Du sollst!

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Du sollst!

# Predigt

Du sollst!

Liebe Gemeinde, und ganz besonders: Liebe Jubelkonfirmandinnen und -konfirmanden!

Ich bin nicht ganz alt genug, um mich in die Atmosphäre von damals zurückversetzen zu können, als Sie konfirmiert wurden. Am ehesten wäre das noch bei Ursula Trippel gegangen, die heute Goldene Konfirmation mit uns feiern wollte, und die nun leider erkrankt zuhause bleiben muss. Frau Trippel ist nur vier Jahre vor mir konfirmiert worden. 

Was man damals vorgepredigt bekam, hing sicherlich sehr vom Pfarrer ab, der damals auf der Kanzel stand. Und von den Zeitumständen. 

Ich weiß, dass uns Pfarrern immer wieder das Vorurteil entgegenschlägt, wir würden Moral und Anstand von der Kanzel herabpredigen. Ich glaube eigentlich nicht, dass ich das jemals getan hätte. Und ich bilde mir auch ein, dass das eigentlich auch andernorts nicht üblich ist. 

Und doch verbindet man mit der Kanzel das Wort „abkanzeln“. Man meint moralische Belehrung, wenn man etwas mit dem „Predigerton“ bezeichnet. Man sagt „Leviten lesen“, also aus dem Buch Levitikus vorlesen, wenn jemand einem eine Standpauke hält. 

Vielleicht kommt dieses Vorurteil tatsächlich aus früheren Zeiten, als strenge Pfarrer auf der Kanzeln strenge Sachen sagten, einen moralisch belehrten oder vorschreiben wollten, was man für richtig und für falsch zu halten hat. Ob es so war? Sie, die Jubilare, haben heute die Gelegenheit, mich über Ihre Jugenderfahrung mit Pfarrern aufzuklären. 

Die Leviten lesen, das will ich eigentlich gar nicht. Aber genau in diese Schiene lockt mich der heutige Predigttext. Er stammt tatsächlich aus dem Buch Levitikus, und ich könnte fast drauf wetten, dass von Ihnen niemand das Buch Levitikus, also das 3. Buch Mose, jemals von vorne bis hinten durchgelesen hätte. Es ist ein wenig unterhaltsames Buch. Es enthält keine einzige Geschichte. Da stehen nur Gebote, Verbote und Gesetze. Teils auch recht sonderbare Gebote, Verbote und Gesetze. 

Der heutige Predigttext stammt aus dem 19. Kapitel des 3. Buchs Mose. Es sind ausgewählte Verse. Und ich habe nicht vor, sie Ihnen am Stück vorzulesen, weil ich ja auch nicht will, dass Sie sich hier langweilen. 

Aber eines von ihnen mag ich Ihnen gleich zum Besten geben. Da steht: „Du sollst deinen Nächsten lieben, wie dich selbst“ – das Gebot, das Jesus zusammen mit dem Gebot der Gottesliebe zum wichtigsten Gebot überhaupt erklärt. 

Man könnte sagen: Dieses Gebot hebelt alle anderen Gebote aus, zumindest ihre religiöse Bedeutung. Denn einen Menschen lieben kann ich nur, wenn ich ihn freigebe. Wenn ich ihm zutraue, seinen Weg zu gehen. Wenn ich ihm seine Schwächen verzeihe und von ihm nur das Beste erhoffe. 

Menschen von oben herab zu erklären, wie sie zu leben oder nicht zu leben haben, gehört deshalb nicht zu unseren Aufgaben als Pfarrpersonen. Aber wenn man das so einem Juden oder einem Muslim erzählt, würden sie mit dem Kopf schütteln. Regeln, Gebote oder Verbote erlassen, das sei doch Kerngeschäft eines Rabbis oder eines Imams. Regeln, Gebote und Verbote machten doch überhaupt erst eine Religion aus. Und was keine Regeln, Gebote und Verbote hat, das könne auch keine Religion sein.  

