Der andere Abschied

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Der andere Abschied

# Predigt

Der andere Abschied

[Voran gingen Epistel und Evangelium zum Himmelfahrtstag]

Epistel: Apostelgeschichte 1,3-11: 

Ihnen (den Aposteln) zeigte Christus sich nach seinem Leiden durch viele Beweise als der Lebendige und ließ sich sehen unter ihnen vierzig Tage lang und redete mit ihnen vom Reich Gottes. Und als er mit ihnen beim Mahl war, befahl er ihnen, Jerusalem nicht zu verlassen, sondern zu warten auf die Verheißung des Vaters, die ihr – so sprach er – von mir gehört habt; denn Johannes hat mit Wasser getauft, ihr aber sollt mit dem Heiligen Geist getauft werden nicht lange nach diesen Tagen. 

Die nun zusammengekommen waren, fragten ihn und sprachen: „Herr, wirst du in dieser Zeit wieder aufrichten das Reich für Israel?“ 

Er sprach aber zu ihnen: „Es gebührt euch nicht, Zeit oder Stunde zu wissen, die der Vater in seiner Macht bestimmt hat; aber ihr werdet die Kraft des Heiligen Geistes empfangen, der auf euch kommen wird, und werdet meine Zeugen sein in Jerusalem und in ganz Judäa und Samarien und bis an das Ende der Erde.“ 

Und als er das gesagt hatte, wurde er vor ihren Augen emporgehoben, und eine Wolke nahm ihn auf, weg vor ihren Augen. 

Und als sie ihm nachsahen, wie er gen Himmel fuhr, siehe, da standen bei ihnen zwei Männer in weißen Gewändern. Die sagten: „Ihr Männer von Galiläa, was steht ihr da und seht gen Himmel? Dieser Jesus, der von euch weg gen Himmel aufgenommen wurde, wird so wiederkommen, wie ihr ihn habt gen Himmel fahren sehen.“

 

Evangelium: Lukas 24,50 bis 53:

Er führte sie aber hinaus bis nach Betanien und hob die Hände auf und segnete sie. Und es geschah, als er sie segnete, schied er von ihnen und fuhr auf gen Himmel. Sie aber beteten ihn an und kehrten zurück nach Jerusalem mit großer Freude und waren allezeit im Tempel und priesen Gott.


Liebe Gemeinde, 

die Lesung aus dem Evangelium, das Ende des Lukasevangeliums, ist merkwürdig. Jesus führt seine Jünger nach Bethanien, segnet sie – und verschwindet in Richtung Himmel. Und die, die er gerade zurückgelassen hat kehren zurück mit großer Freude. Wieso mit großer Freude. 

Sie haben so viel miteinander erlebt, haben Haus und Hof für ihn verlassen, sind ihm durch die Dörfer am See Genezareth gefolgt, haben sein unbürgerliches, unkonventionelles Leben mit ihm geteilt, haben sonderbare Dinge erlebt, Wunder, sie haben seine Worte in sich aufgesogen, sind mit ihm hinauf nach Jerusalem gezogen, in die Katastrophe, haben seinen geschundenen Leichnam begraben, dann die Kehrtwende: „Der Herr ist auferstanden. Er ist wahrhaftig auferstanden!“ Und nun macht er sich davon – und die Jünger freuen sich. Wie soll man das verstehen?

Sie beten Jesus an, ihn, mit dem sie eben noch ihr Leben geteilt haben. Sie schauen ihm nach in den Himmel und kehren dann zurück in den Tempel, unter ein steinernes Dach, eine steinerne Kuppel. Dahin ist es mit der leiblich-sinnlichen Gegenwart, jetzt hocken sie zwischen Steinen und Bänken – deprimiert, könnte man denken. Aber nichts davon: Sie waren allezeit im Tempel und priesen Gott, heißt es am Ende des Lukasevangeliums. 

Dabei ist das doch ein schlechter Tausch: den körperlich Nahen gegen den Entrückten, den Himmel gegen die Steine! Normalerweise freuen sich nur diejenigen, die fortziehen. Sie sind bestens gelaunt, sie haben ja noch etwas Großes vor sich. 

Die anderen, die zurückbleiben, spüren die Leere, die sich in ihrem Alltag breit macht. Sie sind es, die traurig über den Abschied sind, die wehmütig sind. Und je weiter weg der geliebte Mensch zieht, je länger er fernbleiben wird, desto fester die Umarmung, desto karger die Worte. Oder man verfällt in Floskeln: „Macht‘s gut. Und meldet euch. Ruft auch mal an. Vergesst uns nicht!“ 

Was tun Sie, wenn Sie vom Gleis umkehren, wo Sie gerade jemanden auf eine große Reise geschickt haben; oder vom Flughafen, und es werden Monate ins Land gehen, bis Sie den lieben Menschen wiedersehen? - wenn das Kind sein erstes Auslandsjahr antritt, - wenn Verwandte für einige Zeit ins Ausland reisen, - wenn die Nachbarn ausziehen, in eine andere Stadt, noch mal neu anfangen. Dann läuft man durch das leere Zimmer, und es überkommt einen eine Beklommenheit. Das wars also, fürs Erste. Mal sehen, wie es wird, wenn das Kind wiederkommt. Mal sehen, ob man die Nachbarn überhaupt noch mal zu sehen bekommt. 

