Der Sinn für Gerechtigkeit

Der Sinn für Gerechtigkeit

Der Sinn für Gerechtigkeit

# Predigt

Der Sinn für Gerechtigkeit

Liebe Gemeinde, und ganz besonders: liebe Tauffamilie! 

Kinder haben einen angeborenen Gerechtigkeitssinn. Es ist nicht so, dass Kinder als Einzelkämpfer zur Welt kommen. Es ist nicht so, dass Jeder gegen Jeden der Naturzustand der Welt sei. Es ist nicht so, dass von Anfang an alle sich selbst die nächsten sind, und die Menschheit sowieso ungerecht ist. Sondern Kinder werden mit einem Gerechtigkeitssinn geboren. 

Entwicklungspsychologische Studien mit Kindern im Vorschul- und im Schulalter haben ergeben, dass sich der Radius für den Gerechtigkeitssinn im Laufe der Zeit sogar noch erweitert. Erst haben Kinder nur das eine Kind im Blick, das mehr hat als sie. Sie möchten selbst auch mehr haben. Oder sie sehen, dass das andere Kind weniger hat als sie. Und es kommt durchaus vor, dass schon Vorschulkinder von sich aus die Ungerechtigkeit erkennen und abgeben können. Später fangen Kinder an, auch Gruppen mit mehreren zu überblicken: Wer hat am meisten? Wer hat am wenigsten? Und wie viel muss jede und jeder abgeben, damit alle gleich viel haben?

Ich habe mehrmals Gerechtigkeitsspiele mit 4. Klassen gespielt. Ich habe willkürlich Gummibärchentüten verteilt, an einige viel, an einige wenig, an die meisten gar nichts. In der Regel erlebe ich, dass in den Religionsklassen die Umverteilung sehr schnell und unproblematisch verläuft – nicht, weil es Religionsklassen sind, sondern weil die Kinder die ungerechte Verteilung als solche erkennen. Sondern weil sie sich zügig einig werden, wie das Problem zu lösen sei.

Aber ich habe das Spiel auch mit Klassen gespielt, in denen die Umverteilung schleppend verlief, weil einzelne Schüler sich dagegen sperrten – und zwar mit Sprüchen aus der Erwachsenenwelt: 

„Wer nichts hat, ist selber schuld“ – sagte mir ein Schüler, nachdem ich völlig die Gummibärchen völlig willkürlich verteilt hatte. 

„Wachen Sie auf, Herr Weitz“, hat mir allen Ernstes mal ein 11-Jähriger zugerufen: „Sie haben keine Ahnung vom Leben.“ 

Nein, ich behaupte weiterhin – und damit kann ich der entwicklungspsychologischen Forschung gut folgen: Kinder haben einen angeborenen Sinn für Gerechtigkeit. Denn auch meine Experimente in Grundschulklassen zu Verteilungsgerechtigkeit haben mir gezeigt: Störungen dieses Gerechtigkeitssinnes kamen, wenn sie kamen, allenfalls durch den schlechten Einfluss von Erwachsenen zustande. Und zwar erkennbar dadurch zustande. 

Wie viel doch verloren geht, wenn sich Eltern nicht von ihren Kindern zu anständigen Menschen erziehen lassen! 

Wie kommt es, dass wir Erwachsenen so sehr unseren ursprünglichen Instinkt verlieren? 

Natürlich ist der Begriff der Gerechtigkeit nicht ganz einfach. Es gibt ja nicht nur die Verteilungsgerechtigkeit, bei der alle am Ende gleich viel haben. Sondern wir haben auch einen Sinn dafür, dass jemand die Früchte seiner Arbeit genießen sollte. Fair und gerecht ist es ja auch, wenn jemand einen fairen Lohn für seine Arbeit bekommt. Fair ist es, wenn Wohlverhalten belohnt wird – und böses Tun bestraft, um Schaden von anderen abzuwenden. 

Und oft geht das dann alles durcheinander. Wir können nicht genau unterscheiden: Ist jetzt jemand arm, weil er wenig geleistet hat und deshalb selbst schuld an seiner Armut ist? Oder weil er sich betrügerisch verhalten und somit sich sein Unheil selbst verschuldet hat?

