"Ich rege mich"

"Ich rege mich"

"Ich rege mich"

# Predigt

"Ich rege mich"

Liebe Gemeinde, 

„Ich rege mich. Von früh auf sucht man. Ist ganz und gar begehrlich, schreit. Hat nicht, was man will.“ Katharina und Tobias Reber, die Eltern der zweijährigen Sophie, die wir eben getauft haben, werden das noch kennen: die Unruhe ihrer Tochter, wenn sie etwas haben will, sich aber nicht artikulieren kann. Wenn sie ein Drücken verspürt, oder einen Hunger, oder einen Schmerz: „Ich rege mich.“

Jetzt ist Katharina schon aus diesem Kleinstkindalter heraus. Sie findet erste Umgangsformen, artikuliert Bedürfnisse mit einfachen Zwei- oder Dreiwortsätzen, sie erlernt die Rituale des Alltags, sie lernt, das Miteinander mitzusteuern, mitzubeeinflussen.  

Aber dem voraus ging das, womit der Philosoph Ernst Bloch sein Monumentalwerk „Das Prinzip Hoffnung“ eröffnete. „Ich rege mich. Von früh auf sucht man. Ist ganz und gar begehrlich, schreit. Hat nicht, was man will.“ Sich zu regen, zu suchen, was man will, die Begehrlichkeit, auch der Schmerz über den Mangel, das alles ist uns in die Wiege gelegt. Und daraus, so der Philosoph Ernst Bloch, erwächst das Prinzip Hoffnung. 

Die Hoffnung ist der Drang, den eigenen Mangel zu beheben, und sei es, indem wir an die Hilfsbereitschaft anderer appellieren. Die Hoffnung ist der Drang, den eigenen Hunger zu stillen, die Begehrlichkeiten und Wünsche zu erfüllen. Und dieser Drang ist uns in die Wiege gelegt. Hoffnung ist unser Urantrieb, wo die Hoffnung erlischt, da erlischt der Drang, weiterzuleben. 

„Die Hoffnung stirbt zuletzt“, sagen manche. Ich mag diese Floskel nicht. Sie scheint mir so daher gesagt, als sei die Hoffnung eine Illusion, ein letzter Strohhalm, an den man sich klammere, obwohl die Lage doch eigentlich aussichtslos sei. Aber das stimmt nicht. Erstens ist die Hoffnung viel eher da, als die letzte verzweifelte und aussichtslose Illusion. Zweitens haben wir Menschen das Zeug, unsere Hoffnung so zu kanalisieren und zu kultivieren und uns so stark zu machen, dass wir eben nicht verzweifeln und uns irgendwelchen Illusionen hingeben müssen. Und drittens ist die Hoffnung nicht passiv. Sondern wer wahrhaft hofft, regt sich: „Ich rege mich“. Wahre Hoffnung ist der geistige Begleitzustand zu meinem Bemühen, den Mangel abzustellen. 

Der Predigttext für den heutigen Sonntag handelt von großer Hoffnung. Er entstand in einer historischen Situation, als das antike Volk der Israeliten im Laufe des sechsten vorchristlichen Jahrhunderts dem Expansionsdrang der Babylonier zum Opfer fiel. Und wir machen heute diesen Text zum Gegenstand der Predigt, weil er so drastisch ist, weil seine Bildhaftigkeit in unser kollektives Gedächtnis eingezogen ist, weil wir auseinanderdividieren können, was diese Bilder ursprünglich einmal bedeutet haben, und was sie uns heute bedeuten können. 

Ich muss ein paar historisch einordnende Dinge zu den Babyloniern sagen. Die Babylonier, das sind diejenigen, die uns das prächtige Ischtar-Tor hinterließen, das heute auf der Berliner Museumsinsel ausgestellt ist. Im Rahmen ihrer imperialen Außenpolitik, eroberten sie den gesamten Vorderen Orient, beuteten gnadenlos deren Bodenschätze und die Arbeitskraft der dort lebenden Bevölkerung aus – und wenn sich Widerstand dagegen regte, schreckten sie nicht davor zurück, ganze Völker umzusiedeln, um ihren Widerstand zu brechen. 

Auch die gesamte Oberschicht aus Jerusalem wurde damals in das Gebiet des heutigen Irak umgesiedelt. Unter den Exilierten machten sich zwei Strömungen breit: Die eine hoffte auf Heimkehr und sammelte die alten Lieder, Prophezeiungen, Königsannalen und Gesetze. Aus diesen Sammlungen entstand unsere heutige Bibel. 

