08/08/2024 0 Kommentare
Hilfe – ja. Aber nicht für mich!
Hilfe – ja. Aber nicht für mich!
# Predigt
Hilfe – ja. Aber nicht für mich!
Liebe Gemeinde,
wünschen Sie sich auch einen guten Hirten – also jemanden, der Sie durchs Leben begleitet, der Sie in Not beschützt, sich vor Sie stellt, Ihnen den richtigen Weg weist – oder sich sogar für Sie opfert?
Oder ist das für Sie eine Schreckensvorstellung? Wir sagen ja eher: „Ich kann für mich selber sorgen. Ich brauch niemanden, der mich beschützt. Ich fühle mich bevormundet von Leuten, die nur das Beste für mich wollen – die mich beschützen wollen, die mir sagen wollen, was richtig und was falsch ist. Die sich sogar für mich aufopfern wollen. Ich will das alles nicht, ich kann gut für mich selber sorgen.“
Das Bild vom Hirten widerspricht unserem Ideal von Autonomie. Jemandes Schutz anfordern, seinem Rat folgen, sich jemandem gewissermaßen ausliefern, das hat für uns autonome Subjekte etwas Regressives – so, als wolle man in die Kindheit zurück, als noch alles für einen erledigt wurde. Mama sorgte für das leibliche Wohl, für die Ordnung im Haushalt. Und Papa stellte sich schützend vor die Familie und sicherte ihr finanzielle Wohlergehen ab. Schon das patriarchal-fürsorgliche Familienbild stößt viele Menschen ab.
Bei verarmten Menschen ist schnell die Rede von der sozialen Hängematte. Migranten wird nachgesagt, sie wanderten in die Sozialsysteme ein. Mehr fordern, weniger fördern, lautete deshalb das Motto der Sozialstaatsreform vor etwa 20 Jahren. Wer Hilfe beansprucht, ist uns von vornherein suspekt. Und ich sage „uns“, weil ich mich da einschließe.
Auch für alte Menschen fühlt sich der Autonomieverlust schlimm an. Plötzlich bestimmen die Kinder: „Du musst jetzt ins Heim. Du kommst nicht mehr alleine klar.“ Oder noch schlimmer: „Wir haben deine Wohnung aufgelöst. Du wirst da nicht mehr zurückkommen. Sei realistisch, Mama. Sieh doch ein, dass du das alles nicht mehr alleine hinbekommst, Papa.“ Und vermutlich haben die Kinder Recht damit. Aber es bleibt eine Horrorvorstellung, dass einem das selbst passieren könnte – allein schon, dass andere bestimmen und ich mich dem Urteil der anderen fügen muss.
Hilfe – für andere? – ja! Aber nicht für mich. Ich komme klar!
So denken wir. Wollen wir überhaupt einen guten Hirten für uns?
Mich hat vor einigen Wochen ein Lebensschicksal sehr berührt. Es ging um eine extrem charakterstarke Frau, die je nach Laune Menschen niedermachen oder extrem glücklich und ausgelassen machen konnte. Eine Frau, die ihren Launen ausgeliefert war – und die wenig Gespür dafür hatte, wie sehr andere sie schätzten und liebten – für die Lebensfreude, die sie stiften konnte, für ihre Energie, ihre Unverblümtheit, ihren besonderen Humor. Sie war eine geschätzte Person. Ihr Sohn liebte sie, ihre Enkelkinder, ihr Bruder, das Personal im Pflegeheim, Nachbarn und Nachbarinnen. „Irgendwie war meine Mutter verloren“, sagte mir der Sohn sinngemäß beim Beerdigungsgespräch. Und wir kamen überein, dass sie wohl einen Hirten gebraucht hätte wie jenen, den Jesus in seinem Gleichnis vom Verlorenen beschreibt. Einen, der seine Herde von 99 Schafen stehen lässt, um das eine verlorene Schaf zu suchen und es heimzuholen. Einen Hirten, der seinen Fund dann feiert, der Nachbarn und Freunde mitten in der Nacht weckt und ihnen sagt: „Mein Schaf war verloren, und ich habe es wiedergefunden. Ich bin so glücklich darüber, dass ich euch an meiner Freude teilhaben lasse. Lasst uns miteinander feiern!“
Ja, wir diagnostizieren gerne die Hilfsbedürftigkeit anderer. „Solche Menschen gibt es“, sagen wir autonomen, selbstbestimmten modernen Menschen: „emotional instabile Menschen mit schwankendem Selbstbild und gestörter Selbstwahrnehmung. Sie mögen Ich-stark wirken, sind es aber nicht wirklich.“ Und wir ergänzen: „So bin ich nicht. Ich komme klar. Ich bin ausgeglichen und glücklich.“ – Hilfe brauchen immer nur die anderen.
