Das Wichtigste an der Religion...

Das Wichtigste an der Religion...

Das Wichtigste an der Religion...

# Predigt

Das Wichtigste an der Religion...

Liebe Gemeinde, und ganz besonders: 

Liebe Jubelkonfirmandinnen und -konfirmanden!

Was ist für Sie das Wichtigste am christlichen Glauben? Vielleicht sagen Sie: die Liebe! Dass wir Gott und unsere Mitmenschen lieben. Nicht emotional oder romantisch lieben, wie Liebespaare einander lieben. Sondern praktisch: dass wir einander helfen und füreinander da sind, wenn es nottut. 

Der Predigttext für den heutigen Sonntag handelt genau davon. Jesus ist im Tempel in Jerusalem und unterhält sich mit einigen Leuten – unter anderem über genau diese Frage: Was ist das Wichtigste an meiner Religion? 

Jesus unterhält sich auch mit anderen Leuten über andere Dinge, zum Beispiel redet er mit Sadduzäern. Das waren Menschen, die damals – als der jüdische Tempel in Jerusalem noch stand – auf die Frage nach dem Wichtigsten an ihrer Religion gesagt hätten: „Der Tempel, und dass wir dort unsere Opfer darbringen.“ So wie heute manche Leute sagen würden: Das Wichtigste am Christentum ist, dass man sonntags zur Kirche geht. 

Der Tempel in Jerusalem wurde wenige Jahrzehnte, nachdem Jesu dort gewesen war, zerstört. Das war schlimm. Aber stellen Sie sich einmal vor, in einem Land würden alle christlichen Kirchen zerstört werden. Würden Sie dann sagen: Damit ist das Christentum in diesem Land tot?  

Ich würde es nicht sagen. Denn es wird immer Leute geben, für die das Wichtigste am Christentum die Liebe ist. Sie würden an der Liebe festhalten, und damit wohl auch am Christentum. Und vielleicht würden sie deshalb eines Tages auch wieder Kirchen in diesem Land bauen. In einigen Ländern haben wir es ja schon erlebt, dass das Christentum totgesagt wurde. Und dann lebte es doch dort weiter. 

Unser Predigttext erzählt von einem Schriftgelehrten, der zu Jesus kommt und sich mit ihm unterhält: von einem Tora-treuen Juden, Er unterhält sich mit Jesus im Jerusalemer Tempel genau darüber: Was wohl für ihn das Wichtigste an seiner Religion sei. Und davon erzählt der Predigttext. Ich lese ihn vor. Der steht im 12. Kapitel des Markusevangeliums: 

Ein Schriftgelehrter war dazugekommen und hatte die vorigen Auseinandersetzungen mit angehört. Als er merkte, wie treffend Jesus den Sadduzäern geantwortet hatte, fragte er ihn: »Welches Gebot ist das wichtigste von allen?« 

Jesus antwortete: »Das wichtigste Gebot ist dieses: Höre, Israel: Der Herr ist unser Gott, der Herr allein! Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen, mit deiner ganzen Seele, mit deinem ganzen Denken und mit deiner ganzen Kraft. Und als Zweites kommt dieses dazu: Liebe deinen Mitmenschen wie dich selbst. Kein anderes Gebot ist wichtiger als diese beiden.«

Da antwortete der Schriftgelehrte: »Ja, Lehrer, du sagst die Wahrheit: Einer ist Gott, und es gibt keinen anderen Gott außer ihm. Ihn zu lieben mit ganzem Herzen, mit ganzem Verstand und mit ganzer Kraft – und seinen Mitmenschen zu lieben wie sich selbst, das ist viel wichtiger als alle Brandopfer und anderen Opfer.«

Als Jesus merkte, mit wie viel Einsicht der Schriftgelehrte geantwortet hatte, sagte er zu ihm: »Du bist nicht weit weg vom Reich Gottes.«