Die anderen gaben alle Hoffnung auf eine Heimkehr auf. Sie vegetierten als Sklaven, erduldeten die tägliche Erniedrigung und ergaben sich ihrem Schicksal. Je länger das babylonische Exil dauerte, desto größer wurde die Fraktion der Hoffnungslosen. Und wir wissen von Ernst Bloch: Wer seine Hoffnung aufgibt, gibt seinen Geist auf. 

Wenn ich Ihnen gleich den Predigttext des Propheten Hesekiel aus dem 37. Kapitel seines Prophetenbuches vorlesen, dann denken Sie daran: Diese seine Vision richtet sich an all diejenigen, die sich in dieser historischen Situation die Realisten nannten und allgemein Hoffnungslosigkeit verbreiteten. Er thematisiert ihre Hoffnungslosigkeit. Sie werden es am Ende des Textes merken. In Hesekiel 37 steht das Folgende: 

Die Hand des Herrn ergriff mich, und ich hatte eine Vision:
Der Herr führte mich durch seinen Geist hinaus und brachte mich mitten in eine Ebene. Dort lagen überall Knochen. Gott führte mich an den Knochen vorbei und in der Ebene umher.
Die ganze Ebene lag voller Knochen, die völlig ausgetrocknet waren.
Gott sagte zu mir: »Du Mensch, können diese Knochen wieder lebendig werden?«
Ich antwortete ihm: »Herr, mein Gott, du weißt es!«
Da sagte er zu mir: »Rede als Prophet zu diesen Knochen und sag zu ihnen: Ihr vertrockneten Knochen, hört das Wort des Herrn! So spricht Gott, der Herr zu diesen Knochen: Ich selbst gebe meinen Geist in euch und ihr werdet wieder lebendig! Ich verbinde euch mit Sehnen und lasse Fleisch darüber wachsen. Ich überziehe euch mit Haut und gebe euch Lebensgeist. So werdet ihr wieder lebendig. Dann werdet ihr erkennen, dass ich der Herr bin
Ich redete als Prophet, wie er mir befohlen hatte. Noch während ich redete, wurde es laut und die Erde bebte. Die Knochen rückten zueinander, jeder Knochen an seinen Platz. Ich sah, wie sie mit Sehnen verbunden wurden und wie Fleisch darüber wuchs. Dann wurden sie mit Haut überzogen, aber Lebensgeist war noch nicht in ihnen.
Da sagte Gott zu mir: »Rede als Prophet zu diesem Lebensgeist! Ja, du Mensch, rede als Prophet zum Geist und sag: So spricht Gott, der Herr! Geist, komm herbei aus den vier Himmelsrichtungen! Hauch diese Toten an, damit sie wieder lebendig werden
Ich redete als Prophet, wie er mir befohlen hatte.
Da kam Lebensgeist in sie und sie wurden wieder lebendig. Sie standen auf – es war eine sehr große Menschenmenge.
Gott sagte zu mir: Du Mensch, diese Knochen stehen für die Israeliten. Sie sagen: »Unsere Knochen sind vertrocknet. Unsere Hoffnung ist dahin, wir haben keine Zukunft mehr!«
Darum rede als Prophet und sag zu ihnen: »So spricht Gott, der Herr! Ich öffne eure Gräber und lasse euch herauskommen, denn ihr seid mein Volk. Dann bringe ich euch in das Land Israels. So werdet ihr erkennen, dass ich der Herr bin: Ich öffne eure Gräber und lasse euch herauskommen, denn ihr seid mein Volk. Ich gebe meinen Geist in euch und ihr werdet wieder lebendig. Dann bringe ich euch in euer Land. So werdet ihr erkennen, dass ich der Herr bin: Ich habe es angekündigt und werde es tun!«
So lautet der Ausspruch von Gott, dem Herrn.

Soweit der Predigttext. Sie merken: Die starke Bildhaftigkeit von den ausgeblichenen Knochen, die mit Sehnen und Muskeln überzogen werden und in die der göttliche Geist wie ein Wind hineinfährt, diese Bildhaftigkeit hat unser Reden von der Auferstehung geprägt. Man kann anhand der archäologischen Zeugnisse von der Bestattungspraxis im antiken Israel nachvollziehen, wie aus dieser Vorstellung von der Wiederbelebung eines ganzen Knochenfeldes schließlich die Hoffnung auf individuelle Auferstehung wird. Und das wiederum ist dann die Basis für das, wovon die Jünger an Ostern sprechen. Wie genau, das werde ich bestimmt ein anderes Mal zum Thema machen, vielleicht einmal an Ostern. 

