Geist der Freiheit

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# Predigt

Geist der Freiheit

Liebe Gemeinde, 

gestern und vorgestern saßen Lisa Klein und ich vorm Eingang zum Pfarrhaus im schiefen Holzrahmen. Neben mir ein Tisch mit Kuchen und Kaffee und leckerem Brombeerbrot, das Lisas Mutter gebacken hatte. Hinter mir hatte Lisa auf die Holzwand ein Space Shuttle gemalt, dass gerade wieder in die Atmosphäre eintritt. Darüber hatte sie geschrieben: "Wiedereintrittsstelle, werden Sie wieder ein Kirchenmitglied."

Und ich hatte dieses Bild vom Space Shuttle vor Augen, das aus dem lebensfeindliche Weltall kommt und wieder in eine Atmosphäre eintritt, die vor Verstrahlung schützt, die einen Luftmantel um die Erde bildet und die Temperaturen stabil hält und aktuell in Offenbach für angenehme bis sehr warme Temperaturen sorgt – aber im großen und ganzen auch für einen heißen, aber in den Abendstunden wunderbaren Sommer. 

Und ich dachte: Wenn dieses Space Shuttle in eine so lebensfreundliche Atmosphäre eintaucht, in welche Atmosphäre tauchen diejenigen ein, die mit einer Unterschrift auf einem Beitrittsformular in den Orbit unserer Kirchengemeinde eintreten? Was macht uns eigentlich aus – oder vielmehr: Was sollte uns ausmachen?

Der heutige Predigttext steht im Römerbrief, einem Paulusbrief, der oft schwer zu verstehen ist. Er wurde vor fast 2000 Jahren geschrieben, als an so etwas wie Freiheits- oder Menschenrechte nicht zu denken war. Er wurde in einer Zeit geschrieben, als Arbeitsrechte unbekannt waren, als es keine ordentliche Gesundheitsversorgung gab, keine Altenheime. 

Und dieser Predigttext beschreibt eine Atmosphäre abseits einer lebensfeindlichen Umwelt, die absolut lebenswert ist, weil sie von Freiheit und Gotteskindschaft getragen war. 

Man muss sich die Welt damals einfach nur vor Augen halten. Damals genoss der der reichste Mensch der Welt, der Kaiser von Rom, in etwa den Luxus, den heute eine Mittelstandsfamilie mit durchschnittlich großem Einfamilienhaus genießt, mit fließend Wasser, individuellem WC, Toilettenspülung, geheizten Räumen im Winter, mit ausreichend vielen Lebensmittelvorräten das ganze Jahr über, um jederzeit etwas Warmes essen zu können. Die Wäsche wurde dem Kaiser per Hand gewaschen und getrocknet, das Geschirr gespült. 

Für die allermeisten Menschen war die Lebenserwartung deutlich geringer als heute. Sehr viele Menschen lebten damals so arm wie heute Menschen in Afghanistan. Sie kamen kaum je aus ihren Kleinstädten und Dörfern heraus. Sie lebten beengt, erlitten Gewalt und Willkür, starben an Krankheiten, die sich heute teils mit Mitteln aus der Drogerie verhindern lassen: an Entzündungen, Erkältungen, einfachen Infektionen. Weit mehr als die Hälfte der Bevölkerung lebte unfrei. Viele waren versklavt – versklavt als Kriegsgefangene, als Fremde oder einfach nur als Schuldner. 

In einer solchen Zeit schreibt der Apostel Paulus folgende Worte an die christliche Gemeinde in Rom – ich lese aus Römer 8, 14-17: 

Alle, die sich von Gottes Geist führen lassen, sind Gottes Kinder.

Ihr habt ja nicht einen Geist empfangen, der euch zu Sklaven macht. Dann müsstet ihr doch wieder Angst haben.  Ihr habt vielmehr einen Geist empfangen, der euch zu Kindern Gottes macht.

Weil wir diesen Geist haben, können wir rufen: »Abba! Vater!« Und derselbe Geist bestätigt unserem Geist, dass wir Kinder Gottes sind. Wenn wir Kinder sind, dann sind wir aber auch Erben: Erben Gottes und Miterben von Christus.

Voraussetzung ist, dass wir sein Leiden teilen. Denn dadurch bekommen wir auch Anteil an seiner Herrlichkeit.

Paulus schreibt diesen Christenmenschen in Rom, die teilweise selbst ein Schicksal als Sklaven oder kleine Arbeiter erleiden, und die ansonsten aber um sich herum Elend, Armut, Unterdrückung, Ausbeutung und Entwürdigung erleben: Ihr seid frei. Ihr seid Gotteskinder. Ihr seid Erben Gottes, Miterben Christi.

Wie kann das sein? Vermutlich nur mit dem Nachsatz: „Voraussetzung ist, dass wir sein Leiden teilen. Denn dadurch bekommen wir auch Anteil an seiner Herrlichkeit. 

Den Menschen blieb damals wohl nichts anderes übrig, als das alltägliche Elend zu ertragen. Und Paulus sagte ihnen: Ihr steht darin in der Nachfolge Christi, dem es noch viel schlechter erging, als euch. Er starb den Tod eines Aufrührers, qualvoll am Kreuz. 

Heute geht es uns wenigstens hier in Deutschland und ganz besonders im Offenbacher Westend materiell deutlich besser. Die Forderung „Ertragt das Elend“ erscheint uns nicht ganz so groß, wie sie damals erschienen sein mag, jedenfalls nicht in materieller Hinsicht. 

