Lebensbilanz

Lebensbilanz

Lebensbilanz

# Predigt

Lebensbilanz

Liebe Gemeinde, 

zu meinen Aufgaben als Pfarrer zählen Bestattungen. Ich rede immer vorab mit den Angehörigen. Sie erzählen mir von einem Menschen, der mir in den meisten Fällen nie begegnet ist. Ich stelle Fragen, wie man eben Fragen stellt, wenn man etwas verstehen will. 

Manchmal fällt es mir schwer, durch die Fülle an Erinnerungen und beteiligten Personen durchzusteigen, sie in eine chronologische Ordnung zu bringen und die Personen voneinander zu unterscheiden. Ich versuche dann auseinanderzuhalten: Ist das schon vorher geschehen oder erst danach? Oder: Wer hat das gesagt, wer jenes? Manchmal stellt sich heraus: In der Erinnerung der Angehörigen ist die Chronologie auch nicht mehr so ganz klar. Und wenn man sich noch einmal klar macht, wer wann wo zur Stelle war, und was sagte, sehen die Dinge doch etwas anders aus, als man sie sich zurechtgelegt hat.

Manchmal kommen erst durch meine Fragen Erinnerungen hoch, tun sich Verbindungen auf, beginnen die Angehörigen zu verstehen: Was trieb die Mutter damals, auszuziehen? Warum war der Vater so schweigsam? Wie mögen die eigenen Eltern als Kinder gewesen sein, was haben sie erlebt, und wie wäre ich, der ich als Sohn oder die Tochter im relativen Wohlstand aufwuchs, wie wäre ich damit klargekommen – mit Kinderlandverschickung, ausgebombt zu sein, mit dieser Zerstörung überall, dieser rigiden Moral? Nebensächlich scheinende Dinge können in solchen Gesprächen plötzlich wichtig werden und in ein neues Licht geraten. 

Manchmal haben die Angehörigen ihr ganzes Leben genau durchdacht, in hunderten von Nächten die Gründe für Zerwürfnisse analysiert, in langen Therapien das eigene Verhältnis zu den Eltern, zu den Geschwistern, zu den eigenen Kindern aufgearbeitet. Sie wissen Bescheid, und ich bin dann eher in der Rolle dessen, dem ein komplexes Beziehungsgeflecht erklärt wird. Einmal bat mich sogar ein Sohn, gar nicht erst zu versuchen, seine komplizierte Mutter zu verstehen. Er wolle selbst auf der Beerdigung über sie reden, ich sollte dann nur etwas Theologisches dazu sagen. Und das war dann auch richtig so, es wurde eine sehr würdige und liebevolle Beerdigung.  

Manchmal bohre ich nach, will Hintergründe wissen, und je mehr wir reden, desto mehr kommt ans Tageslicht. Und die Angehörigen werfen dann ein: „Aber das kann man auf der Beerdigung so nicht sagen.“ – Ja, das weiß ich. Ich will das auch gar nicht so sagen. Aber dennoch muss ich es wissen. Ich will doch auch keinen Unsinn erzählen, sondern verstehen, worüber ich rede.  

Wenn ich dann meine Trauerrede schreibe, suche ich nach roten Linien in einem Leben. Was hängt womit zusammen? Was kommt immer wieder vor? Welche Leitmotive ließen sich zu diesem Leben hervorheben? Und wie kann ich sie ins Gespräch bringen mit einem biblischen Vers oder einer biblischen Erzählung oder einem Psalm, der eine Grundhaltung besonders gut beschreibt, oder ein Gefühl? 

Ist es denn so? Lassen sich rote Linien in einem Leben finden? Ergibt im Nachhinein vielleicht sogar alles einen Sinn – oder deuten wir den Sinn nur hinein, wo in Wirklichkeit keiner ist?

Die Buddhisten sagen: Das Leben ist eine Kette von Einzelereignissen. Gewiss, das Karma bewirkt, dass altes Leid neues Leid produziert. Aber wir müssen einen Weg aus dieser Verkettung des Karmas herausfinden. Wir müssen die Verbindungen kappen und lernen, Ereignisse als das zu sehen, was sie sind: Einzelereignisse, die beziehungslos in unserer Biographie aufscheinen und dann wieder verschwinden. Wir müssen uns davon lösen, nach Erklärungen zu suchen, nach roten Linien, nach einem höheren Sinn für das alles. 

