08/08/2024 0 Kommentare
Und der Herr wandte sich
Und der Herr wandte sich
# Predigt
Und der Herr wandte sich
Liebe Gemeinde!
der Predigttext für den heutigen Sonntag ist Teil der Leidensgeschichte Jesu am Ende des Lukasevangeliums.
Der Evangelist beschreibt, wie eine Schar von Hohenpriestern, Hauptleuten des Tempels, Ältesten und Knechten Jesus im Garten Gethsemane verhaften. Hier setzt der Predigttext ein. Er steht bei Lukas 22, Verse 54 bis 62.
Sie ergriffen Jesus und führten ihn ab und brachten ihn in das Haus des Hohenpriesters. Petrus aber folgte von ferne.
Da zündeten sie ein Feuer an mitten im Hof und setzten sich zusammen; und Petrus setzte sich mitten unter sie.
Da sah ihn eine Magd im Licht sitzen und sah ihn genau an und sprach: „Dieser war auch mit ihm.“
Er aber leugnete und sprach: „Frau, ich kenne ihn nicht.“
Und nach einer kleinen Weile sah ihn ein anderer und sprach: „Du bist auch einer von denen.“
Petrus aber sprach: „Mensch, ich bin’s nicht.“
Und nach einer Weile, etwa nach einer Stunde, bekräftigte es ein anderer und sprach: „Wahrhaftig, dieser war auch mit ihm; denn er ist auch ein Galiläer.“
Petrus aber sprach: „Mensch, ich weiß nicht, was du sagst.“
Und alsbald, während er noch redete, krähte der Hahn.
Und der Herr wandte sich und sah Petrus an.
Und Petrus gedachte an des Herrn Wort, wie er zu ihm gesagt hatte: Ehe heute der Hahn kräht, wirst du mich dreimal verleugnen.
Und Petrus ging hinaus und weinte bitterlich.
So weit der Predigttext. Jesus wird abgeführt in das Haus des Hohepriesters. Petrus folgt von ferne und bleibt draußen vor dem Haus im Hof, wo die Knechte und Mägde es Hohepriesters ein Feuer angezündet haben. Dreimal erkennen ihn das Personal des Hohepriesters, zuerst eine Magd im Licht des Feuerscheins. Aber Petrus leugnet, Jesus zu kennen. Nach einer kleinen Weile erkennt ihn ein anderer; wieder leugnet Petrus. Dann vergeht etwa eine Stunde, bis ein dritter Petrus als Jesus-Jünger identifiziert. Petrus leugnet ein drittes Mal.
Es ist gar nicht so lange her – im Lukasevangelium sind es nur 30 Verse zuvor –, da hatten die Jünger gestritten, wer der Größte unter ihnen sei. Jesus hatte geantwortet: "Der Größte unter euch soll wie der Geringste sein, wie ein Diener."
Und Jesus hatte die Jünger gewarnt, dass der Satan versuchen werde, sie zu prüfen, einen jeden von ihnen.
Und er hatte Petrus ausersehen, die anderen Jünger zu stärken: „Wenn du umkehrst, stärke deine Brüder und Schwestern.“ – Woanders heißt es: „Du bist Petrus, du bist der Fels, auf dich will ich meine Kirche aufbauen.“ Petrus hatte geantwortet: „Herr, ich bin bereit mit dir ins Gefängnis zu gehen – und in den Tod.“Und Jesus hatte ihm gesagt: Dreimal wirst du geleugnet haben, dass du mich kennst, ehe der Hahn kräht.
Das ist nun gerade einmal 30 Verse her.
Mit dem Schrei des Hahns beginnt der lichte Tag. Der Hahnenschrei weckt die Schlafenden. Am Lagerfeuer im Hof des Hohepriesters sind aber alle schon wach. Der Hahn weckt also in einem übertragenen Sinn. Er weckt die Unaufmerksamen, die Abgelenkten, die Undisziplinierten, die Menschen, die sich gehen lassen, die ihre Anspannung verlieren, ihre innere Freiheit der Faulheit opfern, der Selbstgenügsamkeit. Der Hahn weckt sie aus dem Schlaf der Sicherheit.
Der Evangelist Lukas fügt neben dem Hahnenschrei noch ein anderes einprägsames Bild in diese Szene: Und der Herr wandte sich und sah Petrus an. Man erfährt plötzlich, wie in einem bösen Traum: Die Tür zum Inneren des Hauses muss offen gestanden haben. Petrus muss die ganze Zeit vom Hof aus durch einen Türspalt den Blick ins Innere des Hauses frei gehabt haben. Er muss das Verhör im Palast des Hohenpriesters beobachtet haben können, wenigstens aus dem Augenwinkel.
