Anderen den Weg bereiten

Anderen den Weg bereiten

Anderen den Weg bereiten

# Predigt

Anderen den Weg bereiten

Liebe Gemeinde, 

was für ein Wegbereiter sind Sie? Wie prägen Sie Menschen auf ihrem Lebensweg, was für Spuren hinterlassen Sie im Leben anderer Menschen – und auf welche Wege bereiten Sie sie vor? 

Meine Frau bekam neulich eine Mail von einer früheren Praktikantin. Sie hatte ein Pflichtpraktikum bei ihr im Rahmen ihrer Ausbildung zur Logopädin absolviert. Es war eine Mail ohne Anlass, einfach so. "Das Praktikum bei dir war das schönste von allen", stand in der Mail. Und ich bin mir sicher, dass es so war. 

Welche Spuren hinterlassen wir? Vor 10 Monaten predigte ich an dieser Stelle über die Lehrerin hier am Leibniz Gymnasium, Ayla Tepe, die sich an einen prägenden Satz ihrer früheren Grundschullehrerin Frau Pfannkuch erinnerte: „Du schaffst das!“Ihre Eltern waren wenige Jahre zuvor aus der Türkei zugewandert und konnten ihrer Tochter noch bei gar nichts wirklich zur Seite stehen und sie unterstützen. Aber Ayla schaffte das Gymnasium, und heute ist sie Gymnasiallehrerin. 

Dass wir andere Menschen prägen können, ihren Lebensweg zum Guten beeinflussen können, das sehen wir in jungen Jahren vielleicht noch sehr optimistisch. Ich weiß, dass unsere jungen Teamerinnen und Teamer, kaum sind sie konfirmiert, sehr hohe Ansprüche an die Konfis nach ihnen stellen. 

Liebe Teamer, ihr wolltet doch eigentlich vor jedem Gottesdienst die Handys der Konfis einsammeln! Ihr hattet auf dem Elternabend die Eltern um Erlaubnis gebeten, und die Eltern waren von eurem Engagement beeindruckt! Habt ihr alle Handys eingesammelt? Ihr könnt es gerne jetzt noch nachholen. 

Als ich ein junger Vikar war, habe ich mir ungeheuer viel Lernstoff für den Konfirmandenunterricht vorgenommen. Simon Isser, mit dem zusammen ich heute die Konfirmanden unterrichte, ist schon 40 Jahre alt. Das war ich auch – vor 18 Jahren. Er und ich sehen das abgeklärter: Eine erfüllt Zeit miteinander haben, das wäre unser Anspruch das eine Jahr mit den Konfis. Und wenn wir das erreichen, haben wir schon einen Menge geschafft. 

Vergangenen am Mittwoch habe ich bei der Vorbereitung zu dieser Predigt mit Siegrid Weiß und Sieglinde Ebers in meinem Pfarrzimmer gesessen, und wir haben über dem heutigen Predigttext gebrütet. Es ging, wie gesagt, um Johannes den Täufer, den Wegbereiter Jesu. Siegrid Weiß und Sieglinde Ebers haben sich gefragt, wie sie selbst Wegbereiterinnen waren – für ihre Kinder, für ihre Enkelkinder. Sie waren erstaunt, wie anders ihre Kinder und Enkelkinder geworden sind, wie anders als alles, was sie erwartet oder damals sich erhofft hätten. Nicht dass sie heute enttäuscht sind, ganz und gar nicht. Aber das Leben schlägt doch sonderbare Wege ein, und das ist das eigentlich Erstaunliche. Nichts von dem, was man an Wegen bereiten wollte, wird wahr – oder fast nichts. Sondern alles scheint irgendwie anders. Und man staunt umso mehr, je älter man wird. 

Können wir überhaupt Wegbereiter sein, und wenn ja, wie?

Johannes der Täufer ist der Inbegriff eines Wegbereiters im Neuen Testament. Dreimal ist von ihm im Matthäusevangelium die Rede. Das erste Mal bei der Taufe Jesu, das dritte Mal, als der Tyrann Herodes ihn ermorden lässt. Und das zweite Mal in unserem Predigttext. 

