Hunger nach mehr

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# Predigt

Hunger nach mehr

Liebe Gemeinde,

was die Bibel in meinen Augen auszeichnet, ist eine Kombination von zwei Merkmalen. 

Die Bibel ist das realistischste Buch, das ich kenne. Kein anderes Werk der Weltliteratur zeichnet die menschliche Realität so unverblümt klar und grausam, wie sie nun einmal ist. 

Wir versuchen uns hierzulande einen schönen Alltag einzurichten. Und ich glaube, das gelingt vielen von uns auch ganz gut. Aber unverhofft holt uns die Realität immer wieder ein. Meist in den frustrierenden Nachrichten über das, was alles in der Welt passiert. Manchmal aber auch in unserem unmittelbaren Umfeld. 

Das andere, was die Bibel auszeichnet: Kaum ein anderes Werk der Weltliteratur ist so optimistisch, so hoffnungsfroh und vor allem so zuversichtlich, dass sich die Dinge zum Besseren wenden werden. 

Ich höre immer wieder von jungen Menschen den Satz: „Ich will keine Kinder zeugen oder gebären. In diese Welt setze ich keine Kinder, das kann ich ihnen nicht zumuten.“ 

Dieser Satz tut mir weh. Er ist zwar realistisch, denn es stimmt: Die Welt ist in einer schrecklichen Verfassung. Und wer so redet, verschließt die Augen nicht davor. Und es ist gut, die Augen nicht zu verschließen.

Aber wer so redet, verhält sich gleichzeitig so unbiblisch, wie es nur irgend geht. Zu sagen, ich gebe der Welt keine Chance mehr, deshalb werde ich auch keine Kinder bekommen, heißt: Alle Hoffnung aufgeben. 

Woher kommt die Hoffnung? Der Philosoph Ernst Bloch hat gesagt, die Hoffnung komme aus dem Hunger, und der Hunger entsteht nun einmal da, wo Mangel herrscht.

Der Predigttext für den heutigen Sonntag steht im Buch des Propheten Jesaja. Er handelt von der Hoffnung. Der Text strahlt Hoffnung aus. Mehr noch: Er strahlt Zuversicht aus, mit jedem Satz. 

Aber in jedem Satz liest man gleichzeitig auch den Mangel mit, der den Hunger nach Besserung weckt. Und man muss diesen Mangel mitlesen, damit sich einem die große Hoffnung des Jesaja mitteilt. 

Schon der erste Satz aus dem Buch des Propheten Jesaja, Kapitel 29, ab Vers 17, ist ein Hoffnungssatz: 

„Wohlan, es ist noch eine kleine Weile, so soll der Libanon fruchtbares Land werden, und was jetzt fruchtbares Land ist, soll wie ein Wald werden“ – und Sie ahnen schon: Wenn das ein Hoffnungssatz ist, muss der Libanon zur Zeit des Propheten Jesaja fürchterlich ausgesehen haben. Ein Land, gnadenlos ausgebeutet, heruntergewirtschaftet, verwüstet und abgeholzt unter der Fremdherrschaft der damaligen Kolonialmacht Assurs. 

Dabei liegt der Libanon an der Küste und ist gebirgig, die Westwinde treiben die warme, mit Feuchtigkeit gesättigte Luft vom Mittelmeer auf die kühlen Berge hinauf. Dort gibt die Luft ihre Feuchtigkeit ab, als Nebel oder Regen, und macht das Bergland und die Hochtäler fruchtbar. Wenn Sie mal im Libanon waren, dann werden Sie die terrassierten und mit Städten und Dörfern bebauten Hänge gesehen haben, überall Landwirtschaft, selten mal karge Gegenden. Sie werden im Yachthafen von Beirut auf unverschämten Reichtum gestoßen sein. Ansonsten finden Sie im Land eine desolate Situation vor – Inflation, Hunger, Elend, dazu ein Million unversorgte syrische Flüchtlinge. Es scheint fast so, als hätte sich dort seit den Zeiten des Propheten Jesaja nichts getan. 

Der Prophet Jesaja klagt im 29. Kapitel seines Buches über das ganze Elend fern und nah. Darüber, wie die damalige Kolonial- und Besatzungsmacht Assur selbst ein so wohlhabendes Land wie den Libanon zugrunde richtet. 

Jesaja adressiert aber vor allem sein eigenes Volk, das südlich vom Libanon lebt. Wie sein eigenes Volk sich amoralisch verhält – also die Nachfahren Abrahams und Jakobs, die Menschen im Süden und im Norden von Davids früherem Königreich. Wie dieses Volk nicht auf die Warnungen hören will, die Jesaja ihnen in Form eines Buches vorgelegt hat. Er klagt, wie die Eliten das Recht vor den königlichen Gerichten beugen, und wie sie die Rechtssprüche der einfachen Streitschlichter in den Stadttoren ignorieren. Damals handelten die Familien ihre Rechtsstreitigkeiten in den Stadttoren aus, also „im Tor“ – so heißt es im Text. 

