08/08/2024 0 Kommentare
Liebe ist ungerecht ...
Liebe ist ungerecht ...
# Predigt
Liebe ist ungerecht ...
Liebe Gemeinde!
Liebe ist ungerecht. Kinder erleben es zum ersten Mal, wenn sie das Gefühl haben: Die Aufmerksamkeit der Eltern gilt den anderen. Sie gilt nicht mir. Die anderen sind mehr geliebt.
Die vermeintlich Ungeliebten, die spüren den Entzug. Und die anderen, die Geliebten, bekommen es ein Leben lang unter die Nase geschmiert: „Dich haben die Eltern mehr geliebt. Du warst ja schon immer bevorzugt. Du warst schon immer das geliebte Kind.“ Sie kennen das.
Spätestens, wenn die eigene erste Liebe aufblüht und der erste Liebesschmerz einen überrollt, wird deutlich, wie ungerecht die Liebe ist. Warum erhört mich der Geliebte nicht? Warum übergeht mich die Geliebte? Was hängt sie sich an diesen Typen, der ihre Liebe doch nicht erwidert? Was ist so toll an dieser Frau, dass er sie mehr beachtet als mich?
Und dann bin ich selbst in der Rolle als Vater oder Mutter. Und – nein, spätestens jetzt werde ich insistieren: Die Liebe lässt sich auch gerecht verteilen. Aber stimmt das? Haben Sie schon einmal einen Blick gewagt in Ihre eigenen Abgründe? Lieben Sie das eine Kind vielleicht doch mehr als das andere?
Nein, ich höre hier auf, und ich lasse lieber die Bibel sprechen. Wir alle wissen, wie viel Unheil aus dieser Frage rührt. Kein Kind kann sich jemals von solch einer Zurücksetzung erholen. Der ungeliebte Kain wird seinen Bruder Abel ermorden, nur weil er das bevorzugte Kind war – so ist es schon seit Urzeiten.
Nein, reden wir nicht von uns, lassen wir die Bibel sprechen. Sie thematisiert die Ungerechtigkeit der Liebe in aller Unverblümtheit. Erst aus der Bibel lernen wir über unsere Abgründe. Wir müssen den Umweg über die Bibel nehmen, weil wir uns selbst nicht über den Weg trauen können.
Abraham verstößt das Kind seiner Nebenfrau Hagar. Ismael wird man wohl das ungeliebte Kind nennen dürfen. Isaak genießt alle Zuwendung. Ismael dagegen stürzt in die Anonymität.
Und dann verlangt Gott von Abraham das Schreckliche – dieses geliebte Kind zu opfern. Er muss es letztlich nicht wahrmachen. Aber diese geliebte und so übel für ein Experiment missbrauchte Kind, dieses gezeichnete Kind wird seinerseits einen Lieblingssohn haben: Esau. Er, der rauhe Jäger, ist nicht der Liebling der Mutter. Ihre Wahl trifft auf Jakob, den Sanften, den mit der weichen Haut, den Betrüger.
Esau zieht den Kürzeren. Und es kommt fast zum Bruderstreit. Aber Esau ist weiser und milder, als man es ihm zugetraut hätte. Er wendet den Krieg ab. Und Jakob – er macht weiter so und bevorzugt aus allen seinen zwölf Söhnen nur den einen: Josef. Jakob kleidet Josef in ein buntes Kleid. Er lässt ihn seine Träume vor seinen Brüdern ausbreiten – wie alle anderen ihn anbeten und sich vor ihm verneigen. Jakob lässt die Missgunst unter den Geschwistern wachsen, bis die Katastrophe eintritt und die ungeliebten Brüder das geliebte Kind in die Sklaverei verkaufen. Sie sagen dem Vater, ein wildes Tier habe Josef zerrissen. Und der Vater lässt sich nicht abbringen von seiner ungerechten Liebe. Er lenkt sie nun auf Benjamin, den jüngsten seiner Söhne.
Liebe ist ungerecht. Davon erzählt die Bibel, und wir sehen in ihren Geschichten die Katastrophen, die diese Ungerechtigkeit auslöst. Wir schützen uns deshalb davor. Das ist auch richtig so. Und unsere gerechte Liebe ist so wunderbar und so friedenserhaltend, und wir schützen uns mit ihr vor allem Streit und Hass und Krieg – und doch ist sie steril und karg im Vergleich zur überschäumenden und ungerechten Liebe, von der die Bibel erzählt.
Der eine Sohn geht verloren, lacht sich falsche Freunde an, gerät unter die Huren und schließlich unter die Schweine. Aber er findet den Weg heim – und der Vater nimmt ihn auf, als sei er immer das geliebte Kind gewesen – so erzählt es Jesus von Nazareth. Sein Bruder, der immer daheim geblieben war, fühlt sich zurückgesetzt. Und dann muss er sich auch noch vom Vater anhören: „Du bist allezeit bei mir und alles, was mein ist, das ist dein. Du solltest aber fröhlich und guten Mutes sein?“ Wer lässt sich so was schon gerne sagen? Jesus haut mit dieser Geschichte in eine Kerbe, die wir alle nicht mögen. Wieder so eine biblische Erzählung von leidenschaftlicher Liebe. Von einer Liebe, die so überschäumt, dass sie deshalb immer auch ungerecht sein wird.
Von solch einer übermäßigen Liebe erzählt der Predigttext für den heutigen Sonntag. Er steht im 43. Kapitel des Jesajabuches, und ich lese ihn vor:
Und nun spricht der HERR, der dich geschaffen hat, Jakob, und dich gemacht hat, Israel:
„Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein! Wenn du durch Wasser gehst, will ich bei dir sein, und wenn du durch Ströme gehst, sollen sie dich nicht ersäufen. Wenn du ins Feuer gehst, wirst du nicht brennen, und die Flamme wird dich nicht versengen. Denn ich bin der HERR, dein Gott, der Heilige Israels, dein Heiland.