Oder liegt es daran, dass andere ihm den fairen Anteil am Leben verwehrt haben? Wir können es nicht trennscharf unterscheiden. Und ich behaupte: In der schnellen Begegnung geben wir uns gern mit den einfachsten Antworten zufrieden – mit Antworten, die auf unseren eigentlichen Instinkt, dass es in der Welt doch eigentlich gerecht zugehen muss, beruhigend wirken: Der muss doch irgendwas ausgefressen haben! Die ist bestimmt faul oder nicht so clever! Irgendwie muss diese Person doch etwas falsch gemacht haben, sonst wäre sie nicht auf diesen falschen Weg geraten!

Die Bibel erzählt die Geschichte von einem, der nichts falsch macht. Er macht alles richtig. Er ist fleißig und erwirtschaftet großen Reichtum. Er ist fair und gottesfürchtig, und auch das zahlt sich für ihn aus. 

Der Mann heißt Hiob. Und es liegt nicht an ihm, sondern an einem verhängnisvollen Pakt zwischen Gott und dem Teufel, dass ihn das Unglück trifft. Ein schlechte Botschaft nach der anderen erreicht ihn – Hiobsbotschaften, sagen wir: 

An mehreren Orten fallen räuberische Feinde ein und stehlen die Rinder und erschlagen die Knechte. 

An einem anderen Ort fällt Feuer vom Himmel und vernichtet Schafe und Dienstpersonal. 

Ein Wüstensturm zerstört das Haus, in dem seine Kinder gerade tafeln; sie alle fallen dem Unglück zum Opfer. 

Höhere Gewalt raubt Hiob seinen ganzen Besitz.

Und schließlich schlägt ihn der Teufel mit Geschwüren von der Sohle bis zum Scheitel. Hiob hat das nicht verdient, das ist unfair, und alle Erklärungsversuche seiner Freunde, warum vielleicht doch eine verborgene Sünde dieses Unheil heraufbeschworen haben könnte, gehen ins Leere.  

Hiob wird ungerecht behandelt, und er klagt Gott an; er widerspricht dem, der doch immer Gutes mit Gutem belohnen und Böses mit Bösem ahnden sollte. Und ich lese aus dem 23. Kapitel des Hiobbuches, da sagt Hiob: 

Auch heut bleib ich beim Widerspruch, das ist der ganze Inhalt meiner Klage. Und seufze ich, liegt es an Gottes Hand, die mich noch immer niederdrückt. 

Ach, wenn ich doch nur wüsste, wo ich ihn finde. Dann ging ich hin zu seinem Richterthron. Ich würde meinen Rechtsfall vor ihn bringen und ihm die Gründe nennen, die mich entlasten. 

Dann wird er mir Rede und Antwort stehen. Ich möchte verstehen, was er mir zu sagen hat. Ob er mich dann mit Gewalt in die Schranken weist? Nein! Er wird bestimmt Rücksicht auf mich nehmen. 

Dann kann ich offen und ehrlich mit ihm streiten und dort mein Recht für immer durchsetzen. 

Doch wenn ich nach Osten gehe, ist Gott nicht da. Auch im Westen kann ich ihn nicht finden. Im Norden bekomme ich ihn nicht zu fassen, und auch im Süden seh’ ich ihn nicht. 

Hiob klagt sein Leid, er klagt Gott an, denn niemand sonst ist für sein Elend verantwortlich, als die schicksalswaltende Macht. Hiobs Elend liegt allein in Gottes Hand. Und was Hiob trifft, ist einfach ungerecht.

Es müsste ihn desillusionieren. Hiob müsste daraus lernen: Es geht im Leben eben nicht gerecht zu. Hiob könnte daraus lernen: Wenn es schon nicht gerecht im Leben zugeht, dann könnte doch auch jede und jeder auf Gerechtigkeit pfeifen. Dann könnte jede und jeder sich nehmen, was sie oder er vom Kuchen abbekommt. Sollen die anderen doch sehen, wo sie bleiben!