Unserem Ideal eines selbstständigen, selbstgenügsamen Individuums stelle ich den heutigen Predigttext gegenüber. Er steht im 1. Petrusbrief, Kapitel 2, Verse 21b bis 25. Da steht:
Christus hat für euch gelitten und euch ein Vorbild hinterlassen, dass ihr nachfolgen seinen Fußstapfen sollt; er, der keine Sünde getan hat und in dessen Mund sich kein Betrug fand; der, als er geschmäht wurde, die Schmähung nicht erwiderte, nicht drohte, als er litt, es aber dem anheimstellte, der gerecht richtet; der unsre Sünden selbst hinaufgetragen hat an seinem Leibe auf das Holz, damit wir, den Sünden abgestorben, der Gerechtigkeit leben.
Durch seine Wunden seid ihr heil geworden. Denn ihr wart wie irrende Schafe; aber ihr seid nun umgekehrt zu dem Hirten und Bischof eurer Seelen.
Können die Wunden eines anderen Menschen heilen? Wie heilen sie? Wovon heilen sie?
Ich stelle mir diesen Christus am Kreuz vor. Er hat nichts Schlimmes getan, gar nichts Schlimmes. Im Gegenteil, er war ein Segen für viele Menschen, ein Urbild an Menschenfreundlichkeit und Menschenliebe – Ebenbild des unsichtbaren Gottes, so preisen ihn diejenigen, die ihn persönlich kannten. Aber er wird verurteilt wie ein Schwerverbrecher. Wird geschmäht. Und er erwidert nichts. Er sagt nichts, stellt nichts richtig. Wo ist sein Stolz, wo seine Selbstachtung – fragen wir.
In der Passion Jesu liegt eine Irritation für unser modernes autonomes und selbstbestimmtes Ich. Warum gibt jemand, der anderen so vieles zu bieten hat, sich so kampflos auf? Warum begibt er sich lächelnd freundlich in den Tod? Warum begehrt er nicht auf, wehrt sich nicht? Wir alle hätten es verstanden.
Nein, Jesu Leiden ist aus unserer Sicht nicht heroisch, es ist jämmerlich. Jesus hat ja nicht gelitten, damit wir es ihm nachtun und uns klein und demütig machen. Er hat nicht gelitten, damit wir selbst lustlos und freudlos leben, damit wir uns das Leben selbst zur Qual machen.
Sondern er hat gelitten – und nichts dagegen unternommen. Das ist noch viel schlimmer, weil keine Botschaft darin steckt.
Die Passion Jesus widerspricht unserem Selbstbild als selbstbestimmten autonomen Menschen fundamental, behaupte ich. Erst wenn wir Jesu absolute Selbstvergessenheit zum Maßstab machen, wirkt dagegen unser Selbstbild geradezu narzisstisch, selbstverliebt, überheblich. Wir stehen da wie die Menschen, die unter dem Kreuz Jesus zurufen: „Bist du Gottes Sohn, so steige herab vom Kreuz“. Als wären diejenigen, die lästern: „Andern hat er geholfen, sich selbst kann er nicht helfen“.
Jesus habe unsre Sünden selbst hinaufgetragen hat an seinem Leibe auf das Holz, damit wir, den Sünden abgestorben, der Gerechtigkeit leben, heißt es im Predigttext.
Das heißt doch: Wir sehen am Kreuz einen absolut ausgelieferten, hilfsbedürftigen, schutzbedürftigen Mensch.
Doch was er hinaufgetragen hat ans Kreuz, das ist nicht seine, sondern unsere Hilfs- und Schutzbedürftigkeit, sagt der Predigttext. Im Christus am Kreuz spiegelt sich unsere eigene Hilfs- und Schutzbedürftigkeit. Und unsere eigentliche Sünde ist die, dass wir unsere eigene Hilfsbedürftigkeit nicht wahrhaben wollen.
Denn wenn wir beten: „Der HERR ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser. Er erquicket meine Seele. Er führet mich auf rechter Straße um seines Namens willen. Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück; denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich“ – wenn wir so beten, dann steckt darin keinerlei Regression, kein falsches Eingeständnis von Schwachheit, keinerlei falsche Selbstdemütigung, keine Selbsterniedrigung.
Sondern wenn wir so beten, dann können wir den Realismus annehmen, den andere mit Blick auf uns haben. Und dieser Realismus besagt: Nimm die Hilfe an. Du schaffst das alleine nicht. Es ist okay so – du bist deshalb nicht weniger Wert. Nimm die Hilfe an als ein Zeichen dafür, dass du geliebt bist. Geliebt nicht für das, was du kannst, sondern für die Person, die du bist.
Amen.
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