Muss man die Bibel verstehen, um zu glauben?

Muss man die Bibel verstehen, um zu glauben?

Muss man die Bibel verstehen, um zu glauben?

# Predigt

Muss man die Bibel verstehen, um zu glauben?

Liebe Gemeinde, 

am vergangenen Mittwoch musste unser Predigtvorbereitungskreis leider ausfallen. Eine zentrale Frage, die wir uns in diesem Kreis immer wieder stellen, lautet: „Verstehst du auch, was du da liest?“

Der Predigttext erzählt eine ähnliche Szene, wie wir sie bei der Predigtvorbereitung immer wieder erleben. Eine Szene, die um die Frage herum komponiert ist: „Verstehst du auch, was du da liest?“

Und ich denke manchmal: Kommt es darauf an, diese komplizierten Bibeltexte zu verstehen? Können wir nur richtig glauben, wenn wir all die Hintergründe erklärt bekommen, die uns das Verständnis der Bibeltexte erleichtern? – wenn uns jemand die Lebenswelt der Bibel erschließt und uns plastisch vor Augen stellt, wovon sie eigentlich erzählt? Können wir nur richtig glauben, wenn uns erklärt wird, wie diese oder jene Bibelstelle zu verstehen ist? 

Der Predigttext für den heutigen Sonntag klärt genau diese Frage. Ich lese Ihnen vor aus Apostelgeschichte 8, Verse 26 bis 39 – die Erzählung vom äthiopischen Kämmerer:  

Der Engel des Herrn redete zu Philippus und sprach: „Steh auf und geh nach Süden auf die Straße, die von Jerusalem nach Gaza hinabführt und öde ist.“ 

Und er stand auf und ging hin. Und siehe, ein Mann aus Äthiopien, ein Kämmerer und Mächtiger am Hof der Kandake, der Königin von Äthiopien, ihr Schatzmeister, war nach Jerusalem gekommen, um anzubeten. Nun zog er wieder heim und saß auf seinem Wagen und las den Propheten Jesaja.

Der Geist aber sprach zu Philippus: „Geh hin und halte dich zu diesem Wagen!“ 

Da lief Philippus hin und hörte, dass er den Propheten Jesaja las, und fragte: „Verstehst du auch, was du da liest?“ 

Er aber sprach: „Wie kann ich, wenn mich nicht jemand anleitet?“ Und er bat Philippus, aufzusteigen und sich zu ihm zu setzen. 

Die Stelle aber der Schrift, die er las, war diese (Jesaja 53,7-8): »Wie ein Schaf, das zur Schlachtung geführt wird, und wie ein Lamm, das vor seinem Scherer verstummt, so tut er seinen Mund nicht auf. In seiner Erniedrigung wurde sein Urteil aufgehoben. Wer kann seine Nachkommen aufzählen? Denn sein Leben wird von der Erde weggenommen.« 

Da antwortete der Kämmerer dem Philippus und sprach: „Ich bitte dich, von wem redet der Prophet das, von sich selber oder von jemand anderem?“ 

Philippus aber tat seinen Mund auf und fing mit diesem Schriftwort an und predigte ihm das Evangelium von Jesus.

Und als sie auf der Straße dahinfuhren, kamen sie an ein Wasser. Da sprach der Kämmerer: Siehe, da ist Wasser; was hindert’s, dass ich mich taufen lasse? Und er ließ den Wagen halten und beide stiegen in das Wasser hinab, Philippus und der Kämmerer, und er taufte ihn. Als sie aber aus dem Wasser heraufstiegen, entrückte der Geist des Herrn den Philippus und der Kämmerer sah ihn nicht mehr; er zog aber seine Straße fröhlich.

„Verstehst du auch, was du da liest?“, fragt Philippus.- „Wie kann ich, wenn mich nicht jemand anleitet?“, sagt der Kämmerer. 

Dem Kämmerer geht es wie uns. Er braucht Anleitung, jemanden, der erklärt, jemanden, der Aussagen einordnet, die Lebenswelt beschreibt, in der die Geschichte spielt. Er stellt deshalb, die erste Frage, die man sich stellen muss, wenn man einen unverständlichen Text liest: „Von wem ist überhaupt die Rede?“

Die Antwort darauf klärt in aller Regel nur das allernötigste. Wenn man in der Bibel liest: »Wie ein Schaf, das zur Schlachtung geführt wird, und wie ein Lamm, das vor seinem Scherer verstummt, so tut er seinen Mund nicht auf. In seiner Erniedrigung wurde sein Urteil aufgehoben. Wer kann seine Nachkommen aufzählen? Denn sein Leben wird von der Erde weggenommen« … dann stellt sich ja nicht nur die Frage, von wem da die Rede ist. An diese erste Frage schließt sich ja eine ganze Kette anderer Fragen an.

Ebenso könnte man fragen: 

  • Warum verstummt ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird? 
  • Verstummt es wirklich? 
  • Warum verstummt dieser Mensch wie ein Schaf vor seinem Scherer? 
  • Und worin besteht seine Erniedrigung? 
  • Wenn sein Urteil aufgehoben wird, was passiert dann mit ihm? 
  • Warum wurde er überhaupt verurteilt – und wurde er zur Schlachtung geführt oder zum Scheren?
  • Von welchen Nachkommen ist die Rede? 
  • Hatte dieser Mensch viele Kinder oder Enkelkinder?
  • Warum wird sein Leben von der Erde weggenommen? 
  • Und wieso heißt es: Denn sein Leben wird von der Erde weggenommen – wieso begründet sein Tod, dass er viele Nachkommen hat?

