Aufgerichtet und aufrichtig

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Aufgerichtet und aufrichtig

# Predigt

Aufgerichtet und aufrichtig

Liebe Gemeinde, oft schon habe ich von dieser Stelle aus Dietrich Bonhoeffer zitiert, und das möchte ich auch heute tun. Ich finde so vieles von dem, was er in der Zeit seiner Haft geschrieben hat, dicht, klar und überzeugend. Vor allem hilft es mir, meinen eigenen Glauben besser zu verstehen.

Heute möchte ich mit einem Gedicht von Dietrich Bonhoeffer einsteigen. Bonhoeffer wirkte als Theologe in der Zeit des Nationalsozialismus. Gleich ab April 1933 nahm er öffentlich Stellung gegen die nationalsozialistische Judenverfolgung. Er engagierte sich im Kirchenkampf gegen die Deutschen Christen und den Arierparagraphen im Berufsbeamtengesetz. Ab 1935 leitete er das Predigerseminar der Bekennenden Kirche in Finkenwalde, das illegal bis 1940 bestand. Ab 1938 schloss er sich dem Widerstand an, der ein Attentat auf Hitler vorbereitete. 1940 erhielt er ein Redeverbot und 1941 ein Schreibverbot. Am 5. April 1943 wurde er verhaftet und keine zwei Wochen vor Kriegsende hingerichtet.

Wichtig war für Bonhoeffer, dass Glauben und Handeln übereinstimmen. Und das macht ihn für uns so wichtig als Glaubenszeugen. 

Dietrich Bonhoeffer schrieb das Gedicht, das ich vorlesen möchte, im Untersuchungsgefängnis der Wehrmacht in Tegel. Dem Gedicht spürt man ab, dass Bonhoeffer auf einen gelingenden Umsturz hoffte. Und dass er bangte, die Widerstandsgruppe könne verraten oder entdeckt werden. Außerdem erlebte er zusammen mit den anderen Gefangenen Bombenangriffe in der näheren Umgebung des Tegeler Gefängnisses. Die Gefangenen durften nicht in die Luftschutzbunker und waren dem Risiko des Bombeneinschlags schutzlos ausgeliefert. In dieser Situation notierte er das Folgende:

Wer bin ich? Sie sagen mir oft,
ich träte aus meiner Zelle
gelassen und heiter und fest,
wie ein Gutsherr aus seinem Schloss.

Wer bin ich? Sie sagen mir oft,
ich spräche mit meinen Bewachern
frei und freundlich und klar,
als hätte ich zu gebieten.

Wer bin ich? Sie sagen mir auch,
ich trüge die Tage des Unglücks
gleichmütig lächelnd und stolz,
wie einer, der Siegen gewohnt ist.

Bin ich das wirklich, was andere von mir sagen?
Oder bin ich nur das, was ich selbst von mir weiß?
Unruhig, sehnsüchtig, krank, wie ein Vogel im Käfig,
ringend nach Lebensatem, als würgte mir einer die Kehle,
hungernd nach Farben, nach Blumen, nach Vogelstimmen,
dürstend nach guten Worten, nach menschlicher Nähe,
zitternd vor Zorn über Willkür und kleinlichste Kränkung,
umgetrieben vom Warten auf große Dinge,
ohnmächtig bangend um Freunde in endloser Ferne,
müde und leer zum Beten, zum Denken, zum Schaffen,
matt und bereit, von allem Abschied zu nehmen?

Wer bin ich? Der oder jener?
Bin ich denn heute dieser und morgen ein andrer?
Bin ich beides zugleich? Vor Menschen ein Heuchler
Und vor mir selbst ein verächtlich wehleidiger Schwächling?
Oder gleicht, was in mir noch ist, dem geschlagenen Heer,
das in Unordnung weicht vor schon gewonnenem Sieg?

Wer bin ich? Einsames Fragen treibt mit mir Spott.
Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott! 

