vergehen gegenüber den Gesetzen der Menschlichkeit vergangen zu haben.“

In der Spruchkammer-Verhandlung am 20.1.1947 in Darmstadt erklärte Josef Hedderich zu dieser Klageschrift folgendes: 

Vorausschicken möchte ich, dass ich mich in keiner Weise schuldig fühle. (...) 1936 wurde ich gegen meinen Willen nach Offenbach versetzt. (...) Meine Unlust zur Gestapoarbeit stieg immer mehr und ich beantragte meine Entlassung. Trotz Krankheit wurde ich zum Kriminal-Sekretär befördert (...) Bei mir ist immer korrekt gearbeitet worden. Die Vernehmungen habe ich immer höflich und human durchgeführt. (...) Dass ich Fremdarbeiter oder Fremdarbeiterinnen geschlagen haben soll, ist aus der Luft gegriffen. Als man mir diese Motive bei der CIC vorwarf, bat ich um Gegenüberstellung derjenigen, die dies behaupteten. Diesem Wunsch kam man mir auch nach, doch die geladene Frau ist nicht erschienen. (...) Wenn man mir vorwirft, dass ich schuldig oder mitschuldig an Todesurteilen sei, so stehen diese nicht auf meinem Konto.

Die Spruchkammer kam in ihrem Urteil zu folgendem Spruch: Einreihung in die Gruppe I der Hauptschuldigen mit 10 Jahren Arbeitslager und Einzug des gesamten Vermögens.

In ihrer Begründung argumentierte sie so: 

„(...) Die Beweisaufnahme ergab, dass der Betroffene sich als Gestapo-Angehöriger an Vergehen gegenüber der Menschlichkeit vergangen hat.(…) Die Kammer steht u.a. auf dem Standpunkt, dass Hedderich kurz vor dem Zusammenbruch die Verhaftung eines Jungen  hätte verhindern  können, zumal, wie nach Aussagen der geladenen Entlastungszeugen, verschiedene in den Jahren 1940/41 durch den Betroffenen gedeckt bzw. Akten vernichtet wurden. Sein Verhalten der Kammer gegenüber ist typisch für einen Gestapobeamten, denn alle belastenden Aussagen wurden als unglaubwürdig und unwahr hingestellt…“

Josef Hedderich legte umgehend Berufung gegen das Urteil ein. 

Sein Anwalt, Dr. Kanka, führte in der Berufung 1947 aus: 

Hedderich war ein Mann, der seine Stellung in einer für ihn geradezu lebensgefährlichen Weise dazu ausgenutzt hat, um, wo und soweit es ihm möglich war, den in die Fänge der Gestapo Geratenen zu helfen. (...) Wäre Hedderich nicht bei der Gestapo gewesen, dann hätte er nicht im Entferntesten so viel Gutes wirken können. Allerdings muss beachtet werden, dass Hedderich nicht allmächtig war. (…) So konnte Hedderich zwar in einzelnen Fällen Aktenstücke unterdrücken, Berichte günstig färben, Bedrohte warnen und dergleichen mehr. Er konnte aber unmöglich allgemeine Polizeiaktionen abstoppen oder, wenn er den Auftrag hatte, den oder jenen zu vernehmen oder festzunehmen, sich solchen Aufträgen entziehen. (….) Was soll denn mit einem Gestapo-Beamten gemacht werden, der sich nachweisbar schwere Misshandlungen erlaubt und nicht die Dinge gemacht hat, auf die Hedderich sich zu seiner Entlastung berufen kann?“

Das Berufungsgericht Darmstadt stützte seine Argumentation im Urteil vom 16.  April 1948 in vielen Punkten auf die Darstellung des Rechtsanwalts.

Das erste Urteil wurde aufgehoben und der Betroffene in die Gruppe 4 der Mitläufer eingestuft, die laut Gesetz „nur nominell am Nationalsozialismus teilgenommen und ihn nur unwesentlich unterstützt haben.“

Zudem wurde auf Sühnemaßnahmen verzichtet und die Haftentlassung angeordnet.  Nur ein Bruchteil aus der Argumentation sei hier zitiert:

(…) Von Anfang an stand der Betroffene im Gegensatz zu dem System; durch Jahre hindurch nutzte er seine Stellung aus, um seinem Dienst als Gestapo-Beamter entgegenzuarbeiten. Mehr als einmal hat er Kopf und Kragen riskiert. Die Folgen liegen klar zutage. Heute stehen die Vertreter der beiden Konfessionen, Angehörige aller politischen Parteien, Mitglieder aller Bevölkerungsschichten einmütig zusammen, um einem Mann zu helfen, der der gefürchteten Naziorganisation angehört hatte (...)