Jesaja spricht von seinem Volk als den Nachfahren der Erzväter Abraham und Jakob, und ich lese Ihnen den Text jetzt einmal mit all diesen Erklärungen im Hinterkopf vor, Jesaja 29,17-24:


17 Wohlan, es ist noch eine kleine Weile, so soll der Libanon fruchtbares Land werden, und was jetzt fruchtbares Land ist, soll wie ein Wald werden. 

18 Zu der Zeit werden die Tauben hören die Worte des Buches, und die Augen der Blinden werden aus Dunkel und Finsternis sehen; 19 und die Elenden werden wieder Freude haben am HERRN, und die Ärmsten unter den Menschen werden fröhlich sein in dem Heiligen Israels. 

20 Denn es wird ein Ende haben mit den Tyrannen und mit den Spöttern aus sein, und es werden vertilgt werden alle, die darauf aus sind, Unheil anzurichten, 21 welche die Leute schuldig sprechen vor Gericht und stellen dem nach, der sie zurechtweist im Tor, und beugen durch Lügen das Recht des Unschuldigen. 

22 Darum spricht der HERR, der Abraham erlöst hat, zum Hause Jakob: Jakob soll nicht mehr beschämt dastehen, und sein Antlitz soll nicht mehr erblassen. 

23 Denn wenn sie sehen werden die Werke meiner Hände – ihre Kinder – in ihrer Mitte, werden sie meinen Namen heiligen; sie werden den Heiligen Jakobs heiligen und den Gott Israels fürchten. 24 Und die, welche irren in ihrem Geist, werden Verstand annehmen, und die, welche murren, werden sich belehren lassen.

 

Was mich umtreibt bei diesem Text: Woher nimmt Jesaja die Zuversicht, dass sich alles zum Guten wenden wird?
Ist denn der Libanon wieder fruchtbares Land geworden?
Hat denn das Volk Israel auf die Mahnungen des Propheten gehört und Verstand angenommen?
Haben die Tyrannen und Spötter ihr Ende gefunden, wurden die Unheilsstifter und Rechtsbrecher vertilgt?  

Leider nein. Aber für Juden und Christen sind diese Worte dennoch wahr – weil die Hoffnung und Zuversicht in ihnen so stark ist. 

Juden würden vielleicht sagen, dass sich noch nicht alle Prophezeiungen des Jesaja erfüllt haben. Es ist auf jeden Fall sehr faszinierend, sich mit den jüdischen Debatten die Tora zu befassen – und darüber, was ein Prophet wie Jesaja dazu zu sagen hat. 

Wir Christen finden dafür eine andere Erklärung. Alles, was die Bibel an Hoffnung verbreitet, erfüllt sich in Jesus Christus, dem Heiler, Hoffnungsprediger, Verkünder der Liebe. Es erfüllt sich in dem zu Unrecht Verurteilten, in dem Hingerichteten und Auferstandenen. 

Unsere Hoffnung erfüllt sich in dem, der sich zuwendet, der mitleidet, der einen mit seiner Liebe auch dann nicht aus dem Blick verliert, wenn ich mich völlig verrannt habe. 

Unsere Hoffnung erfüllt sich in dem, welchen Gott vom Tode errettet hat, den Gott von den Toten auferweckt hat, allen Tyrannen und Spöttern zum Trotz. 

Wonach hungert dich?
Nach welcher Erlösung sehnst du dich?
Welches fruchtbare Land liegt bei dir brach?
Welche Tyrannen und Spötter kränken und verletzen dich?
Welche Einsicht, welche Vernunft sehnst du dir herbei?
Oder bist du vielleicht derjenige, der Unheil verbreitet, weil du uneinsichtig bist? Weil du in eine Spur geraten bist, aus der du herauswillst, aber du schaffst es nicht? 

Dann nimm den Wochenspruch an: „Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen, und den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen“. 

Gott ist besonders dann nahe, wenn du nicht mehr weiterweißt, wenn du unten bist. Ja, er richtet das Recht auf, und ja: Er verlangt Rechtschaffenheit. Aber er ist eben auch in dem Christus am Kreuz. Er teilt unser Leben. Er teilt unser Scheitern. Er stirbt unseren Tod. 

Und er führt uns durch den Tod hinauf ins Leben. In das Leben, über das der Tod keine Macht mehr hat. 

Diese Zuversicht kann in dir wachsen. Sie kann gerade bei jungen Menschen wachsen, die nicht nur sehen, wie es um die Welt bestellt ist, sondern die auch einen Hunger, ein Verlangen danach haben, dass diese Welt gerettet wird, und dass das Leben weitergehen muss. 

Es ist eine Zuversicht, die aus der Hoffnung und aus dem Hunger geboren wird.
Es ist die Zuversicht, dass Gott gerade da ist, wo wir ihn am wenigsten vermuten. Wir werden es an Weihnachten wieder erleben: Gott kommt als Kind zur Welt. 

Amen.

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