Heute steht dieses drastische Bild für die Pfingsthoffnung. Der Geist Gottes fährt in die mit Sehnen und Muskeln überzogenen Knochen. Der Geist belebt aufs Neue, wo nichts mehr ist. Wo die Sache schon gegessen scheint. Wo die Spötter den Verzweifelten nachrufen: „Die Hoffnung stirbt zuletzt.“ Und eigentlich wollen sie sagen: „… und mit der Hoffnung stirbst auch du.“ 

Unser christlicher Glaube ist getragen von dem Grundgedanken, dass wir nie, egal in welche Situation wir geraten, die Hoffnung ganz aufgeben dürfen. Was heißt, dürfen? Unser ganzes christliches Leben richtet sich darauf, uns zu Hoffnungsmenschen zu kultivieren. Martin Luther wird dazu der passende Satz zugeschrieben: „Und wenn morgen die Welt unterginge, dann würde ich heute noch einen Apfelbaum pflanzen.“

Unsere Liebe fokussiert auf unsere Mitmenschen, unser Glaube fokussiert auf unser Gottvertrauen, und unsere Hoffnung fokussiert auf unseren nächsten Schritt. Es gibt immer noch einen Schritt zu gehen. Irgendwann wird dieser letzte Schritt jener sein, den wir auf Gott zugehen, bei dem wir alles stehen und liegen lassen und uns in seinen Arm fallen lassen. Für viele ein schwerer Schritt, aber man muss sich klarmachen, dass wir nicht tiefer als in seine Arme, in seine Hände fallen können. 

Und das möchte ich Ihnen auch als Taufeltern mitgeben. Lassen Sie Sophie jederzeit spüren, dass Gottes Geist sogar in tote Gebeine hineinfahren kann. Dass wir auch in der größten Verzweiflung noch mit Gottes Geist rechnen sollen und können. Wir wissen nicht, aus welcher Richtung er kommt und wohin er uns treibt. Aber er kommt. 

Damals, als Israel im babylonischen Exil war, trat der persische König Kyros auf den Plan, der dem Babylonischen Reich ein Ende bereitete und allen exilierten Völkern zusagte, dass sie wieder heimkehren konnten. Wir Älteren haben zu Lebzeiten gesehen, wie in Berlin die Mauer fiel, die Ost und West auf ewig trennen sollte. So etwas war wenige Wochen zuvor schier unvorstellbar gewesen. 

Manchmal kommt die Rettung überraschend und unerwartet. In jedem Fall sollen wir uns ganz in Gottes Hand begeben und auf ihn vertrauen. Es gibt immer einen nächsten Schritt. Manchmal führt er uns durch ein tiefes Tal der Verzweiflung. Manchmal scheint er in einer Sackgasse stehen zu bleiben. Aber die Hoffnung erinnert uns daran, dass unser Leben auch dann weitergehen wird. 

Der Theologe Dietrich Bonhoeffer hat wieder die treffensten Worte dafür gefunden. Er schreibt: 

„Ein Glaube, der nicht hofft, ist krank. Er ist wie ein hungriges Kind, das nicht essen, oder wie ein müder Mensch, der nicht schlafen will. So gewiss der Mensch glaubt, so gewiss hofft er. Und es ist keine Schande zu hoffen, grenzenlos zu hoffen.
Wer wollte auch von Gott reden, ohne zu hoffen.
Wer wollte auch von Gott reden, ohne zu hoffen, ihn einmal zu schauen? Wer wollte von Frieden und von der Liebe unter den Menschen reden, ohne sie einmal in Ewigkeit erleben zu wollen? Wer wollte von einer neuen Welt und einer neuen Menschheit reden, ohne zu hoffen, daß er an ihr teilhaben werde? Und warum sollen wir uns unserer Hoffnung schämen?
Nicht unserer Hoffnung werden wir uns einstmals zu schämen haben, sondern unsrer ärmlichen und ängstlichen Hoffnungslosigkeit, die Gott nichts zutraut, die in falscher Demut nicht zugreift, wo Gottes Verheißungen gegeben sind, die resigniert in diesem Leben und sich nicht freuen kann auf Gottes ewige Macht und Herrlichkeit. Je mehr ein Mensch zu hoffen wagt, desto größer wird er mit seiner Hoffnung: Der Mensch wächst mit seiner Hoffnung – wenn es nur die Hoffnung auf Gott und seine alleinige Kraft ist. Die Hoffnung bleibt.“

Amen

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