Ich gebe Ägypten für dich als Lösegeld, Kusch und Seba an deiner statt. Weil du teuer bist in meinen Augen und herrlich und weil ich dich liebhabe, gebe ich Menschen an deiner statt und Völker für dein Leben.
So fürchte dich nun nicht, denn ich bin bei dir. Ich will vom Osten deine Kinder bringen und dich vom Westen her sammeln, ich will sagen zum Norden: Gib her!, und zum Süden: Halte nicht zurück! Bring her meine Söhne von ferne und meine Töchter vom Ende der Erde, alle, die mit meinem Namen genannt sind, die ich zu meiner Ehre geschaffen und zubereitet und gemacht habe.“
Sie kennen den Beginn dieser Prophezeihung. Er wird bei fast jeder Taufe zitiert: „Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein.“ So spricht Gott die Seele an, die sich ihm öffnet. So spricht Gott Israel an, das Volk, das schon in der Antike immer wieder in Bedrängnis kam.
Fürchte dich nicht, egal, was passiert: „ich bin der HERR, dein Gott, der Heilige Israels, dein Heiland.“ In jeder Notlage stehe ich dir bei, sagt Gott.
„Wenn du durch Wasser gehst, will ich bei dir sein, und wenn du durch Ströme gehst, sollen sie dich nicht ersäufen. Wenn du ins Feuer gehst, wirst du nicht brennen, und die Flamme wird dich nicht versengen. Denn ich bin der HERR, dein Gott, der Heilige Israels, dein Heiland.“
Gott liebt leidenschaftlich. Erwählung, nennen wir Theologen das auch. Israel ist erwählt aus den Völkern, so sagt es die Bibel ganz unverblümt. Und das ist die ungerechte Seite dieser Leidenschaft. Denn weiter heißt es:
„Ich gebe Ägypten für dich als Lösegeld, Kusch und Seba an deiner statt. Weil du teuer bist in meinen Augen und herrlich und weil ich dich liebhabe, gebe ich Menschen an deiner statt und Völker für dein Leben.“
Und weil diese Leidenschaft so groß ist, können diese Worte bis heute über die Jahrtausende hinweg trösten, wie kaum andere Worte. Der Trost ist gerichtet an ein Volk, das zerschlagen wurde und in Gefangenschaft geriet. An ein Volk, das seine Existenzgrundlage verlor, das alles Vertrauen in sich selbst verlor.
Aber es sind Worte, wie man sie von einer Mutter kennt, die ihr verspottetes und verachtetes Kind in den Arm nimmt und sich zu lauter Ungerechtigkeiten hinreißen lässt, weil es sie jammert und zerreißt, wie dieses Kind unter der Härte der anderen leidet. „Ich wollte kein anderes Kind haben als dich“, sagt die Mutter. „Du bist mein ein und alles. Für dich gebe ich alles her. Sollen die anderen doch kommen, sollen sie doch selber mal das erleben, was sie dir antun. Ich werde das nicht zulassen, dass dir noch einmal Schmerz zugefügt wird. Du bist für mich das schönste und wertvollste Kind auf der Welt.“
Liebe ist ungerecht, sonst ist es keine Liebe.
Die Worte des Propheten Jesaja sind an Israel gerichtet. An ein Volk im Exil, an ein Volk ohne Land, an ein Volk in der Diaspora, in der Zerstreuung. Und deshalb enden sie mit dieser Verheißung, die auch wieder ungerecht ist: „Ich will vom Osten deine Kinder bringen und dich vom Westen her sammeln, ich will sagen zum Norden: Gib her!, und zum Süden: Halte nicht zurück! Bring her meine Söhne von ferne und meine Töchter vom Ende der Erde.“
Als Christen glauben wir, in diese Verheißung an Israel hineingenommen zu sein. Wir glauben nicht, dass Gott nur uns liebt und die anderen nicht. Wir glauben, dass Gott uns leidenschaftlich liebt, so wie Gott sein Volk Israel leidenschaftlich liebt.
Wir glauben, dass diese Leidenschaft sich uns vermitteln kann, und dass wir wie geliebte Kinder durch die Welt gehen und diese Liebe weiterschenken können. Wir glauben, dass uns diese Liebe zusammenschweißt. Nicht nur hier im Offenbacher Westend. Nein, viele von Ihnen haben sich zugemeinden lassen zur Friedenskirche. Sie fühlen sich dieser Gemeinde verbunden. Und ich wünsche mir, ich wünsche Ihnen und uns allen, dass Sie diese Leidenschaft Gottes für Sie in dieser Gemeinde spüren.
Heute feiern wir ein Gemeindefest – aus diesem Grunde. Wir feiern die leidenschaftliche Liebe Gottes zu uns, zu denen, die er sich erwählt hat. Wir feiern, dass wir uns die Geliebten Gottes nennen dürfen. Ja, das klingt ungerecht. Weil wahre Liebe immer ungerecht ist. Und nein, wir bilden uns nichts auf diese ungerechte Liebe ein, weil wir doch wissen, wie viel Unheil solche Ungerechtigkeit auslösen kann.
Und deshalb fasse ich diese Liebe Gottes mit den Worten des Apostels Paulus zusammen, Worte, die Sie heute einmal alle persönlich nehmen dürfen. Paulus sagt – an Sie gerichtet:
Ihr seid die Geliebten Gottes. Und deshalb kleidet euch nun auch als die Auserwählten Gottes, als die Heiligen und Geliebten, mit herzlichem Erbarmen, mit Freundlichkeit, Demut, Sanftmut und Geduld.
Amen
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