Über das Recht, ein Anderer zu werden

Über das Recht, ein Anderer zu werden

Über das Recht, ein Anderer zu werden

# Predigt

Über das Recht, ein Anderer zu werden

Liebe Gemeinde!

kennen Sie das: Sätze, die für sie zur Lebensweisheit geworden sind? Sätze, die eine wichtige, vielleicht sogar zentrale Erkenntnis in Ihrem Leben beschreiben? Sätze, auf die Sie irgendwann gestoßen sind, die aber das, was ihre Lebenserfahrung ausmacht, wirklich auf den Punkt bringen? Sätze, die – je länger und gründlicher Sie darüber nachdenken – desto treffender erscheinen? 

Mein Satz stammt von der Theologen und kraftvollen Poetin Dorothee Sölle, die 2003 verstarb, und die auf dem Friedhof im Hamburger Elbvorort Nienstedten begraben liegt. 

Ich habe den Satz erst ziemlich spät kennengelernt – über Dorothee Sölles Mann Fulbert Steffensky, auch dieser Name dürfte einigen von Ihnen bekannt sein. Fulbert Steffensky ist mir in meinen Jahren als chrismon-Redakteur zum väterlichen Freund geworden. Ich habe seine Texte betreut, habe ihn zweimal in Luzern, wo er jetzt lebt, besucht. Wir haben viele E-Mails und Briefe ausgetauscht. 

Der Satz von Dorothee Sölle, auf den mich Fulbert aufmerksam gemacht hat, klingt wie eine Definition. Er lautet: 

„Buße ist das Recht, ein Anderer zu werden.“

Ich will Ihnen sagen, was der Satz bedeutet und warum er mir so wichtig ist. 

Buße ist ein zentraler Begriff der protestantischen Theologie. Wir werten diesen Begriff oft negativ. Büßen, das tun Menschen ohne Lebensfreude. Büßer, das sind Menschen, die mit griesgrämiger Miene herumlaufen und sich selbst schlecht machen.  

Aber der Satz von Dorothee Sölle sagt mir: Denke Buße anders. Nicht als sich selbst schlecht machen, sondern als einen Anspruch: als das Recht, ein anderer Mensch zu werden.  

Buße, das ist erst einmal Selbstreflektion. Setze dich kritischen Anmerkungen zu deinem Verhalten aus. Lass diese kritischen Anmerkungen an dich heran. 

Unsere Gemeindepädagogin Janina Wong hat vorgestern und gestern eine Teamerschulung angeleitet. Sie hat das großartig getan. Ich bin noch ganz beseelt davon. Im Rahmen dieser Teamerschulung, also einer Fortbildung für unsere ehrenamtliche Jugend, habe ich erlebt, wie hart es sein kann – gerade für Jugendliche – wenn man sich einer Erkenntnis stellen muss, wenn diese Erkenntnis in das Herz eindringt, wenn sie das Selbstbild ins Wanken bringt, wenn man dann an sich zweifelt – und auch ein wenig verzweifelt. Das ist hart. Ich weiß das aus meiner eigenen Jugend. Als ich das an unseren Jugendlichen beobachtet habe, ist die Erinnerung an meinen eigenen Weg zurückgekommen. – Solche Selbstreflektion ist hart. Aber so fängt man an, ein Recht zu nutzen, ein Anderer zu werden.

Buße fängt an mit Selbstreflektion. Der nächste Schritt ist, sich auszusprechen. Ich bewundere Menschen, die das können: ihr Herz ausschütten. Wenn du jemandem sagst: Das hat mich hart getroffen. Es hat mir wehgetan. Ich sehe es ja ein. Aber mir fällt all das schwer, was damit einhergeht: Wie stehe ich vor den anderen da? Wo ist meine Selbstsicherheit, die mir doch immer in der Gruppe geholfen hat? Wo ist meine innere Klarheit – ich glaubte doch, alles wäre in Ordnung, und nun liegt alles vor mir in Trümmern. 

Ich bewundere Jugendliche, die so etwas in Worte fassen und aussprechen können. Genau das fiel mir früher unendlich schwer. Ich habe damals lange mit mir gerungen, habe mir viele falsche Erklärungen für meine inneren Erschütterungen zurechtgelegt, habe viele Gelegenheiten versäumt, mir in Gesprächen Klarheit zu verschaffen. Heute erlebe ich die Jugendlichen freier, als ich es damals war. Freier heißt: Sie können sich selbst reflektieren, und sie finden Worte dafür, die sie auch aussprechen können. Selbstreflektion und Aussprache, so macht man von seinem Recht Gebrauch, ein Anderer zu werden. 

Der größte Schritt der Buße ist der dritte: die Verhaltensänderung. Wie können Selbsterkenntnis und die Erkenntnisse aus dem Gespräch mit anderen mein Verhalten verändern? Ich glaube, wirkliche Verhaltensänderungen aus sich selbst, wirkliche Buße, die darin resultiert, dass man ein Anderer wird, braucht Zeit und Geduld. Aber sie ist möglich. Diese Art von Verhaltensänderungen nenne ich manchmal „persönliche Reifung“ – oder auch: „Erwachsen werden“. 

Unser Erwachsenwerden ist ja nicht mit dem 18. Geburtstag abgeschlossen. Sondern wir werden ein Leben lang erwachsen, immer ein bisschen mehr. Und die nobelste und größte Weise, erwachsen zu werden, ist der Versuch eines Neustarts. Buße – ist das Recht, ein Anderer zu werden. Dass heißt: Radikale Buße führt zu mehr als einer Reifung, zu mehr als einer Weiterentwicklung. Zur radikalen Buße gehört auch eine Kehrtwende, eine Abkehr vom Alten. Daraus leitet sich das Recht auf Anerkennung von außen ab. Dass andere sagen: Ja, du hast dich sehr verändert. Du bist nicht mehr der Alte, die Alte. Du passt nicht mehr in mein Rollenbild von früher, in meine alte Schublade. Du bist ein Anderer oder eine Andere geworden. 