Das erste Mal bei der Taufe. Johannes ist ein Täufer, einer der sich in die Wüste zurückzieht und die Menschen harsch zur Buße aufruft. Ändert euch! So geht es nicht weiter! Ihr verderbt alles! Krempelt euer Leben komplett um, sonst seid ihr dem Untergang geweiht. 

Johannes ist hart. Seine Worte sind harsch. Aber Johannes ist mir sympathisch, weil er Recht hat. Johannes ist die Greta Thunberg der Bibel. Man würde sich wünschen, dass alle Menschen so werden, wie Johannes es fordert. Dann hätten wir Frieden auf der Welt, Frieden hier unter uns, Frieden auf der Weltbühne, Frieden zwischen Mensch und Natur. 

Aber wir sind nicht die besseren Menschen geworden. Sondern wir versagen Tag für Tag. Und unsere Umkehr, die wir doch in der Taufe bezeugt und besiegelt haben wollten, die brauchen wir jeden Tag aufs Neue. Und deswegen kommt zur Taufe des Johannes noch die Taufe mit dem Geist hinzu, die Taufe, die der Auferstandene Christus seinen Jüngern aufträgt: Die Taufe mit dem Heiligen Geist, dem Tröster, der unsrer Schwachheit aufhilft, der für uns eintritt mit unaussprechlichem Seufzen. Die Taufe des Johannes ist groß. Aber sie weist auf eine noch größere Taufe hin: Die Taufe des Christus. 

Das dritte Mal kommt Johannes im Matthäusevangelium als Wegbereiter vor, als der Tyrann Herodes ihn ermorden lässt. Sie kennen die Geschichte: Die schöne Salome tanzt den Schleiertanz. Herodes ist hin und weg und verspricht ihr alles, was sie will. Salome fordert den Kopf des Täufers. Herodes muss liefern, obwohl er den Zorn des einfachen Volkes wegen dieser Freveltat fürchtet. Er lässt Johannes enthaupten, aber er tut es im Verborgenen. 

Johannes wird in einem weiteren Sinn zum Wegbereiter Jesu: Er geht unschuldig in das Martyrium. Er legt ein Zeugnis ab für seinen Glauben, das ultimative Zeugnis. Er steht mit seinem Leben für das ein, was er gepredigt hat: Anstand, Gerechtigkeit, Rechtschaffenheit, Menschenliebe, Nächstenliebe. 

Wie stark wirkt doch ein Mensch nach, wenn er diese letzte Konsequenz zu tragen bereit ist. Sie merken es vielleicht an meinen Predigten, wie stark Dietrich Bonhoeffer mit seinem Zeugnis, mit seinem Martyrium auf mich nachwirkt. Dietrich Bonhoeffer, der noch in den letzten Tagen der Nazityrannei mit seinem Leben für seinen anständigen und aufrechten Weg bezahlt hat. 

Mit seinem Martyrium wird Johannes zum Wegbereiter Jesu. Aber Johannes ist anders als Jesus. Er ist zwar mutig wie Jesus, er kann Klartext sprechen. Aber anders als Johannes verurteilt Jesus nicht, sondern er vergibt den Verurteilten, holt sie zurück in die Gemeinschaft der Lebenden. 

Johannes‘ Martyrium ist auch deshalb anders als das von Jesus, weil Herodes Johannes heimlich töten lässt. Er fürchtet den Aufruhr. Jesus hingegen wird öffentlich getötet. An ihm, dem ganz und gar Unschuldigen, wird ein Exempel statuiert - und wird so zugleich die menschliche Gerichtsbarkeit ad absurdum geführt. 

Johannes wird Opfer tyrannischer Willkür. Aber Jesus wird Opfer menschlicher Gerechtigkeitsvorstellungen. Und so fällt Jesus nicht jemandem zum Opfer, über den wir uns erheben können, weil er ja ein Tyrann ist. Jesus fällt einer Selbstgerechtigkeit zum Opfer, die unsere eigene Selbstgerechtigkeit sein könnte. Und auch hier ist Jesus der Vergebende, der die Arme weit ausbreitet, so dass wir in wenigen Monaten in der Passionszeit singen können: 
Erscheine mir zum Schilde, zum Trost in meinem Tod, und lass mich sehn dein Bilde in deiner Kreuzesnot. 

Johannes setzt mit seinem Tod Maßstäbe, aber Christus wird zum Retter und Erlöser. Das waren das erste und das dritte Mal.

