Lass dich von der Politik nicht frustrieren

Lass dich von der Politik nicht frustrieren

Lass dich von der Politik nicht frustrieren

# Predigt

Lass dich von der Politik nicht frustrieren

Liebe Gemeinde, 

wie gehen Sie mit den Tollheiten dieser Welt um? Wie gehen Sie mit der verrückten Nachrichtenlage um, dass in den USA jemand regiert, den man überhaupt nicht einschätzen kann. Ist er einfach nur dumm, oder stellt er sich dumm, damit andere ihn unterschätzen? 

Wie kann es sein, dass dieser Mensch so viele Leute um sich schart, die lieber ihm die Treue halten, als ihrem eigenen Wahlvolk. Wie kann es sein, dass diese Leute so schamlos vor aller Welt gesetzlose Dinge tun, dass sie offen die Verfassung brechen, dass in aller Öffentlichkeit ihren Eid, dem Land zu dienen, ignorieren und vor aller Augen in ihre eigene Tasche wirtschaften – und niemand gebietet ihnen Einhalt? Wie kann es sein, dass Leute, die sich als Patrioten ausgeben, offenkundig so unpatriotisch, so verräterisch ihrem eigenen Volk gegenüber handeln, wie wohl kaum jemals jemand vor ihnen – und dennoch hält eine gewaltige Wählerbasis zu ihnen?

Geht es Ihnen auch so, dass Sie fürchten: Diese Clique von überführten Verbrechern, die in aller Öffentlichkeit immer weiter macht, dass diese Clique die nächsten Wahlen so beeinflussen könnte, dass selbst die älteste Demokratie der Welt gegen sie machtlos ist? 

Und geht es Ihnen auch so, dass Sie fürchten, der Funke könne von den USA in andere Länder überspringen, und auch hier könnten verrückte Politiker, die tagaus tagein nur verrückte Dinge sagen, eine Mehrheit für sich gewinnen? Leute, die gegen Zugewanderte hetzen – obwohl doch ein einziger Besuch in Häusern wie dem Sana-Klinikum oder einem Altenheim wie dem Domizil oder dem DRK-Heim hier um die Ecke offenbaren würde: Es geht nicht ohne die Zugewanderten! 

Ja, wir kennen diese Leute, die mit den beklopptesten Argumente Windräder abschaffen wollen? Sie sagen, Windräder würden die Vögel töten, obwohl wir doch seit Jahrzehnten schon mit Autos über die Landstraße heizen und dort überall tote Wildtiere liegen – und niemand kommt deshalb auf die Idee, den Autoverkehr zu unterbinden. 

Wir kennen diese Leute, die von Cancel-Culture reden und den Linken vorwerfen, sie würden die Meinungsfreiheit einschränken, aber gleichzeitig die Erinnerungskultur abschaffen wollen, gleichzeitig Gedenkstätten wie denen in Buchenwald und Dachau die Mittel entziehen wollen, gleichzeitig die Geschichte auf ihre Weise umdefinieren wollen und uns sogar vorschreiben wollen, welchen Architekturstil wir gut finden und welchen wir schlecht finden sollen?  

Wie kann es sein, dass solche Leute, die sich so öffentlich in Widersprüche verstricken und so offensichtlichen Unsinn reden, die von den wirklichen Problemen ablenken, von der Klimakrise, der Überalterung der Gesellschaft, der Bedrohung der Demokratie durch Diktatoren, die Bedrohung des Friedens in Europa durch Diktatoren – wie kann es sein, dass solche Leute auf einmal 25, 30 Prozent der Stimmen einfangen und in den Parlamenten die zweitstärkste oder gar stärkste Fraktion stellen? 

Geht es Ihnen auch so, dass Sie um unsere Zukunft fürchten? Um unsere Freiheit, ja sogar – wenn man sieht, wie viele Menschen von morgens bis abends auf ihren Handys in Social Media scrollen – um unsere innere Freiheit, um unsere Gedankenfreiheit? 

Es würde mich wirklich interessieren, ein Meinungsbild aus unserer Gemeinde zu bekommen: Wie sehr bestimmen bei den Menschen, die sich unserer Gemeinde zugehörig fühlen, diese apokalyptischen Vorstellungen den Alltag? Wie sehr können Sie sich dem einerseits entziehen? 