Zwei Dinge gefallen mir an diesem Predigttext:

Das erste: Da lobt Jesus einen Schriftgelehrten. Und beide sind einer Meinung: Jesus, der den Weg für das Christentum bereitete, und der Mann, der das Tora-treue Judentum repräsentiert. Sie beide stimmen zu, dass die Liebe das höchste Gebot sei, die Liebe zu Gott und dem Nächsten. Sie müssen sich über das Wichtigste an ihrem Glauben nicht streiten. Sie müssen sich nicht gegenseitig verdammen und verfluchen. Im Gegenteil: Wenn es um das Wichtigste an ihrer Religion geht, dann können auch heute noch Menschen christlichen und jüdischen Glaubens sehr schnell einig werden.  

Wie viel angemessener wäre es gewesen, wenn unsere christlichen Vorfahren genauer auf biblische Verse wie diese geachtet hätten – und wenn sie deshalb antisemitische Falschbehauptungen über Juden nicht einfach so achselzuckend hingenommen hätten. Zum Beispiel diese antisemitische Falschbehauptungen: Dass der christliche Gott ein Gott der Liebe sei, und der jüdische Gott angeblich ein zorniger, rachsüchtiger Gott. Denn das stimmt nicht. 

Vielleicht hätten unsere Vorfahren, wenn sie diese falschen Behauptungen von vornherein durchschaut und ihnen widersprochen hätten, nicht so große Schuld auf sich geladen. Vielleicht hätten sie nicht weggesehen – und schon gar nicht mitgemacht, als ihre jüdischen Nachbarn erst verspottet und dann verhöhnt, entrechtet, entmenschlicht und vertrieben oder ermordet wurden. 

Sie hätten ihren Mitmenschen helfen und sie in Schutz nehmen müssen. Sie hätten wissen können: Das Wichtigste an unser beider Religionen ist doch, dass wir lieben und eben nicht verachten! 

Das zweite, was mir an dieser Geschichte gefällt, ist der letzte Satz, den Jesus sagt: „Du bist nicht weit weg vom Reich Gottes.“

Denn es lohnt sich, darüber nachzudenken, was es heißt: Jemand ist nicht weit weg vom Reich Gottes: 

Wo bin ich, wenn ich nahe am Reich Gottes bin.  

Als Sie, die Jubilarinnen und Jubilare, vor 50, 60 oder mehr Jahren bei Ihrer Konfirmation Ihr Taufversprechen bekräftigt haben, da wurde Ihnen ein Konfirmationsspruch mit auf den Weg gegeben. Manche von Ihnen haben sich diesen Spruch auch selbst ausgesucht. 

Diese Konfirmationssprüche bringen bei einigen von Ihnen vielleicht etwas zum Ausdruck, das Sie sich damals vorgenommen haben für Ihr Leben. Der Spruch kann für Sie wie ein Kompass gewesen sein: ein Kompass, dessen Nadel auf das Wesentliche im Leben deutet; auf das, worauf es ankommt, wohin idealerweise die Lebensreise gehen soll: in Richtung auf das Reich Gottes. Das Reich Gottes ist ja nicht unbedingt etwas Jenseitiges. Sondern es ist der Ort, an dem nicht wir herrschen, sondern an dem wir unser Wollen, unser Ich-Streben zurückstecken und wir Gott Raum geben für das, was Gott will. 

Jeder und jede von Ihnen kann sich mit diesem Gedanken noch einmal den eigenen Konfirmationsspruch anschauen: Wie habe ich damals über das Leben gedacht? Und was kam mir als das Wichtigste im Leben vor, als das Wesentliche, als mir der Konfirmationsspruch zugewiesen wurde, bzw. als ich ihn selbst ausgewählt habe?

Ich sage das, weil Sie alle wunderbare, schöne und weise Sprüche haben. 