Ein zweites Mal kommt Johannes in unserem heutigen Predigttext als Wegbereiter Jesu vor. Ich lese Ihnen aus dem Matthäusevangelium vor, Kapitel 11, Verse 2 bis 10:  

Da aber Johannes im Gefängnis von den Werken Christi hörte, sandte er seine Jünger und ließ ihn fragen: Bist du, der da kommen soll, oder sollen wir auf einen andern warten? 
Jesus antwortete und sprach zu ihnen: 
Geht und sagt Johannes, was ihr hört und seht: 
Blinde sehen und Lahme gehen, Aussätzige werden rein und Taube hören, Tote stehen auf und Armen wird das Evangelium gepredigt; selig ist, wer sich nicht an mir ärgert.
Als sie fortgingen, fing Jesus an, zu dem Volk über Johannes zu reden: 
Was wolltet ihr sehen, als ihr in die Wüste hinausgegangen seid? Ein Schilfrohr, das vom Wind bewegt wird? 
Oder was wolltet ihr sehen, als ihr hinausgegangen seid? Einen Menschen in weichen Kleidern? 
Siehe, die weiche Kleider tragen, sind in den Häusern der Könige. 
Oder was wolltet ihr sehen, als ihr hinausgegangen seid? Einen Propheten? Ja, ich sage euch: Er ist mehr als ein Prophet. 
Dieser ist’s, von dem geschrieben steht: »Siehe, ich sende meinen Boten vor dir her, der deinen Weg vor dir bereiten soll.«

Soweit die Worte aus dem Matthäusevangelium. 

Wir müssen aufpassen, dass wir nichts in diese Worte hineinlesen, was da nicht steht. Wir müssen aufpassen, dass wir auf der Sachebene bleiben, und keine Beziehungsebene hineindeuteten. 

Johannes fragt Jesus: „Bist du, der da kommen soll?“ Ich lese daraus keine Skepsis, keine Infragestellung, keine Konkurrenz. Ich lese daraus, was da steht: Johannes will es wissen. 

Seine Frage setzt sogar Vertrauen voraus, Zutrauen: „Ich rechne damit, dass du sein könntest, der da kommen soll. Aber du musst es mir schon noch bestätigen.“ Johannes hätte auch sagen können: „Wenn du es von dir sagst, dann will ich es dir glauben.“

Jesus antwortet sehr klar: „Blinde sehen und Lahme gehen, Aussätzige werden rein und Taube hören, Tote stehen auf und Armen wird das Evangelium gepredigt.“  Auch hier kann man wieder die Beziehungsebene hineindeuten und diesen Satz lesen, als sei Jesus genervt. Als würde er sinngemäß sagen: „Ja klar, siehst du doch, Blinde sehen, Lahme gehen, was sonst soll ich sein.“ 

Aber ich lese den Satz anders. Ich lese nur das, was dort steht. Jesus sagt sinngemäß: „Nicht ich sage von mir, dass ich bin, der da kommen soll. Sondern die Wunder sagen es von mir; ich trage keine großen Ansprüche vor mir her, sondern ich bestätige dir, dass in meiner Gegenwart Dinge in Erfüllung gehen, die vorausgesagt sind über den, der kommen soll. 

Es ist ein vermitteltes Gespräch, vermittelt durch die Jünger des Johannes, die eine Anfrage vom gefangenen Johannes an Jesus herantragen und seine Botschaft wieder zu Johannes ins Gefängnis zurücktragen. Aber es ist ein würdiges Gespräch von zweien, die einander die Rolle zubilligen, die sie nun einmal haben. 

Kaum sind die Jünger des Johannes fort, redet Jesus mit seinen Jüngern über Johannes. Aber er zerreißt sich nicht das Maul, sondern er redet anerkennend. 

„Wen wolltet ihr denn sehen, als ihr in die Wüste hinausgegangen seid, zum Bußprediger Johannes? Ihr wolltet keinen sehen, der umknickt wie ein Schilfrohr im Wind, sondern ihr wolltet jemanden mit Rückgrat sehen. Den habt ihr gesehen. 

