Furchtbarer Sturm

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Furchtbarer Sturm

# Predigt

Furchtbarer Sturm

Liebe Gemeinde, 

in zwei Wochen ist Bundestagswahl. Und ich weiß nicht, ob irgendjemand hier im Raum, egal wie man sich politisch ausrichtet, auf diese Wahl und das Ergebnis, das sie wahrscheinlich zutage fördern wird, freut. 

Wir erleben in unserem Land einen harten Kampf um Meinungs- und Deutungshoheit. Politische Gegner beschimpfen einander, als könne außer ihnen niemand Recht haben. Dabei sollte der politische Diskurs doch dazu dienen, sich eine Meinung zu bilden, und nicht, dass sich die Lager nur verhärten. Sich eine Meinung zu bilden, heißt doch eigentlich, sich von Vernunftargumenten überzeugen zu lassen, auch bereit sein, seine Meinung zu ändern. 

Stattdessen nehmen Emotionen Überhand. Das Gefühl oder auch die Sorge, die vielfache Einwanderung mache diejenigen, die schon lange hier sind, zu Fremden im eigenen Land, dominiert alle Debatten.  

Andererseits wissen wir auch, dass es anders nicht geht. Wer schon einmal im Sana-Klinikum oder im Ketteler-Krankenhaus lag, wer schon einmal die Sanitäter gerufen hat, wer einkaufen geht, wer Handwerker bestellt, wer all das schon mal erlebt oder getan hat, weiß, dass da niemand kommen würde, niemand für einen da sein würde, wenn wir die Einwanderer nicht hätten. 

Die, die uns in den Krankenhäusern, in den Krankenwagen, beim Einkaufen versorgen oder weiterhelfen, wenn die Waschmaschine kaputt ist, das sind doch sehr häufig, wenn nicht sogar überwiegend Eingewanderte. Ohne sie wären wir ein Land alter Menschen, die auf sich weitgehend allein gestellt wären. 

Und doch scheint das einzige Problem, das wir bei der anstehenden Wahl diskutieren, die Ausländerkriminalität zu sein, die Anschläge, die immer wieder das Land erschüttern. Als würde nicht gleichzeitig ein Krieg an den Rändern Europas toben, der unsere Freiheit und den Frieden auf unserem Kontinent radikal in Frage stellt. 

Als würde sich nicht das Klima bedrohlich von Jahr zu Jahr erwärmen, als würden uns nicht Naturkatastrophen immer größeren Ausmaßes uns heimsuchen – und wir alle wissen von den menschengemachten Ursachen dieses Klimawandels. Und wir sehen zu, wie wir selbst uns nach und nach die Lebensgrundlagen entziehen – aber wir blenden diese Gefahr aus, die Gefahr, dass das Leben der nachfolgenden Generationen elementar bedroht ist. 

Wir blenden diese Gefahr aus, und wir hören von morgens bis abends nichts anderes mehr, als dass die Menschen, die uns pflegen, die für uns sorgen, die unsere Dinge reparieren, unsere Züge steuern unsere Dienstleistungen verrichten, angeblich eine Gefahr für uns seien, für uns, die wir schon etwas länger im Land sind als sie. Wie verrückt ist die Welt eigentlich geworden? 

Eine Welle der Unvernunft überrollt unser Land, und wir können nichts dagegen tun. Wir sitzen alle in diesem kleinen Boot Bundesrepublik Deutschland, in diesem noch viel kleineren Boot Offenbach, das von realen Krisen durchgeschüttelt wird. Wir sitzen alle in diesem Boot und überschütten einander mit Vorwürfen. Warum tun wir das? Weil wir denken, dass wir gegen die Stürme, die unser Boot durchschütteln und zum Untergang bringen könnten, doch nichts ausrichten können. Also richten wir uns gegen unseren Nächsten, der uns hilft. 

