Der schmale Weg zum Leben

Der schmale Weg zum Leben

Der schmale Weg zum Leben

# Predigt

Der schmale Weg zum Leben

Liebe Gemeinde, 

der Psalm, den wir heute ganz am Anfang des Gottesdienstes gemeinsam gesprochen haben, ist heute auch der Predigttext, und wenn Sie mögen, können Sie ihn im Gesangbuch unter der Nr. 735 in den blauen Ergänzungsheften zum Gesangbuch unter der Nr. 78 aufschlagen und während der Predigt mitverfolgen. Denn ich möchte heute in der Predigt diesen Psalm mit Ihnen bedenken. 

Bei Ihnen im Gesangbuch beginnt der Psalm mit den Worten: Herr, du bist unsre Zuflucht für und für.

Aber in der Bibel geht dem noch eine Anmerkung voraus: Ein Gebet des Mose, des Mannes Gottes.  Die Bibel schreibt diesen Psalm Mose zu. Er ist ein Sterbepsalm, also soll Mose diesen Psalm wohl als Sterbender gesprochen haben. 

Mose ist der bedeutendsten Propheten, Gesetzgeber und Staatsmann der Bibel. Er führt das Volk Israel aus der Sklaverei in Ägypten heraus; er teilt das Wasser, so dass das Volk Israel vor seinen Verfolgern entkommen kann. Er führt das Volk in die Freiheit, aber auch in die Unsicherheit der Wüste. Er überreicht ihm die göttlichen Gebote und erlässt während der 40-jährigen Wüstenwanderung eine Vielzahl von Regeln und Gesetzen. Er ist der Richter Israels, der alle internen Streitigkeiten regelt. Er führt das Volk bis an den Rand des Gelobten Landes. 

Aber dann geht sein Leben dem Ende entgegen. Und Mose darf das gelobte Land nicht betreten. Er darf es vom Berg Nebo aus der Ferne betrachten. Aber dann muss er sterben. Die Sklavengeneration soll ausgestorben sein; ein freies Volk soll das verheißene Land besiedeln, so hat es mir kürzlich eine Jüdin erklärt, als wir im Pfarrgarten saßen und uns das jüdische Erntedankfest Sukkot erklären ließen. Auch Mose gehört zur Sklavengeneration; auch für ihn gibt es keine Ausnahme. Für ihn dürfte das bitter sein. 

Mose muss also sterben. Er sieht dem Tod ins Auge. Und dann spricht er diesen Psalm, so sagt es die Überlieferung. Mose geht auf den Tod zu. Er mag viel erreicht haben im Leben. Aber er sieht sich als einen Unvollendeten. Er hatte doch noch so vieles vorgehabt, hätte so gern sein großes Werk vollendet. Und nun, mitten auf dem Weg, endet sein Leben.  

Mose eröffnet seinen Psalm mit einem Bekenntnis: „Herr, du bist unsre Zuflucht für und für.“

Mose bekennt sich zu dem, bei dem er seine Zuflucht sucht. Mose ist wie diejenigen unter uns, die mit vertrauten Gebeten und Liedern die Angst und die Not zu vertreiben versuchen, die vertraute Lieder singen, zum Beispiel:

„Die Nacht ist vorgedrungen, der Tag ist nicht mehr fern. So sei nun Lob gesungen dem hellen Morgenstern! Auch wer zur Nacht geweinet, der stimme froh mit ein. Der Morgenstern bescheinet auch deine Angst und Pein.“

Oder die einen vertrauten Psalm hören wollen: 

„Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. Er weidet mich auf einer grünen Aue und führt mich zum frischen Wasser.“

Oder die ein vertrautes Gebet sprechen möchten, das Vaterunser. Manch ein Sterbender wünscht sich einen letzten Segen, damit er abtreten kann. 

Einige von Ihnen haben die Erfahrung gemacht, wie heilsam ein Gebet, ein Bekenntnis, ein Segen für einen Sterbenden sein kann. Wie sie danach loslassen und abtreten können. Mose schickt seinem Psalm ein Bekenntnis voraus. „Herr, du bist unsre Zuflucht für und für.“

Denn er steht vor der schmalen Pforte des Todes, und er weiß: Dahinter tut sich etwas Großes auf, Gottes Ewigkeit. Sie ist größer als alles, was er sich jemals hätte vorstellen können. Sie ängstigt ihn. Er muss das vertraute Leben verlassen. Er muss alles, was er besitzt, alles, was er sich erarbeitet hat, jede menschliche Beziehung, die ihn durchs Leben begleitet hat, hinter sich lassen. Und er weiß, dass hinter der schmalen Pforte des Todes diese Ewigkeit beginnt, die er sich nun ins Gedächtnis ruft: 

„Ehe denn die Berge wurden und die Erde und die Welt geschaffen wurden, bist du, Gott, von Ewigkeit zu Ewigkeit.
Tausend Jahre sind vor dir wie der Tag, der gestern vergangen ist, und wie eine Nachtwache.“ 

