Leben verlieren, Leben gewinnen

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Leben verlieren, Leben gewinnen

# Predigt

Leben verlieren, Leben gewinnen

Liebe Gemeinde, 

vor etwas mehr als drei Jahren saß ich in im Oberkirchenrat der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau – in Darmstadt. Mir gegenüber die stellvertretende Kirchenpräsidentin Ulrike Scherf, dazu noch einige Mitglieder des Oberkirchenrats und der Mitarbeitervertretung und andere.

Man stellte mir Fragen, um zu testen, ob ich für den Beruf des Pfarrers geeignet sei. Eine der Fragen lautete: Ob ich mich denn abgrenzen könne? 

Ich verstand durchaus, worauf die Frage abzielte. Ob ich in der Lage sei, mich als Person zu schützen, also sich nicht vorzeitig im Beruf zu verausgaben und vorzeitig zu verbrennen, um dann ausgelaugt vorzeitig in den Ruhestand zu gehen.  

In mir erregte die Frage einen gewissen Widerstandsgeist, und ich antwortete mit einer Erinnerung. Als ich in meiner Examensvorbereitung als Theologiestudent war, zeigte mir eine frühere Kommilitonin, die bereits ihr Vikariat antreten wollte, ihre Antrittspredigt. Thema der Predigt: Dass man auch mal Nein sagen müsse. Dass man sich auch mal zurückziehen müsse. Dass man auch mal an sich denken und sich vor dem Zugriff der anderen schützen müsse. Ich erinnere, dass ich meine frühere Kommilitonin fragte, ob sie sich wirklich so der Gemeinde vorstellen wolle, ob das wirklich ihre erste Predigt sein solle. Und ob sie nicht angetreten sei, einladend zu sein, andere willkommen zu heißen und sich für andere einzusetzen, ja – auch hinzugeben? Ob das nicht eher das Thema für eine erste Predigt sei? Abgrenzen könne sie sich dann ja immer noch.  

Meine Erinnerung stieß auf das Wohlwollen der oberkirchenrätlichen Kommission, zumal ich ergänzte: Ich sei jetzt alt genug, dass ich meine Grenzen kenne. Aber ich würde jetzt erstmal, bei Antritt des Pfarramtes, lieber daran denken, mich zu öffnen als mich zu verschließen. 

Es hätte bei dieser Episode bleiben können. Aber seit ich Pfarrer der EKHN bin, begegnet mir diese Aussage, diese Mahnung, man solle sich abgrenzen, man solle „Nein“ sagen können, ständig: In Pfarrkonferenzen. In Besprechungen unter Kolleginnen und Kollegen. Und ganz besonders vehement und nachdrücklich in Supervisionssitzungen. Ich traue mich dann schon gar nicht mehr etwas dagegen zu halten. Zu schnell ist man in der Ecke des Naiven, des Trottels, der immer zu allem Ja sagt, der keine professionelle Distanz wahrt und so weiter. 

Und je länger ich Pfarrer bin, desto mehr befremdet mich diese Beobachtung. Denn die Botschaft „Grenze dich ab, schone dich selbst, wahre professionelle Distanz“ steht diametral der Botschaft Jesu und der Botschaft des frühen Christentums entgegen. 

Ich will damit nicht sagen, dass sie falsch ist. Natürlich muss man im Pfarramt die Kräfte so einteilen, dass man auf die lange Strecke durchhält, dass man nicht frühzeitig unter Burn-out leidet und krank aus dem Dienst scheidet. Denn damit ist niemandem geholfen. 

Aber was mich irritiert ist, dass ich diese andere Botschaft, die eigentliche Botschaft Jesu und der frühen Christenheit gar nicht mehr höre – weder im Pfarrkonvent, noch im Kollegenkreis, und schon gar nicht bei der Supervision. 

Die Botschaft Jesu lautet: Gib dich hin. Schone dich nicht. Sie lautet: „Wer sein Leben bewahrt, der wird es verlieren. Aber wer sein Leben verliert, wer sich ganz und gar hingibt, der wird es gewinnen.“ 

Das ist die Botschaft Jesu. Und ich frage zunächst einmal nicht, ob das realistisch ist; ob wir wirklich so leben können. Sondern ich beobachte, dass wir – wenn wir diese zentrale Botschaft ganz aus dem Blick verlieren – vielleicht ganz und gar aus dem Blick verlieren, wozu wir als Kirche überhaupt noch da sind. Und dass mit dieser Sinnkrise vielleicht die viel schlimmere Krise kommt, als die des Burn-out: nämlich die Krise der Sinnentleerung und der vollständigen Depression. 

Nein, ich möchte mich erst einmal einlassen auf den Gedanken Jesu: „Wer sein Leben bewahren will, wird es verlieren; wer aber sein Leben verliert, wird es gewinnen“ – und zwar: „… um meinetwillen verliert“, nämlich um Jesu willen, das ist ganz wichtig.  