Wir sitzen in diesem Sturm fest, die Wellen schlagen gegen unser Boot, wir wissen nicht, wie lange die schützenden Wände noch halten, wie lange sich das Boot gegen die einstürzenden Wellen über Wasser halten kann. Wir möchten zum Himmel schreien: „Herr, macht es dir denn nichts aus, dass wir untergehen?“ Aber wir haben es zu allem Überfluss auch noch verlernt, uns an Gott zuwenden, uns vertrauensvoll dem zuzuwenden, der unser Schicksal in seinen Händen hält. Und weil wir unseren eigentlichen Gefühlen keinen Ausdruck mehr verleihen können, weil wir den Adressaten für unsere Not aus dem Blick verloren haben, wenden wir uns gegen diejenigen, die zuletzt das Boot betreten haben. 

Wie arm wir doch sind!

Der Predigttext für den heutigen Sonntag steht im Markusevangelium im vierten Kapitel. Der Evangelist Markus erzählt in den ersten Kapiteln seines Evangeliums, wie Jesus am See Genezareth Menschen für sich gewinnt, die ihm als Jünger folgen, wie er nach Kapernaum kommt, wie sich viele Menschen um ihn scharen, so dass er aufs Land entweichen muss. Im vierten Kapitel berichtet Markus, dass Jesus am Ufer des Sees Genezareth Gleichnisse erzählt, wie er tagsüber die Menschen dort lehrt und ihnen predigt. Hier setzt der Predigttext für den heutigen Sonntag ein. 

Am Abend dieses Tages sagte Jesus zu seinen Jüngern: »Wir wollen ans andere Ufer fahren.«

Sie ließen die Volksmenge zurück und fuhren mit dem Boot los, in dem er saß. Auch andere Boote fuhren mit.

Da kam ein starker Sturm auf. Die Wellen schlugen ins Boot hinein, sodass es schon volllief.

Jesus schlief hinten im Boot auf einem Kissen.

Seine Jünger weckten ihn und riefen: »Lehrer! Macht es dir nichts aus, dass wir untergehen?«

Jesus stand auf, bedrohte den Wind und sagte zum See: »Werde ruhig! Sei still!«

Da legte sich der Wind, und es wurde ganz still.

Jesus fragte die Jünger: »Warum habt ihr solche Angst? Habt ihr immer noch keinen Glauben?«

Aber die Jünger überkam große Furcht. Sie fragten sich: »Wer ist er eigentlich? Sogar der Wind und die Wellen gehorchen ihm!«

Soweit der Predigttext. Während alle aufgeregt durchs Boot laufen, hilflos, schreiend, von Angst erfüllt, schläft Jesus. Es ist vielleicht ein bisschen so wie bei uns. Schläft denn der Einzige, der uns in unserer Not noch retten könnte? 

Und als sich Jesus schließlich wecken lässt, bedroht er den Wind und sagt zum See: „Werde ruhig! Sei still!“ - Da legte sich der Wind, und es wurde ganz still.

Es braucht nur ein Wort, und die Gefahr ist gebannt. Es bräuchte doch nur ein Wort von dir Gott, der du unser Schicksal in Händen hältst. Aber du sprichst dieses Wort noch nicht. Du lässt uns noch die Möglichkeit, unsere Belange selbst zu regeln, uns zu bewähren, uns mit den uns geschenkten Gaben Vernunft und Verstand unsere Not selbst zu wenden. Auch wenn wir Tag für Tag an unserer Aufgabe scheitern und doch nur aufgeregt durchs Boot laufen. 

Und Jesus fragt die Jünger: »Warum habt ihr solche Angst? Habt ihr immer noch keinen Glauben?«

Warum haben wir solche Angst?, müssen wir uns fragen lassen. Wo ist unser Glaube geblieben, unser Vertrauen, dass Gott für uns sorgt, dass wir mit all unserem aufgeregten Aktivismus, mit all unseren Schuldverschiebe­spielen, mit all den Sündenböcken, die wir durch die Gegend scheuchen, alles nur viel schlimmer machen? 

Warum haben wir solche Angst? Warum können wir nicht einfach glauben, nicht einfach vertrauen, und unsere Arbeit tun, einfach das tun, was geboten ist – und den Rest Gott überlassen? 

