Tröstende Worte statt Predigerdeutsch

Tröstende Worte statt Predigerdeutsch

Tröstende Worte statt Predigerdeutsch

# Predigt

Tröstende Worte statt Predigerdeutsch

Liebe Gemeinde, 

wie Sie vielleicht wissen, müssen alle, die Theologie studieren, zuvor Althebräisch, Altgriechisch und Latein lernen. Lauter ausgestorbene Sprachen. Selten hat mir der Sinn dessen so eingeleuchtet, wie bei der Vorbereitung zu dieser Predigt. 

Ob Sie den Predigttext für den heutigen Sonntag auf Deutsch oder auf Griechisch lesen, macht einen himmelweiten Unterschied. Es ist ein Text aus dem Jakobusbrief, den Martin Luther eine stroherne Epistel genannt hat. Warum strohern? Weil in ihr lauter Gesetz und kaum Evangelium zu finden ist. Lauter Regeln, lauter Vorschriften, wie man sich zu verhalten hat, wie man zu sein hat – und kaum etwas Aufbauendes, kaum etwas Tröstendes. 

Lese ich den Predigttext in deutscher Übersetzung, kann ich dem voll zustimmen. Nicht, weil Luthers Übersetzung so schlecht ist. Ich glaube, ich würde sie nicht besser hinbekommen. Aber ich möchte Ihnen einmal versuchen zu zeigen, was beim Übersetzen alles verloren geht. Ich lese den Predigttext zunächst in Luthers Maßstäbe setzender Übersetzung: Jakobus 5,13-16. Dort steht:

Leidet jemand unter euch, der bete; ist jemand guten Mutes, der singe Psalmen. Ist jemand unter euch krank, der rufe zu sich die Ältesten der Gemeinde, dass sie über ihm beten und ihn salben mit Öl in dem Namen des Herrn. Und das Gebet des Glaubens wird dem Kranken helfen, und der Herr wird ihn aufrichten; und wenn er Sünden getan hat, wird ihm vergeben werden. 

Bekennt also einander eure Sünden und betet füreinander, dass ihr gesund werdet. Des Gerechten Gebet vermag viel, wenn es ernstlich ist.

Was lerne ich aus der deutschen Übersetzung? 

  • Wenn wir leiden, sollen wir beten. 
  • Wenn es uns gut geht, sollen wir singen. 
  • Wenn wir krank sind, sollen wir Mitchristen zu uns rufen. 
  • Wenn wir sündigen, sollen wir bekennen. 
  • Und wenn wir ernsthaft beten, wird alles wieder gut. 

So gesehen, eine stroherne Epistel.

Auf Griechisch finde ich keine moralischen Anweisungen vor. Das Bild, was einem beim Wort "Krankheit" vor Augen steht, ist das eines schwachen Menschen. Die Krankheit kann also auch mehr sein als medizinisch diagnostizierbare. Die Sünde ist weniger moralisch aufgeladen; es ist eher eine Verfehlung, wie wenn ein Pfeil sein Ziel verfehlt – ein sich Verirren, ein Verlorensein. Das Wort für „bekennen“ kann ebenso „loben“ heißen und meint eher, „etwas laut aussprechen“. 

Alles in allem klingt der Text für mich eher wie der Versuch auszuloten, wie eine angemessene Reaktion in einer bestimmten Situation aussehen könnte: 

  • Wie wäre es, wenn du im Elend nicht klagst, sondern betest? 
  • Wie wäre es, wenn du in deinem Glück nicht protzt, sondern singst? 
  • Wie wäre es, wenn du dir in deinen schwachen Momenten Hilfe holst? Betet miteinander. Salbt einander mit Salböl. 
  • Wie wäre es, wenn du das, was dich bedrückt, laut aussprichst. 

Zeile für Zeile übersetzt klingt der Text so:    

Ein Leidender unter euch bete, ein Fröhlicher singe (Κακοπαθεῖ τις ἐν ὑμῖν, προσευχέσθω· εὐθυμεῖ τις, ψαλλέτω).

Ein Schwacher unter euch rufe die Ältesten der Gemeinde (ἀσθενεῖ τις ἐν ὑμῖν, προσκαλεσάσθω τοὺς πρεσβυτέρους τῆς ἐκκλησίας)

und sie mögen über ihm beten und ihn salben mit Salböl im Namen des Herrn (καὶ προσευξάσθωσαν ἐπ’ αὐτὸν ἀλείψαντες αὐτὸν ἐλαίῳ ἐν τῷ ὀνόματι τοῦ κυρίου).

