08/08/2024 0 Kommentare
Unerwartetes Wiedersehen
Unerwartetes Wiedersehen
# Predigt
Unerwartetes Wiedersehen
Predigttext aus Lukas 24
Und siehe, zwei von ihnen gingen an demselben Tage in ein Dorf, das war von Jerusalem etwa sechzig Stadien entfernt; dessen Name ist Emmaus. Und sie redeten miteinander von allen diesen Geschichten.
Und es geschah, als sie so redeten und einander fragten, da nahte sich Jesus selbst und ging mit ihnen. Aber ihre Augen wurden gehalten, dass sie ihn nicht erkannten.
Er sprach aber zu ihnen: Was sind das für Dinge, die ihr miteinander verhandelt unterwegs?
Da blieben sie traurig stehen. Und der eine, mit Namen Kleopas, antwortete und sprach zu ihm: Bist du der Einzige unter den Fremden in Jerusalem, der nicht weiß, was in diesen Tagen dort geschehen ist?
Und er sprach zu ihnen: Was denn?
Sie aber sprachen zu ihm: Das mit Jesus von Nazareth, der ein Prophet war, mächtig in Tat und Wort vor Gott und allem Volk; wie ihn unsre Hohenpriester und Oberen zur Todesstrafe überantwortet und gekreuzigt haben. Wir aber hofften, er sei es, der Israel erlösen werde. Und über das alles ist heute der dritte Tag, dass dies geschehen ist. Auch haben uns erschreckt einige Frauen aus unserer Mitte, die sind früh bei dem Grab gewesen, haben seinen Leib nicht gefunden, kommen und sagen, sie haben eine Erscheinung von Engeln gesehen, die sagen, er lebe. Und einige von denen, die mit uns waren, gingen hin zum Grab und fanden’s so, wie die Frauen sagten; aber ihn sahen sie nicht.
Und er sprach zu ihnen: O ihr Toren, zu trägen Herzens, all dem zu glauben, was die Propheten geredet haben! Musste nicht der Christus dies erleiden und in seine Herrlichkeit eingehen?
Und er fing an bei Mose und allen Propheten und legte ihnen aus, was in allen Schriften von ihm gesagt war.
Und sie kamen nahe an das Dorf, wo sie hingingen. Und er stellte sich, als wollte er weitergehen.
Und sie nötigten ihn und sprachen: Bleibe bei uns; denn es will Abend werden, und der Tag hat sich geneigt. Und er ging hinein, bei ihnen zu bleiben.
Und es geschah, als er mit ihnen zu Tisch saß, nahm er das Brot, dankte, brach’s und gab’s ihnen.
Da wurden ihre Augen geöffnet, und sie erkannten ihn. Und er verschwand vor ihnen.
Und sie sprachen untereinander: Brannte nicht unser Herz in uns, da er mit uns redete auf dem Wege und uns die Schrift öffnete? Und sie standen auf zu derselben Stunde, kehrten zurück nach Jerusalem und fanden die Elf versammelt und die bei ihnen waren; die sprachen: Der Herr ist wahrhaftig auferstanden und dem Simon erschienen. Und sie erzählten ihnen, was auf dem Wege geschehen war und wie er von ihnen erkannt wurde, da er das Brot brach.
Liebe Gemeinde!
Sie sind noch ratlos, verwirrt, völlig durcheinander, die beiden Jünger, die von Jerusalem nach Emmaus gehen. Das, was passiert ist, macht für sie keinen Sinn.
Man hat Jesus, den gütigsten Menschen, den sie kennen, wie einen Schwerverbrecher hingerichtet.
Die Jünger zweifeln am Verstand ihrer Mitmenschen. Sie verlieren den Glauben an einen gerechten Gott. Sie wissen gar nicht mehr, was sie denken sollen.
Es gibt da unterschiedliche Arten von Menschen, wenn so etwas passiert, was den Verstand völlig durcheinanderbringt. Wenn nach Jahrzehnten des Friedens in Europa plötzlich wieder ein Land ein anderes überfällt – wie damals im 19. Jahrhundert, als man Krieg noch für die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln hielt.
Und dann tauchen zwei Arten von Menschen auf: Die Erklärer, die alles immer schon gewusst und verstanden haben. Und die Verzweifelten, die in sich hineinhören und nur Unordnung erkennen, keine Logik mehr, keinen Sinn.
Von der zweiten Art sind die Jünger. Sie haben auch Hoffnungsvolles gehört, aber auch das macht alles keinen Sinn. Jesus, den man in ein Grab gelegt hatte, war nicht mehr da. Engelswesen sollen den Frauen am Grab gesagt haben, er sei auferstanden. Niemand will das so recht glauben.
