Lasst mich rein!

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Lasst mich rein!

# Predigt

Lasst mich rein!

Liebe Gemeinde, 

wir sind es gewohnt, am Anfang des Gottesdienstes Psalmen zu beten – aber hören wir hin, was wir beten? Bestimmt bleiben Sie immer mal wieder an der einen oder anderen Zeile hängen und fühlen sich mal mit Ihren Gefühlen verstanden, mal finden Sie ein treffendes Bild für Gefühle, die Sie kennen, mal wundern Sie sich oder ärgern sich sogar. 

Aber dass man über einen Psalm als Ganzen nachdenkt – was steht da eigentlich, was ist die Grundaussage, worauf läuft das alles hinaus? – dafür ist in der Kürze eines Gottesdienstes keine Zeit. 

Typisch für Psalmen ist, dass alles doppelt gesagt wird, auch in Psalm 24, den wir eingangs im Gottesdienst gebetet haben: 

„Die Erde ist des HERRN und was darinnen ist,“ heißt es,
und dann, noch einmal: „der Erdkreis und die darauf wohnen.“  

„Denn er hat ihn über den Meeren gegründet
und über den Wassern bereitet.  

Die anschließende Frage wird ebenso gedoppelt:

„Wer darf auf des HERRN Berg gehen,
und wer darf stehen an seiner heiligen Stätte?“ 

Auch die Antwort kommt zweifach: 

„Wer unschuldige Hände hat und reinen Herzens ist,
wer nicht bedacht ist auf Lüge und nicht schwört zum Trug“ 

Der Nachsatz ebenso: 

„der wird den Segen vom HERRN empfangen
und Gerechtigkeit von dem Gott seines Heils.“

Diese Doppellungen nennt man Parallelismus der Glieder. Parallelismen sind in der hebräischen Dichtung das, was für uns im Deutschen der Endreim ist. Die Parallelismen sind Ausdrucksmittel der hebräischen Poesie: Sie ordnen Aussagen einander zu, spiegeln oder heben voneinander ab, beziehen aufeinander oder schaffen gezielt Gegensätze – wie auch Endreime in der deutschen Dichtung gleichklingende Wörter aufeinander beziehen, weil sie sich gleichen oder widersprechen, weil sie sich ergänzen oder voneinander wegführen. So schafft man zusätzliche indirekte Aussagen, die man gar nicht explizit machen muss. 

Manchmal sind die Psalmenlieder wie Dialoge, als würden sich unterschiedliche Sprecher abwechseln. Manchmal enthalten sie plötzliche Stimmungsumschwünge. Was einem dann fehlt, ist die Zuordnung: Wer spricht gerade, und wann spricht jemand. Liegt vielleicht eine Zeit zwischen der niedergeschlagenen und der zuversichtlichen Aussage? Fehlt da vielleicht etwas, das man sich dazu denken muss?

Beim 24. Psalm kann man sich eine Szene dazu vorstellen. Denken Sie an eine Prozession. Sie beginnt mit einer Anrufung Gottes. Die Menschen versammeln sich um eine große Lade, den Gottesthron. Sie werden mit dieser Lade den Tempelberg hinaufziehen zum Gottestempel. Aber zunächst werden sie auf diesen Gott eingeschworen. 

„Die Erde ist des HERRN und was darinnen ist,
der Erdkreis und die darauf wohnen.“
Denn er hat ihn über den Meeren gegründet
und über den Wassern bereitet.“  

Dieser Herr über die Erde und ihre Bewohner sitzt nun also auf dem Thron, der sich gleich mit der Prozession in Richtung Tempel bewegt. Und nun setzt sich der Zug in Gang. Bevor sie aber den Berg hinaufziehen, fragt ein Priester die Prozessionsgemeinde:

„Wer darf auf des HERRN Berg gehen,
und wer darf stehen an seiner heiligen Stätte?“ 

Die Antwort spricht womöglich das ganze Volk. Es ruft zurück: 

„Wer unschuldige Hände hat und reinen Herzens ist,
wer nicht bedacht ist auf Lüge und nicht schwört zum Trug,
der wird den Segen vom HERRN empfangen
und Gerechtigkeit von dem Gott seines Heils.
Das ist das Geschlecht, das nach ihm fragt,
das da sucht dein Antlitz, Gott Jakobs.“ 

Das heißt: Mitziehen darf nur, wer kultisch rein ist. Vermutlich beginnt also der Zug hinauf zum Tempelberg mit einem Reinigungsritus, vielleicht einem Bad – oder damit, dass die Gemeinde als Ganze entsühnt wird. 

Und nun zieht die Prozession mit der Lade den Berg hinauf. Sie kommt bis ans Tor zur Tempelanlage. Es ist verschlossen. Oben stehen Wächter. Natürlich sehen sie, dass dort die jährliche Prozession vor der Tür steht. Aber sie machen die Tür nicht gleich auf, denn es gehört zur Liturgie, dass das Volk zweimal ruft: 

„Machet die Tore weit und die Türen in der Welt hoch,
dass der König der Ehre einziehe!“ 

Die Wächter rufen zurück: 

„Wer ist der König der Ehre?“ 

Sie tun, was Wächter immer tun. Sie sagen: „Nenne das Passwort, dann lass ich dich rein.“ Dieses Ritual kennen wir heute noch, jedes Mal wenn wir unsere Computer hochfahren, oder wenn wir bestimmte Computerprogramme aufrufen. 

