Wie neugeboren

Wie neugeboren

Wie neugeboren

# Predigt

Wie neugeboren

Liebe Gemeinde, 

vergangene Woche haben wir Auferstehung Christi gefeiert. Einige von Euch haben in der Woche davor alle Gottesdienste in der Friedenskirche erlebt. Ihr habt den Leidensweg Jesu nachvollzogen: seinen Einzug in Jerusalem, sein Abschiedsmahl mit den Jüngern, den Verrat des Judas, die Verleugnung des Petrus, den unfairen Gerichtsprozess, das Todesurteil, sein qualvoller Tod. Dann Schluss, aus, alles vorbei.   

Am Ostermorgen sind wir in die dunkle Kerze gezogen. Alttestamentliche Texte durchbrachen die Stille in der Dunkelheit. Dann las Lene Klein das Osterevangelium vor: Jesus lebt. Der Herr ist auferstanden, er ist wahrhaftig auferstanden. Licht breitete sich überall in der Kirche auf. 

Ich vermute: Ostern muss man erleben. Intellektuell erschließt es sich nicht. 

Das Thema des weißen Sonntags ist die Konsequenz, die sich aus Ostern ergibt. Jesus ist auferstanden, und wir fangen noch einmal neu an. Wie neugeboren. Quasi modo geniti – wie die neugeborenen Kinder. Mag sein, dass man sich früher mal weiß einkleidete, wie in ein weißes Taufkleid. Ich habe heute jedenfalls noch einmal die weiße Albe angezogen. Wir sind erneuert, wiedergeboren und taufrisch aus der Taufe gekrochen.  

Und so sollte unser neues Leben am heutigen Sonntag aussehen. 

Aber dann kommt dieser Evangeliumstext, den Michael Brück vorgelesen hat. Zweifel überkommen den Jünger Thomas. Er glaubt das nicht – die Sache mit der Auferstehung. Er will den Auferstandenen sehen, seine Wundmale berühren. Ohne Beweise kann er so etwas gar nicht annehmen. 

Ja, toll! Thomas darf dem Auferstandenen dann die Finger in die Wunden legen. Und wir? Wir bleiben mit unseren Zweifeln zurück. Nichts da mit erneuert, taufrisch und wiedergeboren. Oder doch?

Nun kommt der Predigttext des heutigen Sonntags hinzu. Er beschreibt eine Szene wie aus einem Traum. Diese Szene erzählt von einem, der mitten in diesen bohrenden Zweifeln steckt: Gibt es wirklich diesen Neuanfang? Gibt es die Vergebung? Gibt es für mich die Chance auf einen Neustart, wie die neugeborenen Kinder?

Der Predigttext ist ein Ausschnitt aus der Jakobsgeschichte. Viele von uns kennen Jakob, Sohn des Isaak und Zwillingsbruder des Esau. Jakob kauft seinem etwas älteren Zwillingsbruder mit einer Linsensuppe das Erstgeburtsrecht ab. Er stiehlt seinem Zwillingsbruder Esau mit einer List den Segen. Er bringt ihn sozusagen um das Erbe des Vaters. 

Und Esau, dem der Segen, das Erbe doch eigentlich zugestanden hätte, geht leer aus. Esau zürnt Jakob, trachtet ihm nach dem Leben – und Jakob flieht in die Fremde. 

Dort arbeitet er 14 Jahre und mehr für seinen Schwiegervater Laban. Jetzt wird er auch mal betrogen. Laban schiebt ihm nach sieben Jahren harter Arbeit die falsche Frau in der Hochzeitsnacht unter, Lea. Jakob muss noch einmal sieben Jahre arbeiten, für Rahel, seine Angebetete. 

Dann türmt er mit beiden Frauen und Nebenfrauen und seiner Herde, die er seinem Schwiegervater abgeluchst hat. Er kann nicht zurück, er muss jetzt weiterziehen. Neue Schuld gegenüber seinem Schwiegervater treibt ihn wieder heim. Und er hört: Sein Bruder Esau zieht ihm entgegen. Mit 400 Mann. Mit einem riesigen Heer. 

Jakob will von seinem Schwiegervater wegkommen, um in der alten Heimat neu anzufangen. Alles noch mal von vorne. Das Vergangene hinter sich lassen. Wie die neugeborenen Kinder. 

Aber das geht nicht. Das Vorvergangene holt ihn wieder ein. Sein betrogener Bruder Esau. Jakob lässt seinen Frauen und Mägde, seine Kindern und sein ganzes Vermögen über den Fluss Jabbok ziehen. Er selbst bleibt am Fluss zurück. Zögert er aus Angst vor der Rache seines betrogenen Bruders? Hat er Angst – oder plagen ihn Gewissensbisse? Wir erfahren es nicht. 

Der Predigttext erzählt von einem Menschen, der heute am Weißen Sonntag ankommen will, der neu anfangen will und es doch nicht kann. Hören Sie selbst. Ich lese aus 1. Mose 32,23-32:

 

Und Jakob stand auf in der Nacht und nahm seine beiden Frauen und die beiden Mägde und seine elf Söhne und zog durch die Furt des Jabbok. Er nahm sie und führte sie durch den Fluss, sodass hinüberkam, was er hatte. Jakob aber blieb allein zurück. 