 

Das Leben hat Hiob gelehrt, dass sein ursprünglicher Gerechtigkeitssinn eine Illusion ist. Und Hiob könnte jetzt sagen: „Wachen Sie auf, Herr Weitz! Sie haben keine Ahnung vom Leben.“

Aber er sagt es nicht, sondern er hält an seinem ursprünglichen Gerechtigkeitssinn fest, auch wenn er erkennt, dass er für ihn nicht aufgeht. Auch wenn er zugeben muss, dass selbst dem Allmächtigen, der ihm so übel zugespielt hat, die Willkür nicht fremd ist. 

Hiob sagt: 

Gott kennt den Weg, auf dem ich bin. Wenn er mich prüft, so bin ich rein wie Gold. Denn ich lenkte meine Schritte in seine Richtung. Ich blieb auf seinem Weg und bog nicht davon ab. Seine Gebote las ich ihm von den Lippen ab. Und alle seine Worte bewahrte ich im Herzen.

Hat er etwas beschlossen, kann’s keiner verhindern. Hat er sich dafür entschieden, führt er es aus. Auch mit mir tut er, was er sich vorgenommen. Und vieles mehr hat er noch im Sinn.

Darum erschrecke ich vor seinem Angesicht. Wenn ich nur daran denke, macht es mir Angst. Gott hat mir alle Zuversicht genommen, der Allmächtige hat mich in Schrecken versetzt. Doch die Finsternis reicht nicht aus, um mich zum Schweigen zu bringen. Auch wenn vor mir alles im Dunkeln liegt, hält mich das nicht zurück.

 

Hiob hält an der Gerechtigkeit fest. Er lässt sich nicht desillusionieren. Er wird kein Zyniker. 

Wie gehen Sie mit der Erfahrung der Ungerechtigkeit um – und zwar der Erfahrung, dass es in der Welt sehr ungerecht zugehen kann, und dass Sie dafür niemanden außer Gott dafür verantwortlich machen können?

In der entwicklungspsychologischen Forschung spricht man von Resilienz. Kinder können sich trotz aller erlebten Ungerechtigkeit einen Gerechtigkeitssinn bewahren.  

Aber das Wort „Resilienz“ ist ja keine Erklärung, wie ich mir meinen Gerechtigkeitssinn bewahren kann; was ich dafür tun kann. Sondern es ist nur ein Wort, das den Sachverhalt beschreibt; das besagt: Es ist nun einmal so. Und die Frage bleibt offen: Wie bewahren wir uns unseren Gerechtigkeitssinn? Wie können wir diese Resilienz kultivieren?

Ich glaube, dass diese Frage den Kern unseres christlichen Glaubens berührt. Wir sagen: Gott hat uns gut geschaffen. Doch irgendwo ist uns dieses Gute, das Gott geschaffen hat, verloren gegangen. Aber wir finden das Gute wieder, und zwar in dem Christus, der lieber Böses erleidet, als Böses tut. Wir finden es wieder in dem Christus, der trotz allem Bösen, das er erleidet, nie den Sinn für das Gute verliert: und zwar für das Gute, das Menschen heilt, das Menschen einen Weg weist, das Menschen wieder hoffen lässt.  

Als wir eben Yva getauft haben, habt ihr gesagt, dass ihr diesen Weg mit Yva gehen wollt. Dass ihr mit Yva dieses Gute in Christus erkennen und erkunden wollt. Dass ihr gemeinsam diese Resilienz in Yva stärken wollt, indem ihr Yva Anteil nehmen lassen wollt, an diesem Guten, das wir in Jesus Christus wiedererkennen.

Der Schöpfer aller Dinge, der sich uns in diesem Jesus von Nazareth, in diesem Christus gezeigt hat, der uns mit Christus durch seinen Geist verbindet, helfe euch dabei:

Er schütze und bewahre euch vor allem Bösen, er sei euch eine Stärke und Kraft zu allem Guten, dass ihr bewahrt bleibt im Glauben. Amen

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