Und andererseits: Wie sehr rufen diese Vorstellungen Ihren Widerstandsgeist auf den Plan, ihre Widerborstigkeit.  

Ich selbst scheine da als Pfarrer eine sehr eingeschränkte Wahrnehmung zu haben. Ich habe vor allem mit zweierlei Menschen zu tun: Mit den einen, die unglaublich viel Problembewusstsein und kritischen Geist in sich tragen, die aus meiner Sicht aber erstaunlich stabil bleiben, die die Verhältnisse ähnlich kritisch analysieren, wie ich gerade, vielleicht nicht in allem mit mir einer Meinung sind, aber doch auch besorgt sind. Die aber dennoch erstaunlich stabil dabei ihren Alltag bestehen und im Rahmen des Möglichen ihren Beitrag zu einem guten Miteinander weiter leisten wollen. 

Und ich habe mit Menschen zu tun, die sich so viel um ihr tägliches Einerlei kümmern müssen, dass sie kaum oder nur selten dazu kommen, die Weltlage eingehend zu studieren oder zu diskutieren.  

Wie geht es Ihnen? Bewegen Sie sich in einer Gemeindebubble? Wieso begegne ich so wenigen von denen, die den offenkundigen Unsinn der AfD nachplappern? 

Ich weiß es nicht und will hier auch keine Antwort präsentieren. Sondern ich will Ihnen den biblischen Predigttext für den heutigen Sonntag präsentieren. Denn der handelt davon, wie das Reich Gottes sich Bahn bricht.  

Das Neue Testament erzählt, wie Jesus von Nazareth gekreuzigt wird. Die Mächte des Bösen scheinen über den gesiegt zu haben, der doch immer nur das Gute um sich herum geschaffen hat. 

Aber das Gute ist nicht einzuhegen. Die Bösen können mal hier, mal da einen Sieg einfahren. Sie können groß und gewaltig erscheinen. Aber – so erzählen es die Evangelien und die Apostelgeschichte: Jesus überwindet den Tod. Selbst der Tod setzt seinem Wirken kein Ende. Der Auferstandene sammelt die Seinen. Und von nun an treten die Seinen an seiner Stelle auf. 

Die Apostelgeschichte erzählt: Die Mächtigen dieser Welt mögen stark auftreten. Sie mögen diesen oder jenen Gerechten besiegen. Sie mögen dich oder mich besiegen. Aber sie werden keinen Sieg davontragen. Das Reich Gottes ist größer; der Glaube nämlich, 

  • dass die Augen der Blinden aufgetan werden, füreinander aufgetan werden, 
  • dass die Ohren der Tauben geöffnet werden, damit wir wieder aufeinander hören – und vor allem auf die Stimme der Vernunft, 
  • dass die Zunge des Stummen gelöst wird – wir also nicht mehr schweigend hinnehmen, was die mächtigen Zyniker und Menschenverächter uns vorsetzen, 
  • dass der Lahme springen wird wie ein Hirsch – und auch wir aus unserer Immobilität und Bequemlichkeit herauskommen.

Davon erzählt die Apostelgeschichte. Und dieses Reich Gottes beginnt im Kleinen, mal hier, mal dort. Ich lese vor aus Apostelgeschichte 3, die ersten zehn Verse: 

Einmal gingen Petrus und Johannes zum Tempel. Es war um die neunte Stunde, die Zeit für das Nachmittagsgebet. 

Da wurde ein Mann herbeigetragen, der von Geburt an gelähmt war. Tag für Tag setzte man ihn an das Tor zum Tempelvorhof, das die »Schöne Pforte« genannt wird. Dort sollte er bei den Tempelbesuchern um eine Gabe betteln. Der Mann sah Petrus und Johannes, als sie gerade in den Tempel gehen wollten. Er bat sie um eine Gabe.