Martin Luther hatte ein etwas tröstlicheren Blick auf das, was uns hinter der engen Pforte des Todes erwartet. Er nannte diese Porte einen „schmalen Pfad zum Leben“ – und sagte: „darauf muss sich jeder fröhlich wagen. Denn er ist wohl sehr enge, aber er ist nicht lang; es geht hier zu, wie wenn ein Kind aus der kleinen Wohnung in seiner Mutter Leib mit Gefahr und Ängsten hineingeboren wird in diesen weiten Raum von Himmel und Erde, d.h. auf diese Welt: ebenso geht der Mensch durch die enge Pforte des Todes aus diesem Leben.  Und obwohl der Himmel und die Welt, worin wir jetzt leben, für groß und weit angesehen wird, so ist es doch alles gegenüber dem zukünftigen Himmel viel enger und kleiner als es der Mutter Leib gegenüber diesem Himmel ist.“

Das ist ein schönes Bild. Aber können wir „uns fröhlich darauf wagen“, uns auf diesen schmalen Weg des Lebens zu begeben?

Mose scheint sich schwer damit zu tun. Ihn überkommt eine depressive Stimmung, ihn überkommt das Gefühl der Bedeutungslosigkeit. Ihn beherrschen dunkle Gedanken, ein Gefühl der Vergeblichkeit und Sinnlosigkeit des eigenen Tuns. Er sagt: 

„Der du die Menschen lässest sterben 
und sprichst: Kommt wieder, Menschenkinder! 
Du lässt sie dahinfahren wie einen Strom, 
sie sind wie ein Schlaf, wie ein Gras,
das am Morgen noch sprosst, 
das am Morgen blüht und sprosst 
und des Abends welkt und verdorrt.“ 

Manche von Ihnen, die im vergangenen Jahr einen lieben Menschen verloren, haben am Bett Ihrer Liebsten gewacht, tagelang, manche wochenlang. Natürlich wünschten Sie sich noch eine Spanne Leben, noch etwas mehr Zeit. Aber gleichzeitig haben viele von Ihnen auch gehofft, dass Ihre Lieben den Schritt schaffen und sich fallen lassen in den Tod. 

Wir Menschen hängen am Leben, mit jedem Atemzug. Und der Schritt durch die enge Pforte des Todes ist beängstigend. Wir wissen nicht, was dahinter auf uns zukommt. Und dann drängen sich andere Gedanken in den Vordergrund. 

Manche von Ihnen hat der Verlust Ihres Partners sehr plötzlich getroffen – eine schwere Erkrankung aus heiterem Himmel, plötzlich war sie da, und auf einmal ist alles anders, ist jede Sicherheit verloren, hofft man auf eine günstige Diagnose, und irgendwann hofft man nur noch auf ein gutes Ende. 

Oder plötzlich kommt die Nachricht aus dem Krankenhaus: Ihre Angehörige ist klinisch tot. Wir konnten nichts mehr machen. Und Sie stehen vor vollendeten Tatsachen und fragen sich: Warum?

Oder Ihr Lebenspartner hat selbst beschlossen, aus dem Leben zu scheiden – und er lässt Sie nun mit lauter Fragen zurück: Hätte ich Signale erspüren müssen? Hätte ich noch etwas tun können? 

War einem gerade noch das Schicksal günstig gesonnen, kommt es einem nun hart vor, wie eine Strafe:
„Das macht dein Zorn, dass wir so vergehen, 
und dein Grimm, dass wir so plötzlich dahinmüssen. 
Denn unsre Missetaten stellst du vor dich, 
unsre unerkannte Sünde ins Licht vor deinem Angesicht.“  

Andere mag das Gefühl beschleichen, etwas verpasst zu haben, nicht so gelebt zu haben, wie sie es sich gewünscht hätten,  an den eigenen Möglichkeiten vorbeigelebt zu haben. 

Auch das bringt Mose in seinem Psalm zum Ausdruck:Darum fahren alle unsre Tage dahin durch deinen Zorn, 
wir bringen unsre Jahre zu wie ein Geschwätz. 
Unser Leben währet siebzig Jahre, 
und wenn’s hoch kommt, so sind’s achtzig Jahre, 
und was daran köstlich scheint, ist doch nur vergebliche Mühe; 
denn es fähret schnell dahin, als flögen wir davon.  

Unsere Tage fahren dahin, und im Rückblick erscheint alles so viel kürzer und vergänglicher, als es zu Lebzeiten war, damals, als wir noch mitten im Leben standen. Aber, nein, wir verbringen unsere Tag nicht wie ein Geschwätz. Das wird spätestens dann deutlich, wenn wir, die Hinterbliebenen, uns im Trauergespräch zurückerinnern: Was haben wir alles zusammen erlebt? Und wie vieles ist doch geschehen, wofür wir dankbar sein können! Wende deinen Blick dem Positiven zu, lass dich nicht vom Pessimismus, vom negativen Blick leiten! 