Und das Gebet des Glaubens wird retten den Kranken, und es wird ihn aufrichten der Herr (καὶ ἡ εὐχὴ τῆς πίστεως σώσει τὸν κάμνοντα καὶ ἐγερεῖ αὐτὸν ὁ κύριος);

und sollte eine Verfehlung getan sein, wird sie abgetan von ihm (κἂν ἁμαρτίας ᾖ πεποιηκώς, ἀφεθήσεται αὐτῷ). 

Sprecht voreinander laut die Verfehlungen aus und betet füreinander, dass ihr geheilt werdet (ἐξομολογεῖσθε οὖν ἀλλήλοις τὰς ἁμαρτίας καὶ εὔχεσθε ὑπὲρ ἀλλήλων, ὅπως ἰαθῆτε). 

Viel vermag das Gebet des Gerechten, da es wirksam ist (πολὺ ἰσχύει δέησις δικαίου ἐνεργουμένη). 

Der Unterschied zwischen dem Griechischen und dem Deutschen ist, dass dem Griechischen jeder anklagende Ton fehlt, jede moralische Konnotation, jede Besserwisserei. Der griechische Text kommt sanfter rüber, 

  • er lässt mir mein Gesicht, 
  • lässt mich sein, wie ich bin, 
  • nimmt mich in meiner Schwäche wahr. 
  • Die Ältesten der Gemeinde sind keine moralische Kontrollinstanz; sie sind überhaupt erstmal da und kümmern sich. 
  • Die Sünde ist nicht meine Schuld, sondern meine Verlorenheit. 
  • Ich muss nichts reumütig bekennen; ich muss Schmerzliches einfach nur laut aussprechen – nicht weil mich die Erinnerung beschämen soll, sondern weil das Aussprechen so heilsam ist. 
  • Die Krankheit ist nicht bloß eine medizinische Indikation, es ist meine Schwäche insgesamt. 
  • Schwäche und Verlorenheit gehen ineinander über und sind schwer voneinander abzugrenzen. Beides hat ja auch irgendwie miteinander zu tun.

Wie anders reden wir miteinander, wenn da kein moralisches Gefälle ist, kein Ton des Verurteilens oder der moralischen Besserwisserei! Wie heilsam es für das Miteinander doch ist, wenn ich die Last der anderen sehe, ihre Beschwernisse - und wenn andere mich sehen!

Uns alle bedrückt, was in Israel und im Gaza geschieht. Der Terrorüberfall der Hamas, die vielen Toten auf israelischer Seite, die vielen Geiseln, die bereits ihr Leben verloren haben, die vielen Geiseln, die noch irgendwo im Gaza versteckt sind. Die zahllosen Angehörigen, die um die Toten trauern; die zahllosen Angehörigen, die jetzt bangen. Wir sehen ihre Last, ihr Elend, ihre tiefe Trauer und Angst. 

Und gleichzeitig hören wir von den Zehntausenden, Hunderttausenden von Palästinensern, die nichts mit dem Terrorakt der Hamas zu tun haben, die jetzt in den Süden fliehen sollen vor dem Beschuss durch das israelischen Militär. Wir hören davon, wie sie von der Hamas daran gehindert werden. Wir haben auch in der Vergangenheit viel über die Depression in einem Stück Land, in dem sich die Menschen eingeschlossen und vom Rest der Welt vergessen fühlen, über die Perspektivlosigkeit der Jugend, über die hohe Arbeitslosigkeit, über die schlechte gesundheitliche Versorgung, über die Armut überall. 

Wie können wir das ganze Elend sehen, ohne es miteinander zu verrechnen? Ohne uns moralisch zu erheben, zu verurteilen, besserwisserische Ratschläge zu erteilen? Uns bleibt nur, für beide Seiten zu beten und auf das Beste zu hoffen. 

Mich berührt das Bild der Solidarität, das der Jakobusbrief in unserem Predigttext zeichnet: "Ein Schwacher unter euch rufe die Ältesten der Gemeinde und sie mögen über ihm beten und ihn salben mit Salböl im Namen des Herrn." - Es geht um Anteilnahme, sich das Leid des anderen etwas angehen zu lassen, einander zu finden, da wo einer von uns verlorengeht, einander als schwächelnde Menschen wahrzunehmen – nicht lautsprecherisch mit Lösungen vorzupreschen – sondern auszuhalten, dass eben nicht alles in Ordnung ist. 

So ist eine Gemeinschaft, die erfahren hat, was es heißt, dass Gott das Verlorene sucht und nicht eher ruht, bis dass er es gefunden hat. Die es nicht nur erfahren hat, sondern weiterzugeben weiß. Und damit lese ich keine stroherne Epistel, keine moralische Zurechtweisung. Sondern darin erkenne ich das Evangelium, den Trost und die Aufrichtung, die ich in der Heiligen Schrift suche. 

Amen.

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