Der Predigttext für den heutigen Sonntag lädt uns ein, diesem Gedanken nachzugehen. Er steht im 1. Petrusbrief, Kapitel 2, Verse 2 bis 10. Und ich schicke es voraus: In diesem kurzen Abschnitt sind sehr verschiedene Bilder, grelle Metaphern eingebaut, die zusammengenommen etwas künstlich kombiniert erscheinen. Es geht zunächst um neugeborene Kinder, die nach Milch schreien, nach flüssiger Speise. Sie sind noch nicht reif für die feste Speise. Aber es verlangt sie dringend danach – und das ist der Vergleichspunkt in diesem Bild: das dringliche Verlangen. 

Dann ist von einem lebendigen Stein die Rede. Merkwürdig: Steine leben nicht, und es geht auch nicht darum, Lebloses zu beleben. Sondern es wird hier auf einen Psalmvers Bezug genommen: „Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, ist zum Grundstein geworden.“ Diesen Vers bezieht man auf Jesus, den leidenden Gerechten. Andere haben ihn für wertlos erklärt und verworfen. Aber gerade deswegen, wegen ihrer Verachtung, ist er zum wichtigsten Halt in unserem Leben geworden. Wie, das wird noch auszuführen sein. Aber wenn von lebendigen Steinen die Rede ist, dann wird auf Menschen Bezug genommen, die so etwas wie ein Fundament bilden, so wie Jesus ein Fundament für ihren Glauben bildet. Das ist der zweite Vergleichspunkt. Ich lese die Zeilen vor: 

Wie neugeborene Kinder nach Milch schreien, sollt ihr nach dem echten Wort verlangen. Dadurch wachst ihr im Glauben heran, sodass ihr gerettet werdet.
Denn ihr habt ja bereits schmecken dürfen, wie gut der Herr ist. 
Kommt her zu ihm! Er ist der lebendige Stein, der von den Menschen verworfen wurde. Aber bei Gott ist er erwählt und kostbar. 
Lasst euch auch selbst als lebendige Steine zur Gemeinde aufbauen. Sie ist das Haus, in dem Gottes Geist gegenwärtig ist. So werdet ihr zu einer heiligen Priesterschaft und bringt Opfer dar, in denen sein Geist wirkt. Das sind Opfer, die Gott gefallen, denn sie sind durch Jesus Christus vermittelt. 
Deshalb heißt es in der Heiligen Schrift: »Seht, ich lege auf dem Berg Zion einen ausgewählten, kostbaren Grundstein. Wer an ihn glaubt, wird nicht zugrunde gehen.«
Für euch ist er kostbar, weil ihr an ihn glaubt. Aber für diejenigen, die nicht an ihn glauben, gilt: „Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, ist zum Grundstein geworden.“ 
Er ist ein Stein, an dem man Anstoß nimmt, und ein Fels, über den man stolpert. Sie stoßen sich an ihm, weil sie dem Wort keinen Glauben schenken. Doch genau dazu sind sie bestimmt. 
Aber ihr seid das erwählte Volk: eine königliche Priesterschaft, ein heiliges Volk, eine Gemeinschaft, die in besonderer Weise zu Gott gehört. Denn ihr sollt die großen Taten Gottes verkünden. Er hat euch nämlich aus der Finsternis in sein wunderbares Licht gerufen. Ihr, die ihr früher nicht sein Volk wart, seid jetzt Gottes eigenes Volk. Ihr, die ihr früher kein Erbarmen fandet, erfahrt jetzt seine Barmherzigkeit.

„Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, ist zum Grundstein geworden.“ – Ich habe schon vorab angedeutet, dass sich in der christlichen Deutung dieses Verses der Gedanke Jesu wiederfindet: „Wer sein Leben verliert, der wird es gewinnen.“

Jesus ist der Verworfene. Er hat sein Leben dahingegeben, hat sich von den anderen verwerfen lassen. Aber er ist zum Grundstein geworden. Er hat das Leben zurückgewonnen, weil Gott ihn, den Verworfenen, zum Grundstein gemacht hat. 

Und wenn wir das erwählte Volk sein sollten, die königliche Priesterschaft, ein heiliges Volk und so weiter, dann doch deshalb, weil wir uns dem Verworfenen anschließen, weil wir so sein wollen wie er: hingebungsvoll, aufopferungsbereit, sich selbst verschenkend. 

Und ich komme auf meinen Eingangsgedanken zurück: Ist das gesund? 

Nein, es ist nicht gesund; es ist höchst gefährlich. Und in der Tat: Man muss achtsam mit seinen Kräften haushalten. Und ich empfehle auch niemandem, sich zum Äußersten zu verausgaben. Aber dennoch ist es die richtige Grundhaltung, wenn wir das Leben gewinnen wollen, das wirkliche und gelingende Leben. Indem wir es verschenken. Indem wir uns verschenken. Amen. 

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