12/03/2025 0 Kommentare
Ein Hohepriester, der sich selbst opfert
Ein Hohepriester, der sich selbst opfert
# Predigt

Ein Hohepriester, der sich selbst opfert
Liebe Gemeinde,
in den vergangenen Wochen sind viele alte Gewissheiten ins Wanken gekommen. Es sind Gewissheiten, die uns bislang ein Gefühl der Sicherheit gegeben haben.
Vielleicht geht es Ihnen wie mir: Oft mag ich gar nicht mehr die Nachrichten aus der Welt der großen Politik hören, weil sie so schrecklich sind. Und dann lass ich mich doch wieder ein, weil ich einfach wissen will, ob es vielleicht doch irgendwo eine gute Nachricht gibt.
Es ist ja nicht prinzipiell schlecht, wenn Gewissheiten ins Wanken geraten. Nur heute paart sich dieses Gefühl mit einem anderen: Dass da Leute diese Ungewissheit ausnützen, um die große Hoffnung der ganzen Menschheit zu zerstören: die Hoffnung, ...
- dass ein demokratisches Zusammenleben mit Rechtsgarantien für Minderheiten und für freien Meinungsaustausch möglich ist,
- dass sich in einem demokratischen, in einem freiheitlichen Rechtsstaat langfristig die Vernunft durchsetzt
- und dass sich auf lange Sicht diejenigen durchsetzen, die selbst Probleme wie die Klimakrise lösen können, sei es, indem sie politische Mehrheiten für vernünftige Gesetzgebung organisieren, sei es, indem sie innovative technische Auswege entdecken und marktfähig machen, sei es, indem sie sich gesellschaftlich organisieren und durch Kampagnen oder durch Bewusstseinsbildung die Dinge zum Guten verändern.
Doch im Moment scheinen uns die Sorgen um den Fortbestand der Welt, um den Fortbestand unserer kleinen Welt über den Kopf zu wachsen. Die anwachsende Gefahr eines großen Krieges auch in Europa, die Klimakrise, die Vermüllung der Welt, der demographische Wandel, die Macht der Autokraten, Verrohung und Manipulation in sozialen Medien – wo wir auch hingucken, es türmen sich schier unlösbare Probleme auf. Und die Sehnsucht nach jemandem, der einmal in diesem Durcheinander gründlich aufräumt, wächst.
Und so tappen wir in die Falle der Autokratien, in die Falle derer, die mit falschen Versprechungen immer nur dasselbe wollen: Macht und Geld. Und dafür müssen sie die Demokratie und den Rechtsstaat beseitigen.
Woran orientieren wir uns in solchen Zeiten? Woran können sich junge Menschen orientieren, die sich eine Zukunft erträumen, junge Menschen, die nun für ihr eigenes Leben den Grund legen, die nach einer Richtung suchen, in die sie ins erwachsene Leben starten können?
Thema des heutigen Sonntags ist die Versuchung. Und ja, die Versuchung, dem Drang nach Macht und Geld zu erliegen, ist heute größer, als ich es mir zu meinen Lebzeiten je erlebt habe. Nur wer Macht und wer Geld hat, scheint heute noch – wie die Tech-Giganten aus dem Silicon-Valley – die Ruder herumreißen zu können. So macht es uns ein großer Immobilientycoon den USA vor, der kürzlich als Präsident eingeführt wurde. So macht es uns ein Milliardär vor, der Elektroautos bauen und Raumschiffe starten lässt, der die Erdumlaufbahn mit Satelliten bestückt und lauter wahnwitzige Projekte anstößt – und wie es scheint: viele mit Erfolg. So machen es uns die Oligarchen in Osteuropa vor, so propagiert es die chinesische Staatsführung. Und sie alle scheinen damit erfolgreich zu sein.
Der Predigttext für den heutigen Sonntag schlägt einen anderen Weg vor. Er steht im Brief an die Hebräer, von dem wir nicht wissen, wer ihn geschrieben hat. Er ist zwar mit dem Titel „an die Hebräer“ überliefert, aber wir wissen nicht genau, an wen sich der Brief tatsächlich gerichtet hat: an Juden im Allgemeinen oder am Judenchristen? Oder ist die Anschrift erst später hinzugekommen? Der Brief selbst gibt zur Beantwortung solcher Fragen keinerlei Anhaltspunkt. Im Grunde könnte es auch eine Lehrschrift an die Christenheit im Allgemeinen sein. Wir wissen noch nicht einmal, ob es sich beim Hebräerbrief wirklich um einen Brief handelt. Abgesehen vom Briefschluss deutet nichts darauf hin.