Aus diesen Zeilen spricht viel Angst und viel Bangen. Aber versteckt hinter den Zeilen zeigt sich doch auch ein Mensch, der sich durch seinen Glauben aufrichten lässt – zumindest in den Augen der anderen Gefangenen. Auf mich machen Bonhoeffers Worte nicht den Eindruck, dass er etwas vorspielt. 

Sondern allen Zweifeln und Sorgen zum Trotz richtet ihn sein Glaube auf eine Weise auf, dass er gelassen, heiter und fest aus seiner Zelle treten kann, dass er frei, freundlich und klar zu seinen Bewachern sprechen kann, und dass er die Tage des Unglücks gleichmütig lächelnd und stolz tragen kann. 

Vorvergangenen Mittwoch im Frauenkreis habe ich dieses Gedicht vorgelesen. Wir hatten über die unsicher Weltlage und über unsere Ängste gesprochen: Was, wenn der Vergeltungskrieg der Israelis gegen die Palästinenser sich ausweitet? Was, wenn Russland gegen die Ukraine gewinnt? Was, wenn China Taiwan angreift? Auf einmal schien die politische Weltlage, die sonst so fern klingt, ein Teil unseres Lebens. Sie schien wie eine gewaltige, unaufhaltsame Drohkulisse, die einfach weiter verrückt spielt, und wir haben keinerlei Einfluss auf das, was sich da zusammenbraut. Wir sind der Entwicklung voll und ganz ausgeliefert. Und viele aus dem Frauenkreis teilten die Sorge, alles könne noch einmal alles so kommen, wie sie es in ihrer Kindheit erlebt hatten. Krieg, Zerstörung, Not, Bangen um das eigene Leben. 

Eine Frau fragte in die Runde: Warum tut Gott nichts dagegen?

Ich habe darauf keine Antwort, die uns allen die Angst nehmen könnte. Ich habe deshalb geantwortet, dass Gott uns zu freien Menschen geschaffen hat. Gott ist nicht allmächtig in dem Sinne, dass er die Zügel in der Hand hält und wir in Wirklichkeit nur seine Marionetten sind. Sondern wir sind wirklich frei geschaffen, verantwortlich für unser Tun, als einzelne Menschen und als gesamte Menschheit. Und dass es im Glauben eben nicht darum geht, die eigene Verantwortung auf Gott abzuschieben, damit er das Chaos beseitigt, das wir durch unsere kollektive Habsucht, unsere Rücksichtslosigkeit und unseren Egoismus selbst zu verantworten haben.  

Sondern dass Gott im Glauben unser Gegenüber ist, das uns aufrichtet. Und dass wir uns an Gott aufrichten können, so wie es Bonhoeffer offenkundig getan hat. Aufrichten in zweierlei Hinsicht: 

Einerseits, dass wir aufgerichtet sind aus unserer Depression, dass wir aus Gott eine Kraft ziehen können, auch das Allerschwerste durchzustehen, erhobenen Hauptes durchzustehen. 

Und andererseits, dass wir aufgerichtet sind, um aufrichtig zu bleiben, dass wir aus Gott eine Kraft ziehen, damit wir in egal welcher Situation und in egal welchem Chaos, das über uns hereinbricht, anständige Menschen bleiben können, die sich auch im Nachhinein noch im Spiegel ansehen können, ohne sich vor sich selbst zu ekeln. Das ist nach dem Zweiten Weltkrieg vielen Deutschen nicht vergönnt gewesen. 

Was genau richtet uns zu Gott auf? Der Predigttext für den heutigen Sonntag gibt darauf die Antwort. Er ist ein Auszug aus dem zweiten Korintherbrief, 4. Kapitel, den der Apostel Paulus verfasst hat, und mit dem er der Gemeinde in Korinth eben dies zugesprochen hat: Wie sich die Christinnen und Christen der Gemeinde aufrichten lassen sollen durch Gott, der aus Dunkel Licht macht – 

und durch Jesus Christus,
der sich uns von Angesicht zu Angesicht gezeigt hat,
der Gottes Liebe und die Achtung zu allen Menschen vorgelebt hat
und dessen übergroße Liebe weiterlebt in den Menschen,
die ihm begegnet sind und auch in den Nachgeborenen. 