Der Text steckt voller Rätsel, der Kämmerer aus Äthiopien hockt in seinem Gefährt und versteht gar nichts. Er bittet Philippus, einen Jünger und Apostel Jesu, zu sich in den Wagen. Er will sich von Philippus diese Passage erklären lassen. Er stellt seine erste Frage, an die sich gewiss eine Menge anderer Fragen anschließen wird. 

Philippus sagt nur: Diese Textpassage handele von Jesus. Und er predigt das Evangelium von Jesus, das heißt, er erzählt, wer Jesus war, was er tat, was er sagte, wie es ihm erging. Und schon fügt sich diese eine Information wie das fehlende Puzzleteil an einer entscheidenden Stelle des Puzzles ein. Auf einmal zeigt sich von diesem Puzzleteil ausgehend das ganze Bild. Das entscheidende fehlende Puzzleteil verrät alles, was man wissen muss, um das große Ganze zu erkennen. 

Denn in dem Moment, als Philippus sagt: „Die Person, von der die Rede ist, ist Jesus von Nazareth“, sind alle Fragen beantwortet. 

  • Warum ist diese Person wie ein Schaf, das zur Schlachtung geführt wurde? Weil auch Jesus getötet wurde, weil er zu der Stunde gekreuzigt wurde, als man die Passalämmer schlachtete. 
  • Warum verstummt diese Person und tut ihren Mund nicht auf wie ein Schaf vor seinem Scherer? Weil Jesus zu dem Unrecht, das man ihm zufügte, schwieg. Er verurteilte niemanden, es kam kein böses Wort über seine Lippen. 
  • Warum wird sein Urteil aufgehoben? Gott hebt das Urteil der Menschen über Jesus auf, weil es ein ungerechtes Urteil ist. 
  • Was passiert dann mit ihm? Gott erweckt Jesus von den Toten, er hebt ihn zu höchsten Ehren, lässt ihn zu seiner Rechten sitzen. 
  • Von welchen Nachkommen ist die Rede? Von allen, die sich zu Jesus halten, ihm vertrauen, an ihn glauben. 
  • Warum wird sein Leben von der Erde genommen? Weil Gott ihn zu sich nimmt; weil Jesus in den Herzen der Gläubigen weiterregiert. 
  • Wieso begründet sein Tod, dass er viele Nachkommen hat? Weil die Menschen wegen seines Todes und seiner Auferstehung zum Glauben an ihn, Jesus, den Christus, finden.  

Natürlich ließe sich der Text vom Erniedrigten, der wie ein Schaf verstummt, dass man zur Schlachtbank führt, noch weiter historisch einordnen, dann die Traditionslinien erläutern, die zu dieser Aussage führen. 

Aber wenn ich davon ausgehen kann, dass der Text von Jesus Christus handelt, dann beantworten sich alle Fragen von selbst. An dem unfertigen Bild, das eben noch völlig rätselhaft aussahen, sind nun die entscheidenden Linien zu erkennen. 

Warum ist das so? Weil Jesus, der Christus, der Schlüssel zu allem ist. Weil er mir eine neue Sichtweise vermittelt. Weil er die Welt, die mir eben noch klar und logisch strukturiert erschien, auf vom Kopf auf die Füße stellt. 

Was mir eben noch als Zeichen der Schwäche und Hilflosigkeit erschien (dass Jesus passiv alles über sich ergehen ließ), das zeichnet diesen Jesus nun als glaubensstark aus, als gottergeben, als gottgleich. 

Was mich eben noch an ihm zweifeln ließ – dass nämlich ein Urteil über ihn gesprochen worden ist – weckt nun die Empathie für ihn, den zu Unrecht Leidenden, und bewirkt Unverständnis über seine Widersacher. 

Wenn eben noch alles klar schien – Verachtete sind von vornherein suspekt, Verurteilte sowieso, und tot ist tot, fertig aus – so ist nun alle bisherige Logik aufgehoben: 

Der Verachtete ist zu höchsten Ehren emporgehoben. Der Verurteilte ist ein Heiland. Der Ermordete, er lebt. Im Menschen, den ich früher verachtet habe, auf den ich früher herabsah, erkenne ich nun den Gottessohn; ich lasse mich von seinem Elend erweichen. Wenn ich früher sagte: „Geschieht ihm recht“, dann bleibt dieser Satz nun in meinem Halse stecken und entlarvt mich als verschlossen und selbstgerecht. 

Der äthiopische Kämmerer erlebt einen solchen Perspektivwechsel. Er tauscht seine Selbstgerechtigkeit gegen Liebe ein, seine Selbstgenügsamkeit gegen Demut, seine Selbstbezogenheit gegen Offenheit. Und er lässt sich taufen. Das Reinigungsbad bestätigt und unterstreicht, was er zuvor erlebt hat: eine Umkehr zu Gott, dem ganz Anderen. Zu einem Gott, der sein Selbstverständnis durchkreuzt, der ihn überrascht, der seine eingefahrene Sicht der Dinge um 180 Grad wendet. 

Der Kämmerer lässt sich umkehren. Er lässt seine alten Gewissheiten fahren. Er lässt ein auf diesen Jesus von Nazareth und dessen ganz andere Weise, durch das Leben zu gehen. Der Kämmerer zieht seine Straße fröhlich, erlöst, befreit von der Anfechtung, er sei nicht gut genug, nicht gläubig genug, nicht liebevoll genug. Er zieht seine Straße mit wachem Blick für seine Mitmenschen. Er zieht seine Straße mit Gott. Amen

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