Ihr wolltet keinen sehen, der weiche Kleider trägt, wie die Reichen und Schönen sie tragen. Ihr wolltet einen sehen, der seinen Weg des Anstands und der Gerechtigkeit mit aller Konsequenz geht. Und den habt ihr gesehen.“ 

Ich mag diese Worte Jesu, weil sie vom gleichen Respekt und vom gleichen Anstand getragen sind, wie die Worte des Johannes. 

Johannes hat Zutrauen zu Jesus, und Jesus hat Zutrauen zu Johannes. Und ich glaube, dass in diesem Gespräch deutlich wird, was der Predigttext uns heute mitgeben will über die letzte, noch nicht genannte Weise, den Weg für andere zu bereiten. 

Die erste war die Ermahnung, die Bußpredigt, die Aufforderung umzukehren von den schlechten Wegen. 

Die dritte war das Martyrium, die Bereitschaft, den Weg des Anstands und der Rechtschaffenheit mit letzter Konsequenz zu gehen. 

Aber der zweite Weg ist vielleicht der schönste von allen: Es ist der Weg des Zutrauens. 

Johannes offenbart mit seiner Nachfrage, dass er Zutrauen hat. Dass seine Hoffnung nicht nur utopisch ist, also etwas, das zu groß ist, als dass es je Wirklichkeit werden kann; also nur eine Scheinhoffnung, vor sich hergetragen wie eine Monstranz.  

Sondern sein Zutrauen ist getragen vom Drängen nach Verwirklichung. Ein echter Wunsch, dass sich die Verhältnisses ändern mögen, dass Blinde sehen und Lahme gehen, Aussätzige rein werden und Taube hören, Tote aufstehen und Armen das Evangelium gepredigt wird.

Johannes hofft wirklich. Also saugt er jedes Anzeichen, dass seine Hoffnung wahr werden könnte, auf. Er fällt nicht einfach auf schöne Geschichten herein, sondern fragt nach: Bist du es wirklich? Und Jesus bestätigt es ihm. 

Aber wir haben schon zweimal im Matthäusevangelium sehen können, wie viel größer die neue Botschaft Jesu ist. Im Nachsatz zu dieser Geschichte steht etwas, das ich nicht vorgelesen habe. Da heißt es sinngemäß: „Auf Erden ist Johannes groß. Aber der kleinste im Himmelreich ist größer als er.“ Und auch das ist auf der Sachebene zu lesen. Darin steckt wieder keine Beziehungsbotschaft, mit der Jesus Johannes niedermachen würde. Sondern Johannes hat Zutrauen in eine große Utopie. 

Aber was würde er sagen, wenn er uns hier alle sitzen sähe? 

Er würde uns sehen, und er wäre wohl bitter enttäuscht. Johannes ist im Glauben gestorben, dass der Messias kommt, der endlich die Welt gerecht machen würde. Dass mit dem Messias der Friedensbringer zur Welt kommt, dass das Wort Fleischwird wird und sich in die Menschen einprägt, so dass neue Menschen entstehen. Neue Menschen, die endlich allen Kriegen, allem Hass und aller Gewalt ein Ende bereiten. 

Wenn Johannes  hier stünde und uns sehen würde, er wäre enttäuscht von uns. Er würde sagen: „Ich erkenne euch wieder. Ihr seid ja immer noch so, wie die Menschen, die ich damals zur Buße aufrief. Immer noch herrschen Krieg und Chaos, Ungerechtigkeit und Vorteilsnahme, Zynismus und Gewalt. Es hat sich nichts geändert. Der Messias, er kam umsonst.“ 

Jesus hat auch großes Zutrauen, wie Johannes. Aber was würde er sagen, wenn er jetzt hier stünde, in der Friedenskirche. Ich glaube, er würde sagen: „Ich erkenne euch wieder. Immer noch herrschen Krieg und Chaos, Ungerechtigkeit und Vorteilsnahme, Zynismus und Gewalt. Ihr habt es nicht geschafft, was ihr euch vorgenommen habt. Ihr wolltet den Weg bereiten zu Größerem. Ihr wolltet die Welt retten, in meine Fußstapfen treten.“ 

Und Jesus würde seine Arme ausbreiten und uns zurufen: „Kommt her zu mir, ihr, die ihr mühselig und beladen seid. Ich erkenne euch wieder. Ja, ich kenne euch, und ich habe euch schon immer erkannt. Ihr seid die Meinen.“ Amen.

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