Der anonyme Verfasser dieses Briefes mahnt zu Geduld. Und das ist die Grundbotschaft dieses neutestamentlichen Werkes: "Haltet durch! Verliert nicht die Geduld! Bleibt bei dem, was richtig ist, allen Anfechtungen und allen Versuchungen zum Trotz!"
Und er erinnert an den, dem wir – die Christenheit – nachfolgen und an dessen Vorbild und an dessen Autorität wir festhalten: Jesus von Nazareth, dem Christus. Er ist größer als Mose und als Josua. Er ist mehr, als es jeder Anführer Israels jemals gewesen ist, sagt der Autor dieses Schreibens.
Er sei ein Hohepriester, heißt es, also einer, der mit Opfern die Verbindung zu Gott hält und Gott durch das Opfer mit den Menschen versöhnt. Aber Jesus von Nazareth, der Christus, ist mehr als jeder Hohepriester, den Israel je gesehen hat. Und dann kommt die Passage, die heute der Predigttext ist. Ich lese vor aus Hebräer 4,14-16:
Wir haben einen großen Hohepriester, der alle Himmel durchschritten hat: Es ist Jesus, der Sohn Gottes. Lasst uns also an dem Bekenntnis zu ihm festhalten!
Er ist kein Hohepriester, der nicht mit unseren Schwachheiten mitleiden könnte. Er wurde genau wie wir in jeder Hinsicht auf die Probe gestellt. Nur war er ohne Sünde.
Lasst uns also voller Zuversicht vor den Thron unseres gnädigen Gottes treten. So können wir Barmherzigkeit empfangen und Gnade finden. Und so werden wir zur rechten Zeit Hilfe bekommen.
Ganz oben steht der Aufruf: Lasst uns an dem Bekenntnis zu Jesus von Nazareth, dem Christus, festhalten.
Haltet fest! Es mag jetzt ein Phase sein, in der andere die Oberhand behalten; diejenigen, die sagen: Da ist kein Gott! Oder diejenigen, die sagen: Der Glaube der Christenheit gehört der Vergangenheit an. Oder diejenigen, die sich als Christen ausgeben, aber in Wirklichkeit nicht danach handeln.
Die sich einzelne Sätze aus der Bibel picken, zum Beispiel: „Wer nicht arbeitet, soll auch nichts essen“, und damit alles andere für nichtig erklären:
- die Mahnung der Propheten, die Schwachen zu schonen, ihnen gegenüber solidarisch zu sein,
- Jesu Hinwendung zu denen, die am Rande stehen,
- die Botschaft vom Weltgericht: „Ich war hungrig, und ihr habt mir zu essen gegeben, ich war durstig, und ihr habt mir zu trinken gegeben, ich war nackt, und ihr habt mich gekleidet, ich war gefangen / ich war krank, und ihr habt mich besucht“, und so weiter,
- Das Ideal einer solidarischen Urgemeinde, die alle Güter miteinander teilte.
- die mit ihren Erfolgen prahlen,
- die so tun, als wäre es nicht auch eine gehörige Portion Glück und Zufall, die sie dahin gebracht hat, wo sie jetzt stehen,
- die so tun, als sei es Gottes Fügung, dass niemand ihnen etwas anhaben kann.
Sie picken sich einen einzigen Satz aus der Bibel heraus und erklären mit ihm alles dieses, was ich eben aufgezählt haben, für ungültig.
Oder sie verdrehen den Sinn der biblischen Botschaft in ihr Gegenteil. Sie sagen, wenn ich meinen Nächsten lieben soll, dann sei damit nur der "Volksgenosse" gemeint. Gedanken kommen in Umlauf, die wir längst für überwunden gehalten haben. Und ausgerechnet mit solchen bösartigen Gedanken wollen Menschen, die sich Christen nennen, Jesu Gleichnis vom barmherzigen Samariter außer Kraft setzen. Das ist reine Boshaftigkeit, die lediglich im Gewande des Christentums daherkommt.
Solche Verdrehungen hören wir aus den lautstarken evangelikalen Kirchen in Amerika. Und es ist wohl nur eine Frage der Zeit, bis die ersten Evangelikalen in Deutschland denselben Unsinn erzählen.
Dem steht der Aufruf entgegen: Lasst uns an dem Bekenntnis zu Jesus von Nazareth, dem Christus, festhalten. Denn wer ist unser Mittler? Wir haben einen großen Hohepriester, der alle Himmel durchschritten hat: Es ist Jesus, der Sohn Gottes.