Ich finde die buddhistische Sichtweise faszinierend, und ich kann ihr viel abgewinnen. Aber es ist nicht meine. Wenn ich auf ein Menschenleben zurückschaue, dann sehe ich auf eine christliche Weise zurück – oder auf eine abrahamitische Weise. Ich suche nach dem, was Gott mir mit diesem Lebensweg sagen will. Vielleicht erkenne ich etwas davon, vielleicht deute ich es aber auch nur hinein. Aber es gibt doch einen Grund, warum ich nach ihm suche. Und dieser Grund ist einer unserer Glaubenssätze – und von ihm handelt unser heutiger Predigttext. 

Als Christinnen und Christen glauben wir, dass unser Leben sinnvoll ist, egal wie wir es gelebt haben. Vieles verstehen wir erst im Nachhinein. Mit anderem müssen wir uns irgendwie aussöhnen. 

Als Christinnen und Christen glauben wir, dass alles, was wir erleben, schon lange in das Buch des Lebens eingeschrieben ist. Nicht, dass alles determiniert und vorherbestimmt ist. Nein, wir sind frei zu wählen: Gehen wir diesen oder jenen Weg? Wir können uns immer entscheiden, wir haben immer mindestens eine Wahl. Und doch kann Gott in seiner ewigen Weisheit und Güte unsere Wege voraussehen. Kann er eingreifen, kann er sie ändern? Nein, selbst wenn er es könnte, er tut es nicht, er lässt uns unsere Freiheit. Aber in Gott fügt sich alles wieder zusammen, alle Bruchstücke und alle Scherben meiner Existenz stehen plötzlich in einem Zusammenhang da. Das glauben wir als Christinnen und Christen.  

Vor einigen Jahrzehnten hat mir mal jemand gesagt: „Mein Bruder hat alle seine Chancen weggeworfen. Er hatte viele Chancen, er hat alles gehabt. Er war der Sunnyboy, das Glückskind. Er war klug, ihm ging das Abi leicht von der Hand, er konnte studieren, sah gut aus, die Mädchen flogen ihm nur so zu. Ich, dagegen, musste mir alles erarbeiten, kämpfte mich von Abschluss zu Abschluss, machte meine Lehre, diente mich von unten hoch. Und schauen Sie, wo ich jetzt stehe. Meine Familie ist intakt, ich habe einen guten Beruf, ein Haus. Und sehen Sie, wie mein Bruder alle seine Chancen weggeworfen hat. Ich bin jetzt wer, und er ist in der Gosse gelandet. Ich habe so hart gekämpft. Ich musste aber auch immer hart für alles kämpfen. – Er hatte es nicht verdient, all diese Chancen zu bekommen. Er hat sie ja doch weggeworfen, allesamt. Das Leben ist ungerecht.“ 

Ich habe mir das angehört und ich habe mich gefragt: Muss dieser Mann das so sehen? Kann er sein Leben und das seines verstorbenen Bruders auch anders sehen?

Wie blicken Sie auf Ihr bisheriges Leben zurück?
Welche Bilanz ziehen Sie, zieht ihr?
Wer sind Sie, wer bist du?
Was erwarten Sie noch vom Leben, was erwartest du? 

Gott schreibt auf krummen Linien gerade – das höre ich immer wieder. Und das ist schnell dahingesagt. Aber wir sollten uns selbst prüfen: Tut er das, kann ich das von meinem Leben behaupten, kann ich das vom Leben meines verstorbenen Angehörigen behaupten? Und dahinter steht die Frage: Kann ich mich aussöhnen mit dem, was war?

Der Predigttext für den heutigen Sonntag handelt von der sogenannten „Prädestination zum Heil“, also davon, dass Gott schon ganz am Anfang seiner Schöpfung Menschen auserwählt habe, so dass diese Menschen sozusagen in den Himmel kommen. Sie sollen beim Jüngsten Gericht heilig und makellos vor ihren himmlischen Richter treten, denn Jesus Christus vergibt ihnen durch sein Blut all ihre Verfehlungen. 

Heißt das, dass bestimmte Menschen zum Heil ausersehen sind und andere nicht? Bekommen nur einige das Heil – und was bekommen die anderen? Bleibt für sie nur die Verdammnis? 

Nicht wenige Theologen deuten den Predigttext, den wir gleich zu hören bekommen, so. Aber von Verdammnis ist dort nicht die Rede. Da steht nur etwas von einer Erwählung zum Heil. 

Der Epheserbrief beginnt, wie jeder antike Brief, mit dem Absender: 
Paulus – nach dem Willen Gottes zum Apostel von Christus Jesus berufen

Es folgen die Adressaten: 
An alle Menschen in Ephesus, die zu den Heiligen gehören und an Christus Jesus glauben.

Darauf folgt ein Segenswunsch: 
Wir wünschen euch Gnade und Frieden von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus.