Der Betroffene ist nicht für den Tod der von ihm vernommenen verantwortlich zu machen. Er hat diese Unmenschlichkeit nicht zu vertreten. Diese Verantwortung tragen höhere Stellen. (...) Nicht leugnen lässt sich jedoch, dass der Betroffene durch seine Tätigkeit in der Gestapo die Gewaltherrschaft des Nationalsozialismus gefördert hat. Er hat einen Teil der ihm übertragenen Aufgaben ausgeführt, wenn auch wider Willen. Der Betroffenen ist daher als Aktivist anzusehen. (...) Das vorgebrachte Material genügt aber auf alle Fälle, den Betroffenen in die Gruppe der Minderbelasteten (Gruppe 3) einzustufen.

Auf Grund des Urteils erster Instanz hat der Betroffene bereits längere Zeit im Arbeitslager verbracht. Vorher war er ab 1.3.46 interniert. (...)

Es ist deshalb nur angemessen auf weitere Sühnemaßnahmen zu verzichten und den Betroffenen in die Gruppe 4 einzustufen.“

Diese Einordnung von Hedderich in die Gruppe der Mitläufer hatte keinen Bestand.

Das Befreiungsministerium hat sie am 5. November 1948 aufgehoben mit der Begründung, dass die „Einstufung Hedderichs in Gruppe 4 in Anbetracht der von ihm in einigen Fällen bezeigten Brutalität nicht gerechtfertigt ist.“

Ein neues Verfahren wurde zugelassen mit dem Hinweis des Klägers vom 16.8.1949, dass dann die Aussagen der Entlastungszeugen genauer auf ihren Wahrheitsgehalt geprüft werden müssten.

Dazu kam es nicht mehr, da die Zentralberufungskammer Hessen Süd aufgrund neuer Regelungen für Minderbelastete und Mitläufer am 10. Februar 1950 das Verfahren einstellte.

Und nun frage ich Sie, liebe Anwesende:  In welche Gruppe hätten Sie als Mitglieder der Spruchkammer 1947 den Gestapo-Beamten Hedderich eingestuft? 

© G. Hauschke-Wicklaus

 

Pfr. Burkhard Weitz: Theologische Reflexion

„Ich glaube an die Vergebung der Sünden.“ Wir Christinnen und Christen bekennen Sonntag für Sonntag im Gottesdienst diesen Satz aus dem Glaubensbekenntnis. Die Sätze unseres Glaubensbekenntnisses haben großes Gewicht. Sie begründen nicht nur die Einheit der christlichen Kirche. Sie nehmen uns auch in die Pflicht. 

Vergebung ist ein Gegenbegriff zur Schuld. Wir modernen Menschen halten Schuld und Vergebung für etwas Subjektives, weil darüber hinaus für uns nichts weiter greifbar ist. Für uns moderne Menschen heißt Vergebung, dass wir negative Gefühle und Einstellungen gegenüber einer Person, von der wir verletzt wurden, überwinden. Aber sind Schuld und Vergebung wirklich nur subjektive Empfindungen? 

Für die Bibel sind sie objektive Realitäten. Schuld gilt als objektive Störung der Rechtssphäre. Sie schafft eine schiefe Ebene, auf der sich nicht leben lässt. Schuld ist nach biblischer Vorstellung ein Gift, das die Menschen krank und ein gutes Miteinander unmöglich macht. Vergebung ist das Heilmittel. Nur, wer kann die Krankheit der Schuld heilen – und wie? Und wie groß muss die Schuld sein, wenn nur noch Gott sie heilen kann?

Die Bibel erzählt vom ersten Mord als von einem Brudermord. Abels Opfer ist gesegnet, Kains Opfer nicht.

Kain ist neidisch. Er senkt seinen Blick. Gott sagt zu Kain: „Warum senkt sich dein Blick? Ist es nicht so: Wenn du gut handelst, darfst du aufblicken; wenn du nicht gut handelst, lauert die Sünde an der Tür.“ Kain hört die Warnung nicht. Er ermordet seinen Bruder. Sein Blick bleibt gesenkt. 