Was Jesus im Palast des Hohenpriesters widerfährt, lesen wir erst nach der Verleugnungsszene: Jesus wird verspottet. Man schlägt ihn. Man verdeckt sein Angesicht und fragt: „Weissage, wer ist’s, der dich schlug?“ All das erfahren wir erst später, denn jetzt geht es noch nicht um Jesus, sondern erst einmal um Petrus. Dreimal leugnet er. Der Hahn kräht. Und der Herr wandte sich und sah Petrus an.
Was für ein Blick ist das? Lukas verrät es nicht, wir müssen uns den Blick selbst vorstellen. Woran denken Sie? An einen anklagenden Blick, an einen enttäuschten Blick, an einen nachsichtigen Blick?
Ich habe keine genaue Vorstellung. Trotzdem stelle ich mir vor, dass der Blick Petrus ins Herz trifft. Denn in diesem Blick spiegelt sich die Wahrheit über ihn wider. Petrus‘ Selbstbild bricht in sich zusammen. Der Blick von außen auf das, was er gerade tut, setzt sich wie eine erschütternde Selbsterkenntnis in ihm durch.
Petrus kann sein Verhalten nicht mehr schönreden. Er kann nicht sagen: „Sorry, ich stand gerade neben mir.“ Er kann nicht sagen: „So war es doch nicht gemeint!“ Er kann nicht sagen: „Was bringt es denn, wenn ich mich jetzt auch noch in Gefahr bringe!“ Jesu Blick ist wie ein zweiter Weckruf.
Und Petrus ging hinaus und weinte bitterlich. Johann Sebastian Bach hat diesen Moment in seiner Johannespassion musikalisch ausgemalt. Musiker des Barock tauschten sich damals darüber aus, wie sich Gefühle oder Affekte musikalisch am besten darstellen lassen. Und Johann Sebastian Bach gelingt es eindrucksvoll, die vielen Gefühlslagen, die Petrus überrennen, in Musik einzufangen.
Bach lässt den Evangelisten, einen Tenor, der die Szene erzählt, auf das Wort „weinete“ zwei lange Reihen von Tönen singen. Zweimal lässt er den Evangelisten klagend auf der Silbe „wa-“ ansetzen.
„Adagio“ steht als Tempoangabe darüber: „langsam“. Die Töne ziehen sich. In Viertelnoten schraubt sich die Silbe „wa-“ von „weinen“ gegen den Takt in drei Halbtonschritten die Höhe.
Klangbeispiel: ais‘ – h‘ – c“
Später geht es in fünf Halbtonschritten abwärts, wieder gegen den Takt. Eine klagende Bewegung.
Klangbeispiel: d“ – cis“ – c“ – h‘ – ais‘ (s. Noten)
Dreimal baut Bach einen Tritonus ein, ein schmerzvolles, unharmonisch klingendes Tonintervall.
Klangbeispiele: e“ – ais‘ und h‘ – f“ und f“ – his‘ (s. Noten)
Einmal springt die Melodie sogar eine große Septime in die Höhe. Es klingt wie ein Schmerzensschrei.
Klangbeispiel: ais‘ – g“
Und die Bassbegleitung darunter schraubt sich über zwei Takte in Halbtonschritten in die Höhe, um dann in Halbtonschritten wieder abzusenken. Es klingt wie ein unendlich langer Seufzer.
Klangbeispiel: c – cis – d – dis – e – fis – g – gis – g – fis – eis – e – dis – d – cis (s. Noten)
Alles zusammengenommen klingt die Szene so:
Adagio aus der Johannes-Passion Nr. 18 bzw. 12C
In Petrus sammelt sich alles, was man in einem solchen Moment empfinden mag: Scham, Enttäuschung über sich selbst, Leere, Verzweiflung. Und das alles äußert sich körperlich, in der unwillkürlichen Atmung beim Seufzen und Stöhnen, im Gliederschmerz, in der Übelkeit.
Wir hören den Choral „Ich ruf zu dir Herr Jesus Christ“, gesetzt von Johann Sebastian Bach – für Klavier arrangiert von Ferruccio Busoni:
„Ich ruf zu dir, Herr Jesu Christ, ich bitt, erhör mein Klagen; / verleih mir Gnad zu dieser Frist, / laß mich doch nicht verzagen. / Den rechten Weg, o Herr, ich mein, / den wollest du mir geben, / dir zu leben, / mein'm Nächsten nütz zu sein, / dein Wort zu halten eben.“
Musikalisches Intermezzo: Ich ruf zu dir, Herr Jesus Christ (arr.: Busoni)
Was sagt Jesu Blick aus?
