"Steh auf!"

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"Steh auf!"

# Predigt

"Steh auf!"

Liebe Gemeinde, 

wenn man zu Jesu Zeiten nach Jerusalem hochzog – so heißt es – war da ein Teich in der Nähe vom Schafstor. Der Teich heißt Bethesda. Bei dem Teich sind fünf Hallen. Und in den Hallen liegen viele Kranke: Blinde, Lahme, Ausgezehrte. Und es hieß: Wann immer sich das Wasser bewegt, muss man schnell hineinspringen. Dann wird man gesund. 

Ich erinnere mich an ein Bilderbuch meiner Kindheit. Darin waren Geschichten aus der Bibel abgebildet. Auch die Hallen am Teich Bethesda sah man da. Man sah auf den Bildern sogar, warum sich das Wasser bewegte: Da war ein Engel, den nur die Betrachter des Bilderbuchs sehen konnten, nicht aber die abgebildeten Menschen in der Halle am Teich Bethesda. Und dieser Engel tauchte vorsichtig seine Fußspitze ins Wasser. 

Der Evangelist Johannes erzählt nun also, wie Jesus am Schabbat, am siebten Tag der Woche, am Feiertag, in Jerusalem einzieht. An dem Tag ist es verboten zu arbeiten. Jesus kommt am Schafstor vorbei und betritt eine der Hallen am Teich Bethesda. Jesus sieht einen Mann da liegen. Er liegt da schon seit 38 Jahren. Und Jesus fragt ihn: „Willst du überhaupt gesund werden?“ Der Mann antwortet: „Ich habe niemanden, der mich zum Teich trägt, wenn sich das Wasser bewegt. Es ist immer ein anderer vor mir da.“

Als Kind hat es mich immer gewundert, dass ein Mensch 38 Jahre an der gleichen Stelle liegt, und niemand kommt ihm in den ganzen 38 Jahren zu Hilfe. Ich habe überlegt, wer ihm wohl in der ganzen Zeit etwas zu essen gebracht hat. Warum er sich nicht näher an den Teich gelegt hat. Wie das ist, wenn jemand schon im Wasser ist, wenn der Engel seinen Fuß hineinsteckt und das Wasser bewegt. Zählt das, oder heilt das bewegte Wasser nur, wenn man vorher noch nicht im Teich war? 

Mich hat die Vorstellung gequält, dass einer 38 Jahre am Rande dieses Teiches liegt, die Heilung ständig vor Augen – und nichts passiert. 38 Jahre seines Lebens verstreichen sinnlos in immer der gleichen Halle mit immer der gleichen Erwartung: „Irgendwann muss doch mal etwas mit mir passieren! Irgendwann muss ich doch mal geheilt sein!“

Und nun steht Jesus vor diesem Mann. Der Mann weiß nicht, dass er Jesus ist. Er hört ihn nur sagen: „Steh auf, nimm deine Matte und geh.“ Und der Mann steht auf, nimmt seine Matte und geht. 

38 Jahre liegt er herum, die Lebenszeit verstreicht, und auf einmal ist alles ganz einfach. Auf einmal schnappt er sich seine Schlafmatte und läuft los. Ich habe mir als Kind überlegt, was dieser Mann jetzt wohl macht… Weiß er, wohin er als nächstes gehen soll? Hat er irgendein Ziel im Leben, oder ist er davon abgestumpft, dass er so lange sinnlos auf Rettung gewartet hat? Hat er irgendeine Adresse, kennt er jemandem, bei dem er jetzt unterkommen kann? 

Als Erwachsener habe ich mich daran gewöhnt, dass Jesus die Leute heilt. Aber als Kind dachte ich immer: Was für eine riesige Veränderung im Leben dieses Menschen! Wie kommt er damit klar? Wird er seine neuen Möglichkeiten nutzen? Kann er überhaupt etwas mit seiner neuen Freiheit anfangen?

Der Evangelist Johannes erzählt lediglich, dass die Leute um den Geheilten herum sagen: „Warum trägst du deine Schlafmatte am Schabbat. Das ist verboten!“ Und der Geheilte antwortet: „Ich war gelähmt. Dann kam einer, der sagte mir: ‚Steh auf, nimm dein Matte und geh.‘ Und das habe ich getan.“ Was hätte er auch sonst tun sollen – die Matte liegen lassen, geht nicht Er braucht sie ja noch für die nächste Nacht. 

Später treffen Jesus und der Gelähmte einander im Tempel. Jesus sagt zu ihm: „Du bist aufgestanden. Du bist gesund geworden. Sündige nicht mehr.“ – Der Mann soll nicht mehr sündigen? Hat er denn gesündigt, während er 38 Jahre am Teich auf seine Rettung wartete? Oder hat er davor gesündigt und wurde 38 Jahre lang mit Lähmung für diese Sünde bestraft? Sind diese 38 Jahre nicht Strafe genug? Warum sagt Jesus: „Sündige nicht mehr“?

Diese Geschichte lässt so viele Fragen unbeantwortet. 

Ich habe aber nie den Ehrgeiz entwickelt, für all diese Fragen abschließende Antworten zu finden. Wozu auch? Ich habe diese Geschichte schon als Kind wie ein Gleichnis verstanden, wie eine Parabel auf etwas anderes. Sie will mir nicht die Biografie dieses geheilten Gelähmten erzählen. Die Geschichte will mir etwas über Jesus erzählen, über einen, der Menschen aufstehen lässt. Über einen, der Menschen mobilisiert, die daniederliegen. 