Da sprach der HERR zu Kain: «Wo ist Abel, dein Bruder?» Kain entgegnete: «Ich weiß es nicht. Bin ich der Hüter meines Bruders?» Der HERR sprach: «Was hast du getan? Das Blut deines Bruders erhebt seine Stimme und schreit zu mir vom Erdboden. So bist du jetzt verflucht, verbannt vom Erdboden, der seinen Mund aufgesperrt hat, um aus deiner Hand das Blut deines Bruders aufzunehmen.»

Kain, der Mörder, leugnet. Er glaubt vor und nach der Tat, wenn er wegschaut, ist das Böse nicht mehr da. Er glaubt, niemand sähe seine böse Absicht. Und als die böse Tat im Raum steht, schaut er noch immer weg. Aber böse Absicht und böse Tat sind objektiv präsent. Sie vergiften das Miteinander. Sie stören das Gefüge in der Gesellschaft. Abels Blut schreit hinauf zum Himmel. Und der Erdboden sperrt sein Maul auf. Die Rechtssphäre ist gestört. Ein gutes Miteinander ist nicht mehr möglich.  

Einem Schuldiggewordenen vergeben zu können, setzt dessen Reue voraus. Reue hat aber nur, wer sich einsichtig zeigt, dass er schuldig geworden ist. Schon das Schuldeingeständnis fällt vielen Menschen schwer. Und je größer die Schuld, desto schwerer das Geständnis. 

Wenige Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges da forderten die ersten Deutschen, einen Schlussstrich unter die Vergangenheit zu ziehen. „Schluss mit Entnazifizierung, Entrechtung, Entmündigung“ forderte die FDP auf einem Wahlplakat bereits zur Bundestagswahl im August 1949. – „Kain, warum senkt sich dein Blick?“

Der Holocaustforscher Götz Aly hat einmal gesagt: Wenn man in den 1950er Jahren nach den Kriterien geurteilt hätte, nach denen man heute 96-jährige ehemalige Wachleute und Schreibstubengehilfen verklagt, dann hätte man in den 1950er Jahren mehr als 300.000 deutsche Männer und 20.000 deutsche Frauen anklagen und lebenslänglich wegsperren müssen. Das hätten Millionen deutsche Familienmitglieder und wohl die große Mehrheit der Gesellschaft nicht ertragen.

Damals lebten sie eng auf eng in den verbliebenen, nur halb-zerstörten Häusern. Sie kämpften damit, über die kalten Winter zu kommen und die psychischen und physischen Verletzungen des Krieges in den engen Behausungen zu ertragen. Familienstreit über moralische Fragen war unerwünscht. 

Der ersten Nürnberger Prozess vom November 1945 bis Oktober 1946, der Prozess gegen Nazigrößen wie Hermann Göring, Rudolf Heß, Joachim von Ribbentrop, Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel, Admiral Karl Dönitz und andere Nazis, weckte das Interesse der Deutschen.

Doch schon Prozesse wie der gegen den Kommandanten des KZ Stutthoff, Paul-Werner Hoppe, fanden nur auf den hinteren Seiten der deutschen Zeitungen Erwähnung, in den Klatschspalten für „Vermischtes“. 

Dabei hatte Hoppe tausende Juden nach Auschwitz in den Tod geschickt. Er hatte selbst Menschen selektieren und durch Giftspritzen und Genickschüsse ermorden lassen.  Im Herbst 1944 hatte er einen Eisenbahnwaggon zur Gaskammer umrüsten und zur Tötung benutzen lassen. – „Kain, warum senkt sich dein Blick?“ 

Nur die Verfahren weckten Interesse, die einen selbst betrafen. Aufsehen erregte der Prozess gegen Feldmarschall Ferdinand Schörner. Schörner hatte gegen Kriegsende deutscher Soldaten und Zivilisten erschießen und erhängen lassen, die nicht mehr kämpfen wollten. Viele Familien hatten sinnlose Opfer aus den letzten Kriegstagen zu beklagen. Die Deutschen waren bereit, Schörner mit seiner Schuld zu konfrontieren. Schuld ist eben doch eine Störung der Rechtssphäre. Kain muss den Blick heben. Seine Schuld muss getilgt werden. 

Denn die Schuld der Vielen, die damals noch lebten, vergiftete das Miteinander. Mit zunehmender zeitlicher Distanz wurde das immer deutlicher. 18 Jahre nach Ende des herrschenden Naziterrors begann der erste Auschwitz-Prozess. Die ersten Nachgeborenen waren erwachsen. Und sie, die Generation der Nachkriegskinder, die Studenten der 1960er Jahre, empörten sich gegen ihre Eltern, gegen deren Blindheit, deren Nichtwissenwollen, deren Verdrängung. 