Einen Antwort darauf findet man in Bachs Matthäuspassion, und zwar in den kommentierenden Chorälen. Sie geben wieder, wie Menschen damals die Erzählung des Evangelisten wahrnahmen, wie die gläubige Gemeinde die Szene erlebt.
Noch beim Mahl mit seinen Jüngern, also vor seiner Verhaftung, kündigt Jesus an: „In dieser Nacht werdet ihr euch alle ärgern an mir“. Darauf antwortet die gläubige Gemeinde mit diesen Choralzeilen:
Erkenne mich, mein Hüter, / mein Hirte nimm mich an.
Von dir, Quell aller Güter, / ist mir viel Guts getan;
Dein Mund hat mich gelabet / mit Milch und süßer Kost,
dein Geist hat mich begabet / mit mancher Himmelslust.
Dann sichert Petrus Jesus zu: „Wenn sich auch alle an dir ärgern, so will ich mich doch niemals ärgern.“ Darauf antwortet die gläubige Gemeinde wieder mit einem Choral:
Ich will hier bei dir stehen, / verachte mich doch nicht!
Von dir will ich nicht gehen, / wenn dir dein Herze bricht;
wenn dein Haupt wird erblassen / im letzten Todesstoß,
alsdann will ich dich fassen / in meinen Arm und Schoß.
Jesu Vorwissen steht dem guten Vorsatz des Petrus entgegen. „Erkenne mich, mein Hüter“, lautet deshalb die Bitte der gläubigen Gemeinde. Spätestens, als der Hahn kräht, werden alle verstanden haben: Der Hüter hat Petrus erkannt. Er hat ihn sogar frühzeitig erkannt. Er sieht Petrus, wie er ist. Er hört seinen laut vorgetragenen Vorsatz. Er entlarvt ihn nicht, stellt Petrus nicht bloß, und er klagt auch nicht, als sich sein guter Vorsatz in Luft auflöst.
Wenn Jesus sich also umdreht und nach Petrus schaut, verrät sein Blick, dass er alles schon gewusst hat, lange bevor es passierte. „Der Mensch sieht was außen ist, aber Gott sieht ins Herz.“ Und wenn Gott weiß, wie des Menschen Herz ist, dann weiß es auch Jesus. In Jesu Blick spiegelt sich dieses Vorwissen wider: aber keine Anklage, nichts Ermahnendes, kein Tadel, einfach nur das Illusionslose: „Ich habe es dir gesagt.“
Aus der Sicht von Bachs Matthäuspassion ist Jesus der Wissende. Das heißt nicht, dass er deshalb der souveräne Gott ist, der überlegen und unberührt von allem Unheil durch die Passion geht, weil er eben auch weiß, dass er von den Toten auferstehen wird. Im Gegenteil, die Evangelisten Matthäus und Lukas lassen Jesus kurz vor seiner Verhaftung im Garten Gethsemane um sein Leben flehen.
Ihnen zufolge weiß Jesus, welches Elend, welche Folter und welche Qualen er durchstehen muss. Er will aber nicht sterben. Und deshalb betet er: „Mein Vater, ist’s möglich, so gehe dieser Kelch an mir vorüber.“ Lukas lässt Jesus sogar Angstblut schwitzen. In späteren Abschriften der Bibel ist die Szene noch ausgeschmückter. Diese Bibelausgaben lassen Jesus Todesangst spüren und einen Engel dazu treten, der Jesus stützt.
Aber dann betet Jesus, wie in der dritten Bitte des Vaterunser: „Dein Wille geschehe.“ Und Jesus lässt Gottes Willen geschehen. Er lässt die Passion über sich ergehen. In der ganzen Weltliteratur gibt es wohl keinen einzigen Helden, der sich gegen seinen eigenen Willen so wehrlos, so passiv und so versöhnt mit sich selbst dem Foltertod hingibt.
Erst später, als Jesus von den Toten auferstanden ist, als er ihnen erscheint und ein Stück der Wegstrecke von Jerusalem nach Emmaus mit ihnen geht, wird den Jüngern deutlich: Es musste so geschehen. „Denn so haben es die Propheten schon angekündigt.“
Heute sagen wir deshalb: Der Messias kommt vom Vater her. Er teilt das Los der Menschheit und unterwirft sich der Herrschaft der Sünde. Er fährt hinunter zur Hölle, um dann von Gott erhöht zu werden.
Wir hören nun den Adventschoral „Nun komm der Heiden Heiland“, nach einem Satz von Johann Sebastian Bach, den Ferruccio Busoni für Klavier arrangiert hat.
„Nun komm, der Heiden Heiland,
der Jungfrauen Kind erkannt,
dass sich wunder alle Welt,
Gott solch Geburt ihm bestellt.