Paulus formuliert das so: 

„Denn Gott, der da sprach: Licht soll aus der Finsternis hervorleuchten, der hat einen hellen Schein in unsre Herzen gegeben, dass die Erleuchtung entstünde zur Erkenntnis der Herrlichkeit Gottes in dem Angesicht Jesu Christi.

Wir haben aber diesen Schatz in irdenen Gefäßen, auf dass die überschwängliche Kraft von Gott sei und nicht von uns. 

Wir sind von allen Seiten bedrängt, aber wir ängstigen uns nicht. Uns ist bange, aber wir verzagen nicht. 

Wir leiden Verfolgung, aber wir werden nicht verlassen. Wir werden unterdrückt, aber wir kommen nicht um. 

Wir tragen allezeit das Sterben Jesu an unserm Leibe, auf dass auch das Leben Jesu an unserm Leibe offenbar werde.“

Der Glaube ist der Widerschein von dem Licht, das Gott uns in unsere Herzen gibt. Es ist diese Erleuchtung, die in der Begegnung mit Jesus von Nazareth entsteht, dem Menschen, der sich Menschen zuwandte, und der aufrecht in die Passion ging, und den Gott zu sich erhöhte. 

Glaube ist der Mut in schweren Zeiten. Glaube ist die Menschenliebe zu denen, die am Rande der Gesellschaft stehen. Glaube ist die Kraft, sich denen zu verweigern, die Böses im Schilde führen. 

Uns haben in den letzten Wochen wieder so aufwühlende Dinge bewegt. Erst Berichte über eine politische Partei, die offenkundig Menschenrechte aufweichen und zerstören will. Gegen eine Partei, die aus Mitbürgern, aus Deutschen, aus Unseresgleichen Fremde machen will. Zum Glück haben viele Menschen dagegen in den Straßen unserer Großstädte öffentlich protestiert.

Hinzu kam am vergangenen Donnerstag die Meldung über eine Studie über die Missbrauchsfälle in der evangelischen Kirche. Und darüber, wie die Berufskaste der Pfarrpersonen untereinander eine größere Verbundenheit spürt als mit den Opfern von sexueller Gewalt. 

Und egal was ich mir anschaue, aus dieser Haltung heraus, die Paulus beschreibt, die auch Bonhoeffer beschreibt, wird mir unmissverständlich klar, wie ich mich als Christ zu positionieren habe, was anständig ist und was unanständig; was Recht ist und was Unrecht; was Gottes Wille ist, und was nicht. 

Gott, der da sprach: Licht soll aus der Finsternis hervorleuchten, der hat einen hellen Schein in unsre Herzen gegeben, dass die Erleuchtung entstünde zur Erkenntnis der Herrlichkeit Gottes in dem Angesicht Jesu Christi

Ich höre vor allem Mut aus diesen Zeilen. Und, liebe Liv, ich möchte auch dir Mut zusprechen, als gläubige Christen erhobenen Hauptes und stark durchs Leben zu gehen. 

Dass du allen Zweifeln und Sorgen zum Trotz gelassen, heiter und fest bleiben kannst. Dass du frei, freundlich und klar zu deinen Widersachern sprechen kannst. Dass du auch Tage des Unglücks gleichmütig lächelnd und stolz tragen kannst. Dass du, selbst wenn du bedrängt wirst, dich nicht ängstigst. Dass du, auch wenn dir bange ist, nicht verzagst. Dass du auch dann, wenn dir jemand Übles will, du dich doch nie verlassen fühlst. 

Liebe Liv, das wünsche ich dir. Das wünsche ich den Damen aus dem Frauenkreis. Das wünsche ich uns als Gemeinde. Und ich bin zuversichtlich, dass Gott uns die Kraft verleiht, jedes Ungemach durchzustehen, wenn wir diese Kraft brauchen und darum bitten. Amen

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