Wenn Ihr Spruch nun lautet: „Gott gebe dir viel Barmherzigkeit, Frieden und Liebe“ – dann bringen Ihr Konfirmationsspruch zum Ausdruck: Barmherzigkeit, Frieden und Liebe kommen von Gott. Wann immer Sie in Ihrem Leben Barmherzigkeit, Frieden bzw. Liebe gespürt haben, kamen Sie demnach Gottes Reich nahe. 

Wenn Ihr Spruch lautet: „Der Gott der Hoffnung erfülle euch mit aller Freude und Frieden im Glauben“, dann sagen Sie damit: Hoffnung, Freude und Frieden im Glauben kommen von Gott. Und wann immer diese Hoffnung Sie erfüllt hat, kamen Sie Gottes Reich nahe. 

Wenn Ihr Spruch lautet: „Bekennt einander eure Sünden und betet füreinander“, dann sagen Sie: Wahrhaftigkeit und, dass man füreinander einsteht und betet – das kommt von Gott. Und wenn Sie diese Wahrhaftigkeit, und dieses Gefühl, für jemand anderes einstehen zu wollen, gespürt haben, waren Sie Gottes Reich nahe. Sie waren dem Reich nahe, in dem Gott herrscht und Sie Ihr Wollen und Streben zurückstellen. 

In der Wochenzeitung „Die Zeit“ gab es lange eine Rubrik, die überschrieben war mit: „Was mein Leben reicher macht.“ Gesammelt wurden dort Leserzuschriften. Und bezeichnenderweise berichteten die Leserinnen und Leser in diesen Zuschriften nie von Dingen, die einen materiellen, mit Geld messbaren Wert haben. Sie erzählten immer von Geschenken, von netten Gewohnheiten der anderen, von zufälligen Begegnungen oder Beobachtungen oder beiläufigen Berührungen, die sie glücklich machen oder gemacht haben. 

Was das Leben reich macht, das sind offenbar auch nicht nur Dinge, die sich in schönen und harmonischen Situationen ereignen. Die Leserinnen und Leser erzählen auch von einer Aussöhnung in einer schwierigen Situation; von einem Kontakt, der sich trotz schwerem Zerwürfnis erhalten und wieder erneuert hat; von einer Selbstlosigkeit von jemandem, dem man Unrecht getan hat und der es einem nicht anrechnet. 

Was macht Ihr Leben reich? Ich bin mir sicher, dass Sie vieles finden, gerade wenn Sie gnädig auf Ihr Leben zurückblicken. Und ich bin mir sicher, dass es sich in weiten Teilen mit dem überschneidet, was Jesus meinte, als er zu dem Schriftgelehrten sagte: »Du bist nicht weit weg vom Reich Gottes.«

Ich möchte Ihnen das heute an Ihrem Jubiläum mitgeben: Dass Sie das Reich Gottes nicht nur als etwas Jenseitiges verstehen. Sondern dass Sie bestimmt auch mitten im Leben oft nahe dran waren an diesem Reich Gottes, also an dem Reich, in dem es gar nicht so sehr um das geht, was einen materiellen Wert hat oder was Sie sich selbst verdient haben, sondern vielmehr um etwas, das Ihnen zukommt, das Ihnen geschenkt wird: ein Augenblick, eine Freundlichkeit, eine Zärtlichkeit, eine plötzliche und unerwartete Übereinstimmung.

Michael Brück, der so lange in dieser Gemeinde gewirkt und diese Gemeinde als Mitglied des Kirchenvorstandes geprägt hat, hat diesem Gedanken mit einem Vers des Apostels Paulus Ausdruck gegeben. 

In einem der schwächsten Momente in seinem Leben erfährt der Apostel Paulus genau dieses, dass ihm etwas geschenkt wird. Dass ihm etwas zukommt, was er sich nicht selbst zuschreiben kann. „Lass dir an meiner Gnade genügen“, hört er Gott sagen: „denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.“ 

Amen.

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