Unser heutiger Predigttext handelt von diesem wunderbaren Recht. Und von einem biblischen Propheten, der dieses Recht missachtet. Er ist ein Teil der Jona-Geschichte, die wir als Lesung gehört haben. 

Dreimal lässt der biblische Prophet Jona die Chance verstreichen, anderen dieses Recht zuzugestehen. Jona bekommt den Auftrag von Gott, der bösen Stadt Ninive zu sagen: Du sollst umkehren. Aber Jona will es nicht sagen. Das ist die erste verstrichene Chance. Jona will den Impuls nicht setzen, der den bösen Menschen von Ninive das Recht einräumt, ein Anderer zu werden. Jona will ihnen nicht sagen, was ihm geboten ist zu sagen. Wie es scheint, verweigert er den Menschen von Ninive dieses Grundrecht, ein Anderer zu werden, weil er sie in eine Schublade steckt. Weil er sie für unveränderlich böse hält. Weil er sie auf ihre böse Rolle festlegt – und mit dieser Rollenzuschreibung ganz bequem leben kann und will. 

Dann nötigt Gott Jona, seine Flucht vor diesem Auftrag aufzugeben. Und was tut Jona? Er erledigt seinen Auftrag schlampig. Er läuft kurz in die Vorstadt von Ninive, ruft einmal kurz aus: „Tut Buße“ und haut wieder ab. Er bereitet seine Worte nicht sorgfältig vor. Er sucht nicht nach Mitteln, wie er die Menschen überzeugen kann. Er verweigert ihnen seine Zeit und seine Aufmerksamkeit. Das ist lieblos, gerade weil Jona nicht die große Chance wahrhaben will, die in seinem Auftrag steckt: Dass die böse Stadt Ninive auch eine Andere werden kann. Jona verweigert ihnen dieses Grundrecht ein zweites Mal. 

Es passiert das Unwahrscheinliche: Selbst diese wenigen Worte von Jona reichen aus. Sie treffen die Bewohner von Ninive ins Herz. Und die ganze Stadt Ninive geht in Sack und Asche – das heißt: Die ganze Stadt setzt sich der großen Herausforderung aus, ein Anderer zu werden. 

Und da vertut Jona die dritte Chance, und davon handelt unser Predigttext: Jona erkennt diese große Leistung der Menschen von Ninive nicht an. Im Gegenteil: Dass ausgerechnet die Bewohner von Ninive so eine Größe zeigen können, beleidigt ihn. Warum? Weil er den Menschen von Ninive das Recht nicht gönnt, dass sie sich ändern können. Er sieht: Sie können sich ändern, sie können sich bessern. Aber er gönnt es ihnen nicht – wegen all des Bösen, das ihrer Sinnesänderung vorausgegangen ist. Er kann und will es ihnen nicht verzeihen.  

Jona wird zornig und spricht zu Gott: „Ach, HERR, das ist’s ja, was ich dachte, als ich noch in meinem Lande war. Deshalb wollte ich ja nach Tarsis fliehen; denn ich wusste, dass du gnädig, barmherzig, langmütig und von großer Güte bist und lässt dich des Übels gereuen. So nimm nun, HERR, meine Seele von mir; denn ich möchte lieber tot sein als leben.“

Ich liebe Gottes Reaktion auf dieser Worte. Gott wird nicht wütend, wie ein zorniger Tyrann, was man dem Gott des Alten Testaments ja oft unterstellt. Sondern Gott reagiert wie ein liebevoller und gütiger Pädagoge. 

Und der HERR sprach: „Meinst du, dass du mit Recht zürnst?“ 

Und dann folgt diese Geschichte mit der schattenspendenden Rizinuspflanze, die Gott über Jonas Hütte wachsen lässt, und die er wieder eingehen lässt. Und Gott sagt: „Dich jammert der Rizinus, um den du dich nicht gemüht hast, hast ihn auch nicht aufgezogen, der in einer Nacht ward und in einer Nacht verdarb. – Und mich sollte nicht jammern Ninive, eine so große Stadt, in der mehr als hundertzwanzigtausend Menschen sind, die nicht wissen, was rechts oder links ist, dazu auch viele Tiere?“

Gott hat die Menschen von Ninive zu freien, verantwortlichen Wesen erschaffen. Die Menschen machen Gebrauch von ihrem Recht, andere zu werden. Darin zeigt sich ihre Größe – jene Größe, die auf Gott, den Schöpfer zurückweist. Warum sollte Gott diese Menschen zerstören, wenn sie doch von ihrem schönsten und würdigsten Recht Gebrauch machen? 

Liebe Gemeinde, ich möchte Ihnen diesen Satz heute mitgeben, nicht an einem verregneten und tristen Buß- und Bettag im November, sondern heute, wo der Himmel blau ist und die Sonne strahlt und wir im Garten Gottesdienst feiern unter lautem Vogelgezwitscher. 

Ich möchte Ihnen diesen Satz von Dorothee Sölle mit auf den Weg, der für mich zu einem Schlüsselsatz geworden ist. Er fängt mit dem trüben Wort „Buße“ an, aber er endet mit dem schönen, der Zukunft zugewandten Verb „werden“: 

„Buße ist das Recht, ein Anderer zu werden.“ 

Und dieses Recht ist ein Ausdruck meiner und deiner und unser aller Freiheit, unserer persönlichen Größe, Würde und Schönheit. Amen.

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