Und dann schon beginnt der Briefeschreiber mit einem großen Dankgebet. Er dankt für die Gemeinde. Er dankt für den Weg, den sie bisher gegangen ist. Und er lobt Gott dafür, dass Gott seine Gemeinde von Anbeginn der Schöpfung auserwählt habe, und dass er sie damit gesegnet und beschenkt habe. 

Stellen Sie sich bitte Ihr Leben als eines vor, das Gott von Anbeginn der Schöpfung auserwählt hat, damit er es segnet und beschenkt. Vielleicht nicht sichtbar segnet, aber doch auf eine geheimnisvolle Weise segnet, die sich nicht gleich auf Anhieb erschließt. Und hören Sie bitte diesen Text, als seien Sie direkt angesprochen. Ich lese vor aus Epheser 1,3-14 nach der Übersetzung der Basisbibel: 

Gelobt sei Gott, der Vater unseres Herrn Jesus Christus! Er hat uns gesegnet mit allem Segen, der von seinem Geist erfüllt ist. Im Himmel hält er ihn für uns bereit.
Denn wir gehören zu Christus. Weil wir zu ihm gehören, hat Gott uns bereits erwählt, bevor die Welt erschaffen wurde.
Denn wir sollen heilig und makellos vor ihn treten können in der Liebe. Er hat uns im Voraus dazu bestimmt, seine Kinder zu werden. Durch Jesus Christus hat er uns dazu gemacht, und zu ihm sollen wir gehören. So gefiel es Gott, und das war sein Wille.
Das geschieht zum Lob seiner herrlichen Gnade. Die hat er uns durch den geschenkt, den er liebt. Weil wir zu ihm gehören, schenkt Gott uns durch sein Blut die Erlösung. 
Damit schenkt er uns zugleich die Vergebung unserer Verfehlungen. So reich ist seine Gnade.
Er gewährt sie uns über jedes Maß hinaus und schenkt uns alle Weisheit und Einsicht. Er hat uns das Geheimnis seines Willens offenbart. So gefiel es ihm, und so hatte er es beschlossen: Durch Christus sollte die Zeit erfüllt werden. Unter Christus als dem Haupt sollte alles zusammengefasst werden im Himmel und auf der Erde. Weil wir zu Christus gehören, wurden wir als Erben eingesetzt – so wie Gott es für uns im Voraus bestimmt hat. So hat er es beschlossen, der ja alles bewirkt. Nach seinem Willen sollte es geschehen. Denn wir sollen dem Lob seiner Herrlichkeit dienen – wir, die schon zuvor auf Christus gehofft haben.
Weil ihr zu ihm gehört, hat Gott auch euch sein Siegel aufgedrückt. Dieses Siegel ist der Heilige Geist, den er versprochen hat. Denn ihr habt die Verkündigung der Wahrheit gehört: die Gute Nachricht von eurer Rettung. Ihr habt diese Botschaft im Glauben angenommen.
Der Heilige Geist ist der Vorschuss auf unser Erbe, bis Gott uns als sein Eigentum endgültig erlöst. So dient das alles dem Lob von Gottes Herrlichkeit.

Soweit der Predigttext. Und nun schauen Sie noch einmal auf Ihr Leben zurück. Können Sie das für sich annehmen? 
Er, Gott, hat uns gesegnet mit allem Segen, der von seinem Geist erfüllt ist. Im Himmel hält er ihn für uns bereit. 

Wenn Sie auf Ihr Leben schauen, auf all die krummen Linien, all die verirrten Wegen, auf all die losen Enden, auf all die Scherben und Trümmer, die dort herumliegen, können Sie dann einstimmen in diese Worte? 
Er hat uns im Voraus dazu bestimmt, seine Kinder zu werden.
Durch Jesus Christus hat er uns dazu gemacht, und zu ihm sollen wir gehören.
So gefiel es Gott, und das war sein Wille.
Das geschieht zum Lob seiner herrlichen Gnade.
Die hat er uns durch den geschenkt, den er liebt.
Weil wir zu ihm gehören, schenkt Gott uns durch sein Blut die Erlösung.
Damit schenkt er uns zugleich die Vergebung unserer Verfehlungen.
So reich ist seine Gnade.

Ich möchte Sie ermutigen: Stimmen Sie ein in dieses Loblied. Auch wenn Sie jetzt noch nicht sehen und erkennen können, wie Gott auf krummen Linien gerade schreibt – auch wenn du es noch nicht erkennst, stimmen Sie, stimme du in diesen Lobgesang ein. Versuch es. Und sei gewiss: Du bist gemeint. Das Kind Gottes – das bist du! Amen

Dies könnte Sie auch interessieren

0
Feed