Aber die Jünger überkam große Furcht. Sie fragten sich: »Wer ist er eigentlich? Sogar der Wind und die Wellen gehorchen ihm!«

Was wäre denn, wenn Gott einschreiten würde – und wie sähe das aus? Ich versetze mich zurück in die Zeit der Jünger, die einen um sich hatten, der ihnen Halt und Orientierung gab. Aber doch nicht so, dass er ihnen jeden Wunsch erfüllte. Jesus war anders. 

Jesus nahm Frauen mit sich, Frauen, die doch niemand für vollnahm, auf die niemand hörte, die doch eigentlich als Menschen zweiter Klasse galten. 

Jesus zog mit lauter Männern und Frauen durch die Lande, manche verheiratet, manche unverheiratet. Alles ungeregelte Verhältnisse. Das hätte damals doch niemand gutheißen können. 

Jesus ließ die Kinder zu sich kommen, kleine, minderjährige und rechtlose Wesen. Das passte überhaupt nicht in seine Zeit. 

Jesus erzählte Gleichnisse vom Reich Gottes, Hoffnungsgleichnisse, wie man sie bis dahin noch nie gehört hatte – und nach Jesus auch nie wieder gehört hat, Hoffnungsgleichnisse, die Menschen egal in welcher Zeit sie gelebt haben, egal in welcher Kultur sie großgeworden sind, egal auf welchem Erdteil sie leben, verstehen können. Universelle Gleichnisse. Niemand sonst hat das gekonnt, niemand sonst als dieser Zimmermanns-Sohn aus dem kleinen Kaff Nazareth. 

Jesus holte den kleinen, fiesen Zöllner Zachäus vom Baum uns ließ sich von ihm zum Essen einladen. Jesus verwandelte Menschen durch seine überrumpelnde Freundlichkeit, seine einnehmende Liebe. 

Jesus erzählte von einem Vater, der seinen verlorenen Sohn aufnahm, ein schwer zu verdauendes Gleichnis, aber doch eines, an dem wir uns heute noch abarbeiten können. 

Jesus erzählte von den Arbeitern im Weinberg, die alle den gleichen Lohn bekamen. Wie ungerecht, denken wir, und doch schließt uns das Gleichnis die Wirklichkeit Gottes auf, in der jede und jeder bekommt, was er oder sie braucht, wie in einer guten Familie, in der jedes Kind auch nach seinen Bedürfnissen geliebt und gefördert wird.

Jesus erzählte von dem ungeliebten Samariter, der offenbar als einziger verstand, wer der Nächste ist, den ich der Bibel zufolge zu lieben habe, dem ich beizustehen habe – nicht mein nächster Verwandter, nicht mein nächster Freund, sondern der Nächste ist der, der im Straßengraben liegt und jetzt meine Hilfe braucht. 

Dieser Jesus von Nazareth ist so zugänglich und zugleich so sperrig. 

Was wäre denn, wenn Gott heute einschreiten würde, so wie Jesus eingeschritten ist, als die Jünger mit dem Boot fast unterzugehen drohten?

Wie sähe es aus, wenn Jesus heute in unserem Boot aufstünde, wenn er den Wind bedrohte und zu den Wellen sagte: »Werde ruhig! Sei still!«?

Wenn ich mir Jesus von Nazareth anschaue, dann sähe sein Einschreiten mit Sicherheit ganz anders aus, als wir alle es erwarten würden. Ich kann Ihnen nicht sagen: Jesus würde dies tun, oder das zur Bundestagswahl sagen oder diese Partei wählen. 

Aber eines kann ich Ihnen sicher sagen: Jesus würde uns unser Vertrauen zurückgeben. 

Und er würde es nicht nur tun, er tut es jetzt und jederzeit. Er steht da – mit ausgebreiteten Armen. Er will dich jetzt bei sich aufnehmen. Er will sich jetzt mit dir an einen Tisch setzen. Er will jetzt mit dir feiern, dich erzählen lassen. Er will jetzt deine ganze Sorge, deine ganze Angst in sich aufnehmen. Und er wird dir sagen: „Fürchte dich nicht. Ich bin bei dir. Ich habe dich bei deinem Namen gerufen. Du bist mein.“

Amen. 

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