Im Januar 1979 strahlte das deutsche Fernsehen die US-Serie Holocaust aus. Der deutschen Öffentlichkeit dämmerte, zu welchen Bestialitäten der eigene Vater, der eigene Onkel, die eigene Tante, die Großeltern oder vielleicht andere aus der Familie einmal in der Lage gewesen sein mögen. Kann man mit Mördern unter einem Dach leben? Kann man mit ihnen friedlich an einem Tisch sitzen? Wer kann ihnen vergeben? Wessen Vergebung kann das Gift der Schuld aus der Gesellschaft herauslösen? 

Dass im Spruchkammerverfahren gegen Joseph Hedderich ein Zeuge wie der katholische Pfarrer Griesheimer als Entlastungszeuge auftrat, einer, den Hedderich vor Razzien gewarnt hatte, mutet sonderbar an. Welche Aussagekraft hat diese Aussage in einem Verfahren, in dem es gleichzeitig auch um die Verhaftung und Auslieferung von Juden wie dem Ehemann von Elisabeth Haas ging? Ein Entlastungszeuge konnte Griesheimer sein, weil man von Hedderich nicht Rechenschaft für jedes einzelne Verbrechen einforderte – wie in einem Rechtsstaat üblich, sondern nur Rechenschaft für seine generelle Gesinnung. 

„Ich glaube an die Vergebung der Sünden“ ist ein gewaltiger Satz. Er darf nicht dazu dienen, dass wir – wie Kain – den Blick senken, das Blut von der Erde schreien lassen und den aufgesperrten Rachen des Erdbodens ignorieren. „Ich glaube an die Vergebung der Sünden“, heißt: Gott vergibt, deshalb sollen wir vergeben. Wir sollen daran festhalten, dass es einen Weg gibt, die schiefe Ebene in der Gesellschaft auszuloten und die krankende Rechtssphäre wieder zu heilen. Vergebung heißt, die Folgen der Schuld abzutragen, ihr Gift Stück für Stück herauszulösen. Das ist harte Arbeit. Und wenn die Schuld so riesig und unfassbar groß ist, wie die Schuld, die Hunderttausende von Deutschen vor drei, vier Generationen auf sich luden, verknüpft sich mit dem Bekenntnis „Ich glaube an die Vergebung der Sünden“ die Arbeit vieler Generationen und sehr vieler Menschen.   

Ich glaube an die Vergebung der Sünden heißt dann aber auch: Wir müssen den Blick heben, aufschauen, wachsam sein, wir dürfen nicht zulassen, dass Menschen mit gesenktem Blick wieder unsere Gesellschaft vergiften. Wir müssen Kain konfrontieren, ihn ansprechen und ihm sagen: „Warum überläuft es dich heiß und warum senkt sich dein Blick? Ist es nicht so: Wenn du gut handelst, darfst du aufblicken; wenn du nicht gut handelst, lauert die Sünde an der Tür.“ Ich glaube an die Vergebung der Sünden heißt: Verantwortung übernehmen für heute, damit wir das Elend und das Gift, das Nazideutschland über Generationen von Nachgeborenen brachte, nicht noch einmal zulassen.

Wie geht es in den nächsten Tagen weiter? Wir werden weiter Offenbacher Leidensgeschichte erzählen. 

Morgen erzählt der frühere Präsident des Offenbacher Fechtclubs, Waldemar Krug, von der Fechterin Helene Mayer. Helene Mayer focht bei der Olympiade 1936 in Berlin für Nazideutschland, errang eine Silbermedaille und sie ließ sich von der Nazipropaganda einspannen. Wir denken nach über Politik und Sport – und wie schnell das Private von der Politik vereinnahmt wird. 

Am Mittwoch berichtet die junge Mühlheimerin Chiara Seiberth von einem Menschen am Rande, von einer jungen Frau, die verachtet, weggesperrt und dann für ihr Leben gezeichnet wurde. Chiara Seiberth erzählt von sozialer Ausgrenzung und einer schier unerträglichen Arroganz derer, die sich für normal halten.

Kommen Sie. Stellen Sie sich in der Karwoche diesen Offenbacher Leidensgeschichten. Und bleiben Sie behütet. Bleiben Sie gesegnet. Seien Sie Gott befohlen. Wir wünschen Ihnen einen guten Heimweg und eine gesegnete Nacht. Zum Abschied hören wir die Klezmerband Naschuwa.


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