Wir sprechen hier nicht von einer menschlichen Lehre. Wir geben wieder, was Gott selbst durch seinen Sohn Jesus zu uns gesprochen hat. Unser Mittler, unser Hohepriester ist einer, der alle Himmel durchschritten hat. Aber eben nicht einer, der oben thront, wie die Milliardäre und Tech-Giganten und Oligarchen heute, die oben hoch über uns thronen,
Unser Hohepriester, unser Mittler ist ganz anders: Er ist kein Hohepriester, der nicht mit unseren Schwachheiten mitleiden könnte. Sondern unser Hohepriester leidet mit uns. Er ist ein Mitleidender, ein Mitleidsvoller, einer, der sich der Schwachen erbarmt.
„Im Namen unseres Gottes bitte ich Sie, Erbarmen mit den Menschen in unserem Land zu haben“, sagte Bischöfin Mariann E. Budde beim Gottesdienst nach der Amtseinführung von Donald Trump in der Nationalen Kathedrale in Washington, D.C.: „Im Namen unseres Gottes bitte ich Sie, Erbarmen mit den Menschen in unserem Land zu haben. Menschen, von denen viele jetzt Angst haben. Es gibt schwule, lesbische und transsexuelle Kinder in Familien von Demokraten, Republikanern und Unabhängigen, von denen einige um ihr Leben fürchten."
- Was sind Ihre wunden Punkte? Was sind Ihre Schwachstellen, an denen Sie sich anderen gegenüber angreifbar fühlen? Wo hat man Ihnen Verletzungen zugeführt? Wann haben Sie sich zuletzt zurückgezogen, weil andere Sie ausgegrenzt und verspottet habe, weil andere Sie nicht akzeptiert haben als die Person, die Sie nun einmal sind? -
Lasst uns an dem Bekenntnis zu dem festhalten, der nicht unsere wunden Punkte ausnutzt, der uns nicht ausgrenzt, sondern der mit unseren Schwachheiten mitleidet. Der Mitgefühl mit uns spürt, nicht nur spürt, sondern der dasselbe zu durchleben bereit ist, was wir durchleben. Einer der mit uns geht durch alle Schrecknisse, damit er uns wieder hineinholt in die Gemeinschaft derer, die im Reich Gottes gemeinsam zu Tisch sitzen und gemeinsam ein Gastmahl feiern werden, ein Gastmahl, das Gott für uns ausrichtet.
Ja, einer der mit uns geht – durch alle Schrecknisse. Er wurde genau wie wir in jeder Hinsicht auf die Probe gestellt. Ich sehe bei diesem Satz Jesus im Garten Gethsemane vor mir, wie ihn der Evangelist Lukas beschreibt. Jesus, der weiß, welches Elend ihm bevorsteht, sobald die Palastwache vom Tempel zu ihm kommt, um ihn festzusetzen.
Jesus riss sich an diesem Abend von seinen Jüngern los, geht etwa einen Steinwurf weiter weg, und kniete nieder, betete und sprach: Vater, willst du, so nimm diesen Kelch von mir; doch nicht mein, sondern dein Wille geschehe! Es erschien ihm aber ein Engel vom Himmel und stärkte ihn. Und er geriet in Todesangst und betete heftiger. Und sein Schweiß wurde wie Blutstropfen, die auf die Erde fielen.
Wir werden diese Passionserzählung in der Karwoche näher bedenken. Aber eins ist doch gewiss. Er war Gottes Sohn, der seinen höchsten Thron verlassen hat, er war der Hohepriester, der alle Himmel durchschritten hat und der sich nicht zu schade war, Mensch zu werden mit allen Schwächen, die wir kennen, der sich all unseren Versuchungen ausgesetzt hat – wie wir es ja gerade in der Evangeliumslesung gehört haben.
Er wurde wie wir, damit wir werden können wie er. Aber wir sind nicht wie er, betont der Autor des Hebräerbrief. Nur war er ohne Sünde. Dass er in allem, was er durchlitt, ohne Sünde blieb, das unterscheidet ihn von uns. Er war derjenige, der noch am Kreuz sagen konnte: „Herr, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“
Der Autor des Hebräerbriefs sagt damit mir, sagt dir, sagt zu jedem von uns: Du bist nicht der Christus. Du bist nicht Gottes Sohn. Du bist nicht Gott. Bleibe Mensch, damit du anderen Menschen ein Mensch bleiben kannst. Denn Gott wird Mensch, damit wir Menschen einander Menschen sein können. Gott zeigt Erbarmen, damit wir Erbarmen zeigen.
Lasst uns also an dem Bekenntnis zu ihm festhalten! Und lasst uns voller Zuversicht vor den Thron unseres gnädigen Gottes treten. So können wir Barmherzigkeit empfangen und Gnade finden. Und so werden wir zur rechten Zeit Hilfe bekommen.
Amen.
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