Da rang einer mit ihm, bis die Morgenröte anbrach. Und als er sah, dass er ihn nicht übermochte, rührte er an das Gelenk seiner Hüfte, und das Gelenk der Hüfte Jakobs wurde über dem Ringen mit ihm verrenkt. 

Und er sprach: Lass mich gehen, denn die Morgenröte bricht an.

Aber Jakob antwortete: Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn.

Er sprach: Wie heißt du?

Er antwortete: Jakob.

Er sprach: Du sollst nicht mehr Jakob heißen, sondern Israel; denn du hast mit Gott und mit Menschen gekämpft und hast gewonnen.

Und Jakob fragte ihn und sprach: Sage doch, wie heißt du?

Er aber sprach: Warum fragst du, wie ich heiße? Und er segnete ihn daselbst. 

Und Jakob nannte die Stätte Pnuël: Denn ich habe Gott von Angesicht gesehen, und doch wurde mein Leben gerettet.

Und als er an Pnuël vorüberkam, ging ihm die Sonne auf; und er hinkte an seiner Hüfte.

 

Wir sollen wir die Geschichte verstehen? Als eine uralte Erzählung über einen Menschen, der vor 3000 Jahren lebte? Oder als eine Verbildlichung unser eigenen inneren Kämpfe? Vielleicht als beides zugleich. 

Der Fluss trennt Jakobs altes Leben von seinem neuen Leben. Er muss hinüber. Er zögert. Soll er den Schritt tun? Seine Schuld treibt ihn. Noch ältere Schuld hält ihn zurück. Eine Jugendsünde, ein Geschwisterkonflikt. Er steckt fest. Neu anfangen ist gar nicht so einfach.  

In der Nacht kommen sie, die Geister. Dieser hier ringt mit ihm bis die Morgenröte anbricht. Der Kampf ist so hart, dass er physische Spuren hinterlässt. Der Morgen naht. 

Wenn es hell wird, vertreibt die Sonne die bösen Geister wie auch die bösen Gedanken. Aber Jakob lässt nicht los. Er hält fest an diesem Geist, der ihm doch nur Schaden zufügt. Er hält ihn fest und verlangt von ihm: „Segne mich. Du, Unhold, sollst mich unverwundbar machen. Du sollst meine Verheißung sein.“

Dass man dem, was einen schreckt, so fest ins Auge blickt, ist ungewöhnlich. Aber Jakob tut es. Und der böse Geist spürt diese Kraft, diese Energie, diesen Willen. Und er sagt: „Jakob" - dieser Name war einmal. Israel sollst du heißen: Gottesstreiter. Denn du hast mit Gott gerungen.

Jakob geht als ein neuer Mensch aus der Traumszene hervor. Als ein Mensch mit neuem Namen, mit neuer Identität. Gottesstreiter nennt er sich fortan: Einer, der es mit den höchsten Mächten aufnimmt. Er habe mit Gott persönlich gerungen, sagt Jakob. 

Andere würden zurückschrecken; in sich zusammensacken; sich dem Schicksal übergeben. Nicht so Jakob. Er hat mit einem Geist gestritten, der sich nicht zu erkennen gab. Der seine Identität, seinen Namen nicht verriet. Er weiß nicht genau, was ihn da in dieser rätselhaften Nacht am Jabbok umgetrieben hat. Er weiß nur, dass er gestärkt aus diesem Kampf hervorgeht. 

Die Sonne geht auf. Und Jakob hinkt. Der Kampf hat Spuren hinterlassen. 

---

Und wie geht die Geschichte weiter? Esau wird an diesem Tag mit seinen 400 Mann weiter vorrücken, auf Jakob zu. Das vermeintliche Unheil nähert sich unaufhaltsam. 

Jakob wird Vorsichtsmaßnahmen ergreifen. Er stellt seine Lieblingsfrau Rahel und seine Lieblingskinder Josef und Benjamin nach hinten, geschützt von den anderen. Dann läuft er seinem Bruder entgegen, weicht der Begegnung nicht aus – so wie er auch dem nächtlichen Geist nicht ausgewichen ist. 

Sieben Mal verneigt sich Jakob vor seinem Bruder, fällt auf den Boden. Eine Demutsgeste. Eine Art Entschuldigung. Ein Flehen: Sieh doch, es tut mir so unendlich leid. Bitte, bitte, lass uns den Streit beilegen!

Und was macht Esau? Er läuft Jakob entgegen und herzt ihn und fällt ihm um den Hals und küsst ihn – und sie weinen.   

---

Die Angst vor der Begegnung war so groß. Wie gut, dass sich Jakob ein Herz gefasst hat. Wie gut, dass er der Begegnung nicht aus dem Weg gegangen sind. Geschwisterrollen sind unauslöschlich. Geschwisterkonflikte können sich tief eingraben in die Seelen. 

Aber hier haben zwei den Sprung gewagt. Und sie zeigen: Ja, es geht. Wir fangen noch einmal neu an. Wie neugeboren. Quasi modo geniti – wie die neugeborenen Kinder.

Amen.

Dies könnte Sie auch interessieren

0
Feed