Gegen Ende seines Psalms, wendet sich Mose wieder den Lebenden zu. Er wünscht ihnen, dass wenigstens sie aus dem Sterben lernen und es besser machen als er selbst. Es ist der ewige Wunsch, der uns seit Menschengedenken überfällt, wenn wir an der Grenze des Lebens stehen und über Versäumtes nachdenken. Mose fragt sich im Psalm etwas pessimistisch: 
„Wer glaubt’s aber, dass du so sehr zürnest, 
und wer fürchtet sich vor dir in deinem Grimm? 
Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, 
auf dass wir klug werden.“ 

Der Psalm endet mit einer Bitte, und mit einem völligen Stimmungswechsel. 

Manche von Ihnen, die Ihre Lieben beim Sterben begleiten durften, haben erlebt, dass Ihre Lieben versöhnt mit dem Leben starben. Manchen war es vergönnt, alt und lebenssatt zu sterben. 

Andere erlebten zum Schluss eine Art Aussöhnung, dass Ihre Lieben plötzlich loslassen und gehen konnten. 

Was wir als Hinterbliebene aber alle versuchen ist, dass wir nicht bei der Trauer stehenbleiben, sondern uns wieder den Lebendenden zuwenden können, dass wir neue Aufgaben ergreifen, dass Neues in die Lücke in unserem Alltag tritt, die der Tod unseres geliebten Menschen gerissen hat. Und dass wir uns irgendwie aussöhnen können mit seinem oder ihrem Tod. 

Und so erkläre ich mir auch den Stimmungswechsel am Ende des Psalms. Der Psalmensänger wendet sich wieder den Lebenden zu. Er erbittet Gnade, dass auch unser Werk gelingen möge:
HERR, kehre dich doch endlich wieder zu uns 
und sei deinen Knechten gnädig! 
Fülle uns frühe mit deiner Gnade, 
so wollen wir rühmen und fröhlich sein unser Leben lang.

Ich glaube, dass wir, die wir uns von unseren Toten verabschieden mussten, verändert in unseren Alltag zurückkehren. Für manche von Ihnen war der Tod ein Schock; es war das erste Mal, dass Sie jemanden verloren: der Tod des Vaters oder der Mutter. 

Für andere war es der Verlust, der Ihnen von allen Verlusten bisher am schwersten fiel. Der Verlust des Lebenspartners, der Verlust eines eigenen Kindes. 

Manche von Ihnen haben sich schon von mehreren lieben, nahen Verwandten verabschieden müssen. Erst von dem einen, dann von dem anderen Elternteil. 

Und doch gehen wir alle ein Stück verwandelt weiter durchs Leben. Vielleicht nicht klüger, aber doch geprägt – manchmal mit einer Wunde oder einer Narbe, die gar nicht so schnell heilen will. 

„Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf das wir klug werden.“ Wie geht das, wie können wir klug werden. 

Ein bisschen klug macht uns die Wunde, die schmerzvolle Erinnerung. Sie hält den Gedanken an unsere Endlichkeit in uns wach, dass unsere Zeit befristet ist – und wir sie nutzen. 

Klug macht uns auch die Erfahrung, dass wir unser Leben eben nicht als unseres Glückes Schmied in den Händen halten. Sondern dass ein Größerer unser Leben in seinen Händen hält. 

Vielleicht hilft es, wenn wir positive Bilder in uns ausbilden, so wie es Martin Luther in seinem Sermon von der Bereitung zum Sterben getan hat, als er die enge Pforte des Todes umbenannt hat in einen „schmalen Pfad zum Leben“ – und sagte: „darauf muss sich jeder fröhlich wagen. Denn er ist wohl sehr enge, aber er ist nicht lang; es geht hier zu, wie wenn ein Kind aus der kleinen Wohnung in seiner Mutter Leib mit Gefahr und Ängsten hineingeboren wird in diesen weiten Raum von Himmel und Erde, d.h. auf diese Welt: ebenso geht der Mensch durch die enge Pforte des Todes aus diesem Leben.  Und obwohl der Himmel und die Welt, worin wir jetzt leben, für groß und weit angesehen wird, so ist es doch alles gegenüber dem zukünftigen Himmel viel enger und kleiner als es der Mutter Leib gegenüber diesem Himmel ist.“ 

Aber selbst wenn das alles wenig hilft:
Du hast einen, der mit dir geht.
Der’s Leben kennt, der dich versteht,
der dich zu allen Zeiten kann geleiten,
der auch im Schweren zu dir steht.

Wir nennen ihn den Herren Christ,
der durch den Tod gegangen ist;
er will durch Leid und Freuden
dich geleiten.
Er möchte, dass er auch mit dir geht.
Amen.

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