Die Gemeinde unten kennt das Passwort und ruft: 

„Es ist der HERR, stark und mächtig, der HERR, mächtig im Streit.“ 

Die Wächter öffnen die Tür noch nicht, obwohl das Passwort das richtige war. Zum Ritual gehört es eben, dass das Volk noch einmal rufen muss:

„Machet die Tore weit und die Türen in der Welt hoch,
dass der König der Ehre einziehe!“ 

Ebenso gehört zum Ritual, dass die Wächter noch einmal nach dem Passwort fragen:

„Wer ist der König der Ehre?“ 

Und wieder ertönt es von unten: 

„Es ist der HERR Zebaoth; er ist der König der Ehre.“

Alles weitere, was dann mit der Prozession passiert, ist nicht überliefert, denn hier endet der Psalm.  

Was Sie hier lesen, gehört also zu einer Liturgie rund um den jüdischen Tempel in Jerusalem. Nun wissen wir alle, dass dieser Tempel da nicht mehr steht. Er wurde noch zu Zeiten der Römer zerstört. Was also tun mit einem Psalm, der für den Tempelkult geschrieben ist? Man deutet ihn um. 

Der Tempel, in den Gott einzieht, ist nun nicht mehr der steinerne Tempel in Jerusalem. Es ist nun der Tempel unserer Herzen – weshalb wir nach der Predigt in der vierten Strophe von „Macht hoch die Tür“ singen werden: 

„Macht hoch die Tür, die Tor macht weit, eu’r Herz zum Tempel zubereit.“

Und der Herr der Herrlichkeit, er ist nicht nur der Schöpfer der Welt, der auf der Lade thront, er ist auch das Kind in der Krippe – und er ist der Heiland, der auf einem Esel in die Stadt einreitet – weshalb wir vor der Predigt passend zum Wochenspruch gesungen haben: 

„Tochter Zion, freue dich, / jauchze laut, Jerusalem! / Sieh, dein König kommt zu dir, / ja, er kommt, der Friedefürst.“ 

Die jüdischen und die christlichen Gemeinden eignen sich den alten jüdischen Psalm jeweils auf ihre eigene Weise an. Wir spiritualisieren ihn, deuten ihn auf innere Vorgänge, auf das, was in unserer Seele vor sich geht.  

Aber nicht nur – und deshalb brauchen wir den alten Psalm, um das Neue auszudrücken. Weil das Alte weiterhin mitschwingt. Wir erleben Gott ja als einen Türöffner. Und wir wollen selbst auch Türöffner sein.

Deswegen haben wir ja versucht, hier im Stadtteil in der Adventszeit einen lebendigen Adventskalender in die Wege zu leiten, so dass sich die Türen hier im Stadtteil für uns öffnen. 

Hat sich eigentlich jemand für das Plätzchenbacken in der freireligiösen Gemeinde angemeldet? Das ist heute um 14 Uhr am Schillerplatz. Ich werde hingehen.  

Und morgen um 15 Uhr öffnet sich die Tür zu unserem Kindergarten in der Tulpenhofstraße. Da organisieren die Eltern einen kleinen Weihnachtsmarkt. 

Übermorgen besprayen die Konfis Holzwände vor der Kirche, sofern das Wetter mitspielt. Ihre Kunst wäre dann um 18 Uhr zu bewundern – auch diese Aktion soll wie ein Türöffner wirken und Menschen zusammenbringen.  

Wer am Freitag früh aus dem Bett kommt, kann um 6 Uhr früh in die Rorate-Messe der katholischen St. Peter Kirche, Ecke Berliner Straße / August-Bebel-Ring. 

Und nächstes Wochenenden öffnen wir das Tor zum Pfarrgarten und laden am Samstag und am Sonntag zum Weihnachtszauber ein, mit Ständen und Musik und Glühwein und viel Adventsstimmung. 

Macht die Tore weit und die Türen in der Welt hoch – das gilt auch für Stefan Hering, den wir in diesem Gottesdienst als unseren neuen Kirchenvorstandsvorsitzenden willkommen heißen. 

Macht die Tore weit auch für Janina Wong, die schon über ein Jahr als Gemeindepädagogin in unserer Gemeinde segensreich wird, seit dem 1. November aber fest angestellt ist, worüber wir uns sehr freuen. 

Macht die Tore weit, nicht nur um das Herz zu öffnen für Stefan und Janina in ihren neuen Aufgaben, sondern auch um mit ihnen hinauszugehen in die weite Welt, um Neues auszuprobieren. 

Macht die Tore weit, macht die Türen in der Welt hoch, dass der König der Ehre einziehe. Amen.

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