Wenn mir so etwas entgegenschlägt, dann sage ich stolz: „Nach unserer Definition ist Religion etwas anderes. Aber wenn es so ist, wie du sagst, dann haben wir Protestanten eben keine Religion.“ Auch damit könnte ich gut leben; Hauptsache, ich lasse anderen den Freiraum, selbst zu denken, selbst abzuwägen, selbst zu entscheiden, selbst Verantwortung zu übernehmen. Hauptsache, ich halte an der Liebe und damit am Zutrauen fest. 

Und doch habe ich ein sehr positives Verhältnis zu, Gesetzen, Regeln und Verboten. Eine Welt ohne sie wäre Anarchie. In der Anarchie herrscht das Recht des Stärkeren, wir erleben es gerade an der Ostgrenze Europas. Anarchie bedeutet Unterdrückung, bedeutet Missachtung elementarer Bedürfnisse der anderen, der Schwächeren. 

Deswegen sind Gesetze gut und wichtig. Und deswegen verdanken wir denen, die das Gesetz durchsetzen, unseren gesellschaftlichen Frieden – jedenfalls da, wo sie überparteilich handeln im Sinne des Rechtsstaates: Richterinnen, Staatsanwälten, Rechtsanwälten, Polizistinnen. 

Wie übel Anarchie aussehen kann, lassen zwei Gebote aus dem 19. Kapitel des Buches Levitikus erahnen. Da heißt es: „Du sollst dem Tauben nicht fluchen und sollst vor den Blinden kein Hindernis legen.“ 

Stellen Sie sich das einmal vor: Menschen, die andere verfluchen, weil die es ja doch nicht hören können. Menschen, die anderen Stolperfallen stellen, weil sie sie nicht sehen können. Wo es solcher Regeln bedarf, da kennt die Niedertracht diese Grenze nicht, da war der Niedertracht zuvor noch keine Grenze gesetzt. 

Gesetze, Regeln und Verbote schützen die Schwächeren. Wenn Sie die Liste der Gebote und Gesetze im 19. Kapitel des Buches Levitikus querlesen, dann finden Sie noch einige mehr, die Schwächere schützen. Zum Beispiel:

Wenn du dein Land aberntest, sollst du nicht alles bis an die Ecken deines Feldes abschneiden, auch nicht Nachlese halten. Auch sollst du in deinem Weinberg nicht Nachlese halten noch die abgefallenen Beeren auflesen, sondern dem Armen und Fremdling sollst du es lassen; ich bin der Herr, euer Gott.

Vor einem grauen Haupt sollst du aufstehen und die Alten ehren und sollst dich fürchten vor deinem Gott; ich bin der Herr.

Wenn ein Fremdling bei euch wohnt in eurem Lande, den sollt ihr nicht bedrücken. Er soll bei euch wohnen wie ein Einheimischer unter euch, und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid auch Fremdlinge gewesen in Ägyptenland.

Regeln schützen auch die Kleinen. Wir haben gerade erlebt, dass wir da auch noch Gesetzeslücken hatten. Menschen berichten von sexualisierter Gewalt, die sie in Kirchen, in Schulen, in Sportvereinen erlitten haben. Schärfere Gesetze und Regeln sollen dem nun der Riegel vorschieben. 

Aber jede neue Regel, so gut und richtig sie sein mag, schafft auch wieder neue Probleme. Was wird aus dem Lehrer, dem ein falsches Wort über die Lippen kommt, was aus der Erzieherin, die einmal zu fest zupackt, und schon sind blaue Flecken am Ärmchen? Wie schnell wird ein Mensch in die Ecke gestellt, kommt die Abmahnung, und die betroffene Person sieht die eigene berufliche Existenz, verliert im Beruf ihre Unbedarftheit, ihre Trittsicherheit, fühlt sich unter Beobachtung. 

