08/08/2024 0 Kommentare
"Später wirst du es verstehen"
"Später wirst du es verstehen"
# Predigt
"Später wirst du es verstehen"
Liebe Gemeinde,
Sie kennen das: Die Stunde des Abschieds ist gekommen. Sie lassen jemanden zurück, die oder der nicht möchte, dass Sie gehen. Aber Sie müssen gehen, Sie müssen sich losreißen. Sie kommen sich herzlos vor, und doch haben Sie keine andere Wahl.
Es gibt unendlich viele herzzerreißende Erinnerungen an solche Abschiede. Vielleicht haben einige von Ihnen den Film „One Life“ gesehen, der Ende März in deutschen Kinos startete. Anthony Hopkins spielt darin den Briten Nicholas Winton, der im Winter 1938/39 hunderten jüdischen Kindern die Ausreise aus Prag nach London ermöglichte und sie so vor dem Holocaust rettete, vor der Schoah.
Ich habe den Film nicht gesehen, aber als Reporter habe ich in London eines von diesen geretteten Kindern getroffen. Es heißt Alfred Dubs. Er kam auch 1939 mit einem der Kindertransporte aus Prag. Und die eindrücklichste Szene aus seiner Lebensgeschichte war für mich, wie sich die vielen Kinder von ihren Eltern am Gleis verabschiedeten – und vor allem: Wie sich die Eltern verabschiedeten.
Die Eltern setzen ihre Kinder in den Zug in die Freiheit. Sie redeten ihren Kindern gut zu. Sie retten ihren Kindern das Leben, und sie wussten nicht, ob sie ihre Kinder jemals wiedersehen. Aber sie wollen ihre Kinder nicht mit ihrer eigenen Trauer belasten, sondern tun so, als wären sie fröhlich, und als würden sie einander bald wiedersehen.
Die Kinder verstanden das nicht. Sie dachten: „Warum müssen wir gehen, warum dürfen die Eltern bleiben?“ Erst später, als sie selbst Erwachsene waren, begannen sie zu verstehen. Und aus der Klage gegenüber den Eltern – „Du hast mich im Stich gelassen“ – wurde eine Verehrung: „Du hast dich für mich geopfert.“ Aus der kindlichen Perspektive wurde im Erwachsenenalter, sobald man selbst Kinder bekam, die erwachsene Perspektive, und man fragte sich: „Wie zerrissen, wie hilflos und todtraurig müssen meine Eltern gewesen sein, als sie mich damals in den Zug setzten?“
Ich erinnere an diese Kindertransporte und an diese wohl traurigsten aller Abschiede zu Beginn meiner Predigt, weil ich glaube, dass diese sich wandelnde Perspektive erst des Kindes, dann des Erwachsenen, den Schlüssel für das Verständnis unseres Predigttextes heute bietet.
Der Predigttext ist eine Abschiedsrede Jesu an seine Jünger. Jesus verabschiedet sich. Er wird seine Jünger allein zurücklassen. Das erscheint in der Situation, als die Jünger noch nichts von der bevorstehenden Passion wahrhaben wollen, herzlos. Aber Jesus sieht etwas voraus, das seine Jünger nicht sehen. Und er kündigt es ihnen so an, dass sie alles später, im Nachhinein viel besser verstehen können.
Der Jünger, der diese Abschiedsszene im Johannesevangelium festhält, ist erst viele Jahre später dazu gekommen, sie aufzuschreiben. Er beschreibt diese Szene also im Rückblick.
Wir müssen den Text lesen, wie den Liebesbrief eines Kindes an seine längst verstorbenen Eltern, eines Kindes, das vor 50, 60 Jahren am Bahnsteig in Prag von seinen Eltern in den Zug gesetzt wurde, und das heute sich liebevoll erinnert, wie seine Eltern damals ihm mit aller Vernunft gut zuzureden versucht haben. Wie sie damals ihm erklärt haben mögen, dass alles so gut und richtig ist, und dass alles zum Besten des Kindes geschieht.
Dieser Jünger erinnert sich auch 50, 60 Jahre später. Er ist schon alt und grau, und es mag sein, dass ihm die Abschiedsworte Jesu 1000mal durch den Kopf gegangen sind und er sie vermischt hat, übermalt hat mit seinen eigenen Worten, die sich der Jünger in der Zwischenzeit zurechtgelegt hat.
So wie das Kind, dass dem Elend den Pogromen entkommen ist, nun im Rückblick die Eltern idealisiert, ihre Traurigkeit mit Heldenmut überschreibt, in ihnen vor allem und in erster Linie diejenigen erkennt, die sich aufopfern – aufopfern, damit das Kind selbst leben kann.
Die Abschiedsworte Jesu im Johannesevangelium, also die Worte, die der Evangelist Johannes Jesus in Anwesenheit seiner Jünger sagen lässt, bevor ihn – den unschuldigen Juden aus Nazareth – die Staatsmacht abholt und zu Tode quält, diese Abschiedsworte sind also alles Zitate aus der Erinnerung, ungenaue Zitate, mit eigener Lebenserfahrung überschriebene Zitate.