Petrus und Johannes blickten ihn an, und Petrus sagte: »Sieh uns an!« Der Gelähmte sah zu ihnen auf

und erwartete, etwas von ihnen zu bekommen. Doch Petrus sagte: »Gold und Silber habe ich nicht. Aber was ich habe, das gebe ich dir: Im Namen von Jesus Christus, dem Nazoräer: Steh auf und geh umher!«

Petrus fasste den Mann bei der rechten Hand und zog ihn hoch. Im selben Augenblick kam Kraft in seine Füße und Gelenke. Mit einem Sprung war er auf den Beinen und machte ein paar Schritte. Er folgte Petrus und Johannes in den Tempel. Dort lief er umher, sprang vor Freude und lobte Gott. Das ganze Volk sah, wie er umherlief und Gott lobte. Sie erkannten in ihm den Bettler, der immer an der Schönen Pforte des Tempels gesessen hatte. Sie staunten und konnten nicht fassen, was mit ihm geschehen war.

Wir können jetzt lange überlegen, ob die Apostel Heilungskräfte hatten, die wir nicht hatten. Oder ob, wenn wir richtig glauben würden, eine Einrichtung wie das Sana-Klinikum nicht mehr bräuchten, weil wir ja dann selber alle Menschen um uns heilen könnten. 

Aber solche Gedanken lenken uns ab vom Kern der Geschichte. Diese Erzählung ist nämlich eingebunden in die viel größere Erzählung, wie Gott Jesus, den die Mächte der Finsternis aus dem Weg räumen wollten, von den Toten auferweckt, wie der Auferstandene die Seinen sammelt, wie er sich von ihnen verabschiedet und ihnen seine Hoffnung, seine Botschaft vom anbrechenden Gottesreich anvertraut, wie die Seinen eine neue Gemeinschaft bilden, die miteinander das Brot teilen und für die Welt beten, die sich um die Bedürftigen kümmern und die ihr Eigentum miteinander teilen. 

Und nun, während Petrus und Johannes in den Tempel gehen, wird dieses Wunder der neuen Gemeinschaft wahr. Da ist ein Mensch, den andere dorthin gelegt haben, einer, der schon immer gelähmt war, seit seiner Geburt, der nie sich zu bewegen gelernt hat, der nie auf andere zugehen konnte, nie von sich aus in Aktion treten, sondern immer nur von anderen fordern und verlangen konnte. 

Und Petrus und Johannes sehen diesen Menschen an, und sie fordern ihn auf, sie anzusehen. Und sie ergreifen seine Hand. Sie richten ihn auf. Und auf einmal fängt dieser Mensch an, zu den anderen in den Tempel zu laufen, zu springen und Gott zu loben. Und die anderen erkennen ihn kaum wieder, ihn, der aus seiner Passivität befreit wurde, der aus seiner Niedergeschlagenheit herausgeholt und zu Tatendrang und zu neuer Hoffnung befreit wurde. 

So lese ich diese Geschichte. Ich lese von einem Lahmen, der den Aposteln „vor den Füßen“ liegt. Und ich frage mich: Wer liegt mir vor den Füßen? Welche Aufgabe habe ich, welche Menschen brauchen mich? Was habe ich, das ich geben kann? Woher habe ich es?

Und ich frage mich: Wo liege ich selbst anderen „vor den Füßen“? Auf welche Hilfe kann ich hoffen? Welche Hilfe kann ich annehmen? Was haben andere, das ich annehmen kann – und das mich vor allem wieder in Bewegung setzen kann? 

Ich lese die Geschichte als eine, in der der Glaube an Jesus Christus Wirkung entfaltet. Es ist nicht der Glaube an eine strahlende Retterfigur, die die Bösen und die Mächtigen dieser Welt mit noch größerer Bosheit und Macht hinwegfegt.  Sondern es ist der Glaube an den Gekreuzigten, an einen, der gerade nicht „unversehrt“ und „ganz“ sein Leben vollbracht hat, sondern beschädigt, gequält. Es ist der Glauben an einen, der Abbild aller menschlichen Leiden war. Und dieser Glaube mobilisiert Petrus und Johannes. Er mobilisiert den lahmen Bettler, der im Tor zum Tempel lag. Und dieser Glaube kann mich mobilisieren – und dich. Und er ist stärker als alle Mächtigen und alle Zyniker, er ist stärker als alle Menschenverächter. Weil ihn ihm die wahre Menschlichkeit keimt. Nämlich Demut vor Gott – und Mitmenschlichkeit. Und sie keimt, wie eine zarte Pflanze, die zu einem großen und stabilen Baum heranwächst. Unaufhaltsam. Amen. 

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