Seit der Gelähmte Jesus im Tempel wiedergetroffen hat, weiß er, dass es Jesus war, der ihn heilte. Er sagt es den anderen Leuten. Und sie beschweren sich bei Jesus. Sie ärgern sich über ihn, erstens, weil er sich über den Schabbat erhebt, und zweitens, weil er sagt: Gott sei sein Vater, nur sein Vater.

Was Jesus ihnen dann antwortet, ist der Predigttext für den heutigen Sonntag. Ich lese vor aus Johannes 5, Verse 19 bis 21: 

Jesus erwiderte: "Wahrlich, das sage ich euch: Von sich aus kann der Sohn nichts tun. Er kann nur das tun, was er den Vater tun sieht. Was der Vater tut, das tut genauso auch der Sohn. Der Vater liebt den Sohn. Er zeigt ihm alles, was er selbst tut. Und er wird ihm noch größere Taten zeigen – Taten, über die ihr staunen werdet. Der Vater weckt die Toten auf und schenkt ihnen das wahre Leben. Genauso schenkt auch der Sohn das wahre Leben den Menschen, denen er es geben will."

So weit der Predigttext: Gott weckt die Toten auf und schenkt ihnen das wahre Leben. Jesus mobilisiert den Gelähmten und schenkt ihm das wahre Leben. 

38 Jahre liegt der Gelähmte auf der Matte herum. Seine Lebenszeit verstreicht, und auf einmal geht ihm alles von der Hand. Auf einmal kann er nicht nur mit seiner Schlafmatte herumlaufen. Er weiß auch, wohin er als nächstes gehen soll. Er hat ein Ziel im Leben, hat Adressen, wo er unterkommen kann, Menschen, an die er sich wenden kann.  

Was ist Auferstehung? Was heißt es, von den Toten aufzuerstehen?

Ist es das, dass ich wieder ein Ziel habe im Leben? Dass ich aus der Depression aufwache und wieder Energie habe? Dass ich meine Einsamkeit ablege, wie ein altes Gewand, und mich wieder unter die Leute mische, Anschluss finde, Unbefangenheit erlerne? 

Dass ich aus dem Trott rauskomme, der Langeweile und den vermeintlichen Zwängen des Alltags entkomme und eine Ahnung bekomme, wie schön das Leben sein kann? Dass aus Fremden Vertraute werden? Dass ich alte Feindschaften überwinde, alte Konkurrenz begrabe und plötzlich merke, wie miteinander alles viel leichter geht als gegeneinander?

Ist das mit Auferstehung gemeint, wie es auch im Epheserbrief steht (5,14): „Wache auf, der du schläfst, und stehe auf von den Toten, so wird Christus dich erleuchten“? 

Wir feiern die Auferstehung so besonders. Wir versammeln uns in der Osternacht. Wir gehen gemeinsam in den frühen Morgen, lassen die unwirkliche Atmosphäre in den noch leeren Straßen auf uns wirken, lauschen in die Stille der Natur. Wir entzünden die Osterkerze am Feuer. Wir hören von der Schöpfung, von der Sintflut, von der Auferstehung der Toten und von Gottes unerforschlichen Gedanken. 

Wir hören vom leeren Grab, von der geheimnisvollen, überaus zärtlichen Begegnung im Garten. Der Unbekannte sagt: Maria. Und plötzlich erkennt sie ihn und antwortet: Rabbuni, Meister. 

Mit so vielen Liedern, Bildern und Sätzen versuchen wir, dieses Wunder der Auferstehung, dieses Außerordentliche der Auferstehung zu erfassen, diesen Bruch, der mit ihr einhergeht: den Bruch mit dem Alten, und dem Entstehen von etwas völlig Neuem. 

Und wir hoffen und beten, dass uns diese Bilder und Eindrücke helfen, das Wunder auch wirklich zu sehen: wo wir Menschen neu anfangen, wo uns eine neue Chance geschenkt wird… Dass wir Gott auch wirklich zutrauen, dass er aus allem, auch aus dem Toten, neues Leben erwecken kann.

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Es ist noch etwas anderes, das mich an diesem Predigttext interessiert. Jesus sagt von sich, er könne nur das tun, was er den Vater tun sieht. Was der Vater tut, das tut auch der Sohn. Der Vater zeigt dem Sohn alles, was er selbst tut. 

Kein Mensch kann Gott sehen! Das wissen schon die Kinder im Kindergarten. Und deswegen empören sich die Widersache Jesu auch so im Johannesevangelium. Sie sehen in Jesus einen, der sich wichtig macht. Aber so sehen sie Jesus nicht als den, der er ist. 

„Selig sind, die reinen Herzens sind, denn sie werden Gott schauen“, heißt es in der Bergpredigt. Ich stelle mir Jesus als einen Menschen vor, der reinen Herzens ist und der Gott schaut. Als einen, der Gott sieht. Und ich sehe in mir einen Menschen unreinen Herzens, der sich von Jesus verwandeln lassen will. 

„Nimm deine Matte und steh auf“, sagt derjenige zu mir, der selbst von den Toten auferstanden ist. „Wache auf, der du schläfst, und stehe auf von den Toten, so werde ich dir leuchten“, ruft er mir zu. Er zeigt mir, dass Gott auch das Tote wieder zum Leben erwecken kann. Und wir gehen hinaus in den Ostermorgen, wo das Leben erwacht, wo die Sonnenstrahlen irgendwann auch die Wolkendecke durchbrechen. Und wo wir bislang nur Gleichgültigkeit vermuteten, entdecken wir auf einmal Liebe und Fürsorge. Und wir gehen gemeinsam hinaus ins Leben. Amen.

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