In diesen Zitaten versucht der erinnerte Jesus die Jünger über seinen Weggang hinwegzutrösten. Er sagt: Da kommt ein Beistand für euch, ein Tröster. Er sagt: Wenn ich nicht gehe, dann kann der Beistand nicht kommen, der Tröster. Er sagt: Dieser Beistand wird allen die Augen dafür öffnen, welches Unrecht hier gerade geschieht. Er sagt: Diejenigen, die uns jetzt all dieses Elend antun, sie werden am Ende dafür bestraft werden. Richtig doll bestraft werden. Er sagt: Eines Tages werdet ihr verstehen; der Beistand wird es euch erklären.
Wer ist dieser Beistand? Die klassische Theologie sagt: Es ist der Heilige Geist. Auf Griechisch heißt er: Παράκλητος – wörtlich übersetzt: der als Beistand Herbeigerufene. Gemeint ist jemand, der einem vor Gericht beisteht, wie ein Anwalt oder ein Rechtshelfer:
- Du wirst verklagt, aber da ist einer, der für dich spricht.
- Du kannst dich nicht wehren, aber da ist einer, der dich beschützt.
- Du kennst die Regeln nicht, aber da ist einer, der dir zur Seite steht.
Daher die Übersetzung „Beistand“. Martin Luther hat daraus „den Tröster“ gemacht. Ich lese vor aus Johannes 16,5-15 nach der Übersetzung der Basisbibel. Da sagt Jesus laut Johannes:
… jetzt gehe ich zu dem, der mich beauftragt hat.
Und keiner von euch fragt mich: ›Wohin gehst du?‹
Vielmehr seid ihr traurig, weil ich das zu euch gesagt habe.
Doch ich sage euch die Wahrheit: Es ist gut für euch, dass ich fortgehe. Denn wenn ich nicht fortgehe, kommt der Beistand nicht zu euch.
Aber wenn ich fortgehe, werde ich ihn zu euch senden. Wenn dann der Beistand kommt, wird er dieser Welt die Augen öffnen – für ihre Schuld, für die Gerechtigkeit und das Gericht.
Ihre Schuld besteht darin, dass sie nicht an mich glauben.
Die Gerechtigkeit zeigt sich darin, dass ich zum Vater gehe – dorthin, wo ihr mich nicht mehr sehen könnt.
Das Gericht bedeutet, dass der Herrscher dieser Welt schon verurteilt ist.
Ich habe euch noch vieles zu sagen, aber das könnt ihr jetzt nicht ertragen. Wenn dann der Beistand kommt, der Geist der Wahrheit, wird er euch helfen, die ganze Wahrheit zu verstehen. Denn was er sagt, stammt nicht von ihm selbst. Vielmehr sagt er das weiter, was er hört. Und er wird euch verkünden, was dann geschehen wird.
Er wird meine Herrlichkeit sichtbar machen: Denn was er euch verkündet, empfängt er von mir. Alles, was der Vater hat, gehört auch mir. Deshalb habe ich gesagt: Was der Geist euch verkündet, empfängt er von mir.«
Liebe Gemeinde, die Theologen haben in den vielen Jahrhunderten des Christentums viele Dinge in diesen Text hineingelesen, über die sie sich dann zerstritten haben. Sie haben zum Beispiel den Satz herausgepickt: „Was euch der Beistand verkündet, empfängt er von mir.“ Und dann haben sie sich darüber zerstritten, ob jetzt der Heilige Geist nur vom Vater ausgeht oder vom Vater und dem Sohn.
Sollen sich die Theologen doch darüber streiten. Ich lese in diesen Worten eine Liebeserklärung an Jesus, der – wissend, dass er einen Opfergang antreten muss – seinen Jüngern Trost zuspricht. Ich lese in diesen Worten die Erinnerung eines alten Jüngers, der auf sein Leben dankbar zurückblickt. In den tiefen Wunden, die schmerzhafte Erinnerungen in ihm hinterlassen hat, erkennt er Spuren der großen Liebe Gottes. In dem ganzen Elend der Welt kann er seinen Blick auf Gottes Liebe fokussieren und konzentrieren – wie ein Kind, dass in dem rätselhaften Abschied von einst eine große und überwältigende Liebe seiner Eltern zu erkennen vermag.
(Die folgenden Worte sind gerichtet an die jugendliche Mina, die sich in diesem Gottesdienst taufen ließ)
Liebe Mina, ich wünsche dir, dass du immer deinen Blick auf die Liebe richtest. Dass du gute Absichten zu lesen lernst. Dass du die Liebe Gottes aus all dem Chaos, das um uns herum ist, herauszulesen lernst. Und dass du mit diesen Gedanken innerlich frei und stark wirst, weil du weißt: Gottes Wege mit dir mögen manchmal unergründlich sein. Aber du lässt nicht nach, darin eine Spur zu finden, eine Spur, die dir zum Guten dient und rückblickend auch gedient hat.
So wie es dein Taufspruch auch sagt: Gott ist Liebe; und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm.
Diese Milde und Güte wünsche ich nicht nur Mina, die wünsche ich uns als Gemeinde. Und ich bin zuversichtlich, dass Gott uns, so rätselhaft uns seine Wege auch oft erscheinen, mit dieser Liebe umgibt und einhüllt.
Amen
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