Die Vorstellung, alles lasse sich mit Regeln und Richtlinien zum Guten wenden, ist trügerisch. Stellen Sie sich vor: Jahrelang arbeiten Sie für eine Firma. Ihre Abteilung ist oft unterbesetzt. Sie halten durch, melden sich selten krank, übernehmen engagiert Aufgaben, die man Ihnen anvertraut. Und dann passiert Ihnen nach Jahren ein Regelverstoß. Es kommt zu Beschwerden. Es tut Ihnen schrecklich leid. Sie werden vom Dienst freigestellt. Es geht Ihnen schlecht. Sie sollen schriftlich Stellung beziehen. Sie kämpfen mit sich, gehen die Situation noch mal und noch mal durch und versuchen sich zu erklären, wie das passieren konnte. Sie schicken Ihre Stellungnahme ab. Und dann flattert Ihnen eine Abmahnung ins Haus, zusammen mit einer Seiten langen Begründung. Niemand hat mit Ihnen gesprochen. Niemand hat Sie gefragt, wie es Ihnen geht. Niemand hat mit Ihnen überlegt, wie aus Ihrem Regelverstoß zu lernen ist, was für Konsequenzen zu ziehen sind, wie er sich künftig vermeiden ließe. 

Formal ist alles richtig gelaufen, sind die Regeln richtig angewandt worden. Und ja, es hätte Ihnen nicht passieren dürfen. Aber dass man persönlich miteinander redet, ist das zu viel verlangt? 

Regeln bieten uns auch die Möglichkeit, uns voreinander zu verstecken, feige zu sein, vom Schreibtisch aus andere fertig zu machen. Regeln allein machen die Welt nicht besser. 

Viele von Ihnen blicken auf ein langes Leben zurück. Welche Regeln haben Sie verletzt? Wurden Sie zur Rede gestellt? Wie ging es Ihnen nach der Regelverletzung - und dann nach der Standpauke? Welche Regelverstöße haben Sie empört? Wie haben Sie darauf reagiert? Sind Sie eingeschritten? Ist es Ihnen gelungen, einen Modus zu finden, mit dem alle danach leben konnten?

Ob wir von guten Erfahrungen berichten können oder ob uns das eine oder andere peinlich in Erinnerung bleibt, hängt von vielem ab: 

  • Lassen wir Kritik an uns heran?
  • Gehen wir ehrlich mit uns ins Gericht? 
  • Stehen wir eine Zeit der Konfrontation durch?
  • Schaffen wir es, einen Weg miteinander auszuhandeln?
  • Kommen wir selbst wieder mit uns ins Reine?

Sie können bestimmt einige Geschichten dazu erzählen. Am Ende bleibt die Quintessenz, dass wir als Menschen aufeinander angewiesen sind, auf unser Wohlwollen, unsere Mitmenschlichkeit. 

Aber ob wir mit uns selbst wieder ins Reine kommen, hängt auch davon ab, was wir an Vergebung zulassen. Wer einen Fehler macht und mit den Geschädigten wirklich redet, wird immer wieder überrascht sein, wie vergebungsbereit wir Menschen doch sind. 

Vergebungsbereitschaft ist Großmut. Wenn wir miteinander reden, schenken wir einander die Gelegenheit, Großmütig zu sein. 

Von dieser Großmut handelt unser christlicher Glaube. Unser christlicher Glaube ermutigt uns anzunehmen, dass Vergebungsbereitschaft die Textur unseres Miteinanders ist. 

Der Weg dahin erscheint oft schwer. Wir verstecken uns aus Scham, drehen uns weg, meiden es, denen ins Gesicht zu sehen, denen wir hart zugespielt haben. 

Aber das ist nicht nötig. Vergebungsbereitschaft gehört zur Textur unseres Miteinanders. Die große Folie dafür, den großen Hintergrund für diese Sichtweise bietet unser Glaube an die Güte Gottes. 

Gott, der die Welt erschaffen hat, der in jeder Faser unseres Daseins mit uns ist, uns aufrichtet, und Mut macht, dieser Gott hat die Welt so sehr geliebt, dass er sich selbst nicht verschont hat. Er ist Mensch geworden, ist auf uns zugegangen, hat uns angesprochen, hat uns gesehen in unserem Kleinglauben, in unserer Mutlosigkeit, in unserer inneren Verhärtung. Und er hat uns vergeben. Er war sogar bereit, sein Leben für uns hinzugeben. 

Und wenn wir uns hier im Gottesdienst versammeln, dann machen wir uns keine gegenseitigen Vorhaltungen, und dann lese ich Ihnen auch nicht die Leviten. Sondern wir machen einander Mut, diesen Glauben an einen Gott anzunehmen, der uns tröstet, wie einen seine Mutter tröstet. Amen.

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