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Im Lukasevangelium ist von dieser Beklommenheit keine Spur. Die Jünger sind die Hinterblieben, die Zurückgelassenen. Sie kehren zurück in ihr steinernes Jerusalem – aber nicht traurig, sondern mit großer Freude. Sie sind allezeit im Tempel und preisen Gott. Wie passt das zusammen?

In der Apostelgeschichte treten zwei Männer in weißen Gewändern in die Szenerie. Engel. Sie stellen sich zu den Aposteln, die noch immer in den Himmel starren, dem Entrückten hinterher. Und sie fragen sie: „Was steht ihr da und seht gen Himmel?“

Als wollten sie sagen: Hier unten geht das Leben weiter. Schaut nicht hoch, da oben passiert nichts mehr. Schaut nach vorne, richtet eure Blicke auf das Naheliegende. Das Leben geht weiter, der Alltag geht weiter. Auch du machst dich auf eine Reise. Betrachte dich nicht als Zurückgebliebenen. Betrachte dich als jemanden, der sich auch auf den Weg macht und Neues erlebt. 

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Mein Vormittag begann gestern beim Zahnarzt. Drei Stunden auf dem Stuhl, Mund auf. In meinem Mund stocherte, kratzte und nähte eine junge Frau Mitte zwanzig, Nilo wurde sie gerufen. Sie kam ins Erzählen. Sie war als 17-Jährige aus Afghanistan nach Deutschland gekommen und musste sich durchbeißen: Deutschkurs, Schulabschluss, Ausbildung als Zahnarzthelferin, hier arbeiten, da arbeiten, erst in München, dann Frankfurt, die richtige Praxis suchen. Gerade mal zehn Jahre ist sie in Deutschland. Ihr Akzent ist nicht zu überhören, aber sie spricht wie ein Wasserfall. Und der Chefzahnarzt schätzt sie, traut ihr was zu. 

Ich verneige mich vor dieser jungen Frau. Sie hat Abschied genommen von ihrem alten Leben. Abschied von der Familie, die – so wie ich es verstanden habe – noch in der Nähe von Kabul lebt. Sie schlägt sich selbst durch. Die 25 Quadratmeter-Wohnung in München: 825 Euro im Monat. Die muss man erst mal verdienen. Jetzt lebt sie in Oberrad. Der Chef der Praxis in Frankfurt hat sie als seine Assistentin auserkoren. 

Ja, sie war es, die Abschied nahm, sie ist aufgebrochen, hat die anderen in ihrem Alltag zurückgelassen. Sie ist auch durch viel Bitternis und Einsamkeit gegangen. Und sie hat sich nicht entmutigen lassen. 

Ich hatte gestern den Eindruck, sie ist ein glücklicher Mensch. Ich vergleiche sie mit den Jüngern im Tempel. Sie haben den Abschied umgekehrt, blicken nicht hinauf in den Himmel, träumen nicht weiter von der guten alten Zeit. Sie blicken nach vorne auf ihr eigenes Leben, gestalten es, machen sich auf den Weg. 

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Himmelfahrt ist für mich der Abschied, der in einen Aufbruch mündet. So verstehe ich das Ende des Lukasevangeliums. Die, die Jesus zurücklässt hat kehren zurück mit großer Freude. Weil sie selbst aufbrechen. Weil sie sich selbst auf den Weg machen. 

Himmelfahrt, das heißt für die, die auf der Erde zurückbleiben: Erwachsen werden. Sich nicht zurückträumen ins Früher, sondern die eigene Zukunft gestalten. Himmelfahrt, das ist wie ein Aufrücken in die Elterngeneration. Da ist niemand mehr über einem, der oder die sagt, was man zu tun hat. Dass man sein Zimmer aufräumen soll. Dass man sich um die Wäsche kümmern soll. Um den Einkauf. Um die Finanzen. Um das Auskommen im Leben. Da ist keine Absicherung mehr. 

Jesus, der einem immer den Weg gewiesen hat, überlässt die Verantwortung denen, die daheimbleiben. Und nun ist es an ihnen, aufzubrechen. 

Jesus traut es ihnen zu. Er sagt: Euch ist so viel in die Wiege gelegt worden. Ihr habt die Kraft. Ihr habt die Liebe in euch, den Weg der Liebe weiterzugehen. Ihr habt das Vertrauen in Gott. Und ja, ihr seid doch die Auserwählten Gottes, seine Heiligen und Geliebten. 

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Aber Himmelfahrt ist noch mehr als das. Christus ist zum Himmel aufgefahren, aber er ist nicht aus der Welt. Dieser Jesus, der von euch weg gen Himmel aufgenommen wurde, wird so wiederkommen, wie ihr ihn habt gen Himmel fahren sehen, heißt es in der Apostelgeschichte. Christus kommt wieder, so die Hoffnung des Evangelisten Lukas, und zwar bald. 

Das Matthäusevangelium formuliert es anders – vielleicht auf eine Weise, die wir heutigen besser verstehen. Matthäus beendet sein Evangelium mit einem Satz, der voller Zuversicht ausstrahlt: Siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.

Erwachsen sein, heißt nicht nur, das Elternhaus hinter sich lassen und auf eigenen Füßen stehen. Erwachsen sein heißt auch, dass man die Kraft und die Zuversicht, die einem die Eltern mitgegeben haben, mitnimmt im Leben. 

Und so ist es beim Fest der Himmelfahrt auch. Ja, ihr seid frei, ihr seid verantwortliche Menschen, ihr seid erwachsen. Aber ihr seid auch getragen von der Liebe Christi, der uns zusagt: „Siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende“. Amen.

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