Umso wichtiger der erste Teil: Ihr seid Gottes Kinder. Ihr seid Erben Gottes, Miterben Christi. Was Christus zuteil wurde, dass Gott ihn nicht im Tode belässt, sondern von den Toten auferweckt, dass er ihn in seine Herrlichkeit aufnimmt, das wird auch euch zuteil. Habt Mut. Geht auf das Leben zu. Denn was kann euch schon passieren, wenn Gott mit euch ist? 

Ich überlege immer wieder, wie solche Sätze unter uns Realität werden können.

Ihr habt keinen Geist bekommen, der euch zu Sklaven macht. Dann müsstet ihr doch wieder Angst haben.  Ihr habt vielmehr einen Geist empfangen, der euch zu Kindern Gottes macht. 

Wo spüren Sie diesen Freiheitsgewinn hier in der Gemeinde? Spüren, erleben Sie ihn?

Ich habe mir überlegt, wo das sein kann und wie das sein kann. Und Überlegungen, wie diese, werden in den nächsten Monaten und Jahren immer wieder wichtig sein: Was macht unsere Gemeinde, was macht unsere Kirche aus, und warum sollte man ihr angehören? Was sollte der Grund sein, dabei zu sein?

Und ich habe gesammelt und formuliert:

  • Die Gemeinde ist ein Ort, an dem man Gleichgesinnte treffen kann, Menschen, die sich Gedanken machen über sich selbst und die Welt, Menschen, bei denen man sich gehört fühlt, auf die man sich freut. 

Stimmt das? Es stimmt für einige von uns, und es sich sicherlich auch der Grund, warum viele zu den öffentlichen Veranstaltungen kommen: Die Gemeinde ist ein Ort, um hier in Offenbach heimisch zu werden. Aber das sehen nur manche so, längst nicht alle. 

  • Die Gemeinde ist ein Ort, in dem ich herausgefordert werde und mich entwickeln kann, wo ich Neues lerne, mich als Mensch entwickle, reifer werden kann. 

Stimmt das? Für einige durchaus. Wir nennen unseren Kindertreff am Donnerstagnachmittag „Entdeckerclub“, weil wir nicht einfach nur Bespaßung bieten, sondern den Kindern etwas mitgeben wollen, etwas zum Entdecken anbieten, biblische Geschichten, die ihnen ein Gegenüber bieten zur Selbstreflexion: Wer bin ich in dieser Geschichte? Wo habe ich auch schon mal etwas Ähnliches erlebt? Wer bietet sich mir als ein Vorbild an? 

Und ich glaube, dass unsere Jugendgruppe im vergangenen Jahr ganz schön viel entdeckt hat – in der Beschäftigung mit dem dunkelsten Kapitel der deutschen Vergangenheit, aber auch miteinander, weil man doch einiges schon gemeinsam auf die Beine gestellt und erlebt hat. 

Ich glaube, dass die Gemeinde ein Ort sein kann, wo man herausgefordert ist und sich weiterentwickeln kann – sofern man sich darauf einlässt und sich auch herausfordern lässt. 

Aber so ist es eben nicht für alle. Manche mögen sich auch durch Veränderungen in der Gemeinde überrannt fühlen, fürchten um ihre Sicherheit, Geborgenheit, um ihr Heimatgefühl und ziehen sich in ihr Schneckenhaus zurück. Auch das erleben wir.

Und ja, leider können wir nicht einfach konservieren, was mal war. Sondern die Gemeinde verändert sich ständig, allein schon wegen der rückläufigen Mitgliederzahlen. Und was für die einen spannend und herausfordernd ist, ist für die anderen vielleicht so etwas wie ein Verlust an Heimat. 

Wir haben uns auch im Kirchenvorstand gefragt: Was macht diese Gemeinde eigentlich aus? Wir haben hin und her überlegt, und am Ende stand die Antwort: Der Gottesdienst. Es ist der einzige Ort, wo mal alle zusammenkommen können – auch wenn nur selten alle da sind. 

Es ist der Ort, wo wir eine Stunde lang die Gedanken schweifen lassen können, wo wir nicht mechanisch zum Handy greifen, weil wir die Techniken, das Nichtstun zu ertragen, verlernt haben. Es ist eine Zeit, in der niemand an einem zerrt und keine Aufgaben warten. 

Der Gottesdienst ist eine Stunde in der Woche, in der manche von uns mal Ruhe haben und für sich sein können. Man macht eigentlich über weite Strecken nichts außer zuhören. Wir werden passiv, wir nehmen auf, lassen in uns einsickern, was dann vielleicht weiter in uns arbeitet. Wir werden zu Empfangenden. 

Ihr habt ja nicht einen Geist empfangen, schreibt Paulus, der euch zu Sklaven macht. Dann müsstet ihr doch wieder Angst haben. 

Weil wir diesen Geist haben, können wir rufen: »Abba! Lieber Vater!« Und derselbe Geist bestätigt unserem Geist, dass wir Kinder Gottes sind.

Es ist diese Hoffnung, die uns als Gemeinde ausmacht, dass wir hier einen Freiraum haben, in dem Menschen keine Angst haben, sondern sich entfalten können. In dem wir Empfangende werden und nicht Schaffende sein müssen. In dem wir einfach die sein dürfen, die wir sind. 

Einen Freiraum, der uns offen macht, Gottes Geist zu empfangen. Dass wir Gott mehr nicht als ein übermächtiges Schicksal erleben, das unser Leben durcheinander würfelt. Dass wir nicht mit ihm im Streit verharren, nicht im Hadern, nicht im inneren Zorn. Sondern dass wir wieder „Abba“ rufen können, lieber Vater, oder „Ima“, liebe Mutter. Dass wir uns auszusöhnen lernen mit uns selbst, mit unseren Nächsten, mit Gott. 

Denn ihr habt ja doch einen Geist empfangen, der euch zu Kindern Gottes macht. Amen.

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