Er ging aus der Kammer sein,
dem königlichen Saal so rein,
Gott von Art und Mensch, ein Held;
sein’ Weg er zu laufen eilt.
Sein Lauf kam vom Vater her
und kehrt wieder zum Vater,
fuhr hinunter zu der Höll
und wieder zu Gottes Stuhl.“
Musikalisches Intermezzo: Nun komm der Heiden Heiland (arr.: Busoni)
Vor acht Jahren habe ich einen christlichen Friedensstifter kennengelernt. Er hat eine Ausbildung als Friedensstifter und ist als Quäker ein sehr gläubiger Christ. Er geht einem normalen Beruf nach. Aber in seinem Urlaub lässt er sich in den Irak entsenden, oder in die von Israel besetzten palästinensischen Gebiete, oder nach Kolumbien. Als Friedensstifter vermittelt er mit Worten zwischen Konfliktparteien – während der Konflikt noch klein ist und zwei verfeindete Gruppen persönlich und hasserfüllt aufeinandertreffen. Er redet mit den Leuten. Er sagt: „Als gläubiger Christ, als Quäker kann ich innere Ruhe ausstrahlen. Wenn mein Gegenüber in einer gefährlichen Lage merkt, dass von mir keine Gefahr ausgeht, können wir reden. Wenn ich hektisch werde, laufe ich Gefahr, erschossen zu werden.“
Und er sagt: „Ohne Hoffnung, Glaube und Liebe kann ich diese Arbeit nicht machen. Leute, die nur politisch motiviert sind, brennen irgendwann aus. Sie machen die Konflikte manchmal nur schlimmer. Sie müssen Ergebnisse sehen. Das muss ich nicht.“
Was dieser Mann über seine Motivation gesagt hat, macht mir Jesu Weg des Leidens verständlicher. Jesus will mit seinem Weg ans Kreuz keine Botschaft loswerden. Er liefert sich nicht deshalb Gottes Willen aus, damit andere von ihm lernen. Er macht es nicht aus pädagogischen Gründen, oder um ein Fanal zu setzen.
Sondern Jesus geht den Weg des Leidens, weil er Gottes Wille ist. Nur deshalb. Noch im Garten Gethsemane hat Jesus mit Gott gehadert. Er hat gebetet: „Lass diesen Kelch an mir vorübergehen.“ Und er hat hinzugefügt: „Aber nicht mein Wille, sondern dein Wille geschehe.“
Und der Herr wandte sich und sah Petrus an. Erst als Jesus sich umwendet, erfahren wir, dass er die ganze Zeit für Petrus in Sichtweite war. Lukas erzählt das nicht, und vielleicht möchte er damit sagen, dass Petrus Jesus nicht nur mit Worten verleugnet hat. Petrus guckt gar nicht hin.
Ginge es Jesus darum, ein Fanal zu setzen, sich als Vorbild widerstandslos in die Passion zu begeben, müsste er in diesem Moment verzweifeln. Nicht einmal sein vertrautester Jünger will wahrhaben, was ihm widerfährt. Jesus müsste verbrennen, wie es die Quäker, der Friedensstifter gesagt hat.
Aber Jesus wendet sich um und sieht Petrus an. Und die Blickrichtung kehrt sich um. Nicht Petrus sieht auf Jesus, das tut er ohnehin nicht. Sondern Jesus sieht auf Petrus. Er sieht ihn, wie er ist, in seiner ganzen Jämmerlichkeit. Petrus kann sich dem nicht entziehen. Er spürt, was richtig gewesen wäre, und dass er sich falsch verhält. In Jesu Blick ist Klarheit. Jesu Blick schenkt Klarheit.
Aber Jesu Blick ist eben auch ein liebender Blick, kein anklagender. „Mein Gegenüber spürt, dass von mir keine Gefahr ausgeht“, sagte mir der Quäker, der Friedensstifter. Von Jesus geht keine Drohung aus, kein Niedermachen. Von ihm geht Zuversicht aus, so wie er Petrus ansieht, wie er dich und mich ansieht. In seinem ganzen Elend sieht er durch meine falschen Komplizenschaft hindurch, und er sieht in mein Herz.
Und er sieht auch, was er mir noch alles zutrauen kann. Er bleibt bei dem, was er schon zuvor gesagt und gewusst hat. Er investiert das gleiche Vertrauen in mich, das gleiche Zutrauen: „Ich weiß, wer du bist, wie du dich fühlst, wie klein und jämmerlich. Aber ich sehe mehr in dir als du selbst. Du bist Petrus, du bist ein Fels. Auf dich will ich meine Kirche aufbauen.“ Amen.
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