Vielleicht weil es eine von diesen billigen Trostgeschichten ist. Da, wo Menschen resignieren, werden sie oftmals empfänglich für die Heilsversprechen. Sie treten einer Sekte bei. Sie verschreiben sich einer Ideologie. Sie ersetzen ihre Verzagtheit durch geradliniges Auftreten, durch Bescheidwisserei. An die Stelle ihres Schweigens tritt belehrendes Gerede. Sie haben einen Weg gefunden, wie sie ihre Zweifel wegreden können. Einfach nur reden, reden, reden, immer das gleiche, bis man mit seinen Gedanken gar nicht mehr aus der Spur herauskommt.
Aber so sind diese Jünger nicht. Sie lassen sich auf keine billige Trostgeschichte ein. Sie haben ihre Hoffnung nicht vergessen, dass dieser Gerechte, dieser Jesus von Nazareth doch für Großes bestimmt war. Dieser Jesus von Nazareth, der sich so offen und freundlich den randständigen Menschen zugewandt hatte, der sich so milde spöttisch über die bürgerlich Hartherzigen äußern konnte, nie vernichtend, nie so, dass er jemandem die Maske vom Gesicht riss, nie so, dass er jemanden in die Enge trieb, sondern einer, der Menschen verwandeln konnte, aus ihnen das Beste hervorholen konnte, der Menschen zum Strahlen brachte. Und nun ist nichts von dem Großen, was er hätte bringen können, übrig. Alles in sich zusammengefallen. Leere. Die Jünger haben ihre Enttäuschung nicht vergessen. Sie wollen sie so leicht auch nicht vergessen machen.
Jesus gesellt sich diesen beiden Gestalten zu. Wie bitte? Ja, Jesus selbst, den sie verloren glauben. Aber sie erkennen ihn nicht, weil ihre Augen gehalten waren. Gehalten von einer Vorstellung. Festgehalten. Sie befinden sich schon in einer Art Nostalgie-Modus. Jesus, ja, das war toll damals. So einen wie ihn wird es nie wieder geben. Nostalgie hält den Blick von der Gegenwart ab. Nostalgie trübt die Augen ein, schiebt ein inneres Bild vor das, was man wirklich sehen könnte, wenn man nur hinschauen würde.
Jesus redet mit ihnen. Das heißt, er redet nicht, er fragt: Worüber redet ihr. Jesus bricht auf seine Weise die Nostalgie auf – durch Neugier. Er belehrt die Jünger nicht, er lebt ihnen vor. Er sagt nicht: Macht eure Augen und Ohren auf. Sondern er selbst macht seine Augen und Ohren auf, sieht hin, hört hin, was treibt die beiden um.
Und dann erzählen sie. Sie kennen das sicherlich auch von sich selbst. Jeder Mensch kennt das. Irgendetwas treibt mich um. Ich führe innere Dialoge. Ich versuche Ordnung in meine Gedanken zu bringen. Aber ich hänge immer wieder an denselben Gedanken fest. Und dann ist da jemand, den interessiert, was ich denke. Der hört einfach nur zu. Und ich rede, und rede, erst die festgefahrenen Gedanken, die ich die ganze Zeit schon mit mir herumtrage. Und diese Gedanken lösen sich dann allmählich auf, neue Gedanken mischen sich dazwischen. Es kann so befreien sein, ein Gegenüber zu haben, das einfach nur zuhört, und dem ich das erklären soll, den Wust, der in meinem Kopf ist. Sparrings-Partner, so nennt man beim Boxen denjenigen, der die Boxschläge beim Üben abbekommt.
Die Jünger reden und reden, bis ihnen die Worte ausgehen. Und dann redet der andere, der Fremde, also Jesus. Und er zieht eine ganz einfache Linie durch das Geschehene. Und auf einmal erscheint alles ganz logisch. Musste das nicht so geschehen? Wie sonst hätte es geschehen können? Nein, so war es richtig.
Und auf einmal löst sich die Ratlosigkeit, die Verwirrung, das Durcheinander auf. Jesus redet den Zweifel nicht weg. Er überredet nicht. Redet nicht tot. Aber er findet die wenigen Worte, die in allem, was die Jünger eben aussprachen und loswurden, noch gefehlt haben. Jesus therapiert, er löst den Krampf.
Aber da ist es schon Abend, und die Wege führen wieder auseinander. Die Jünger sagen: „Bleibe bei uns Herr, denn es will Abend werden, und der Tag hat sich geneigt.“
Dieser Tag neigt sich, weil alles gesagt ist, was gesagt werden muss. Und nun fürchten die Jünger die Pause, die Unterbrechung, die Nacht. Verflüchtigt sich der Trost im Dunkel? „Bleibe bei uns“, sagen sie. Es ist fast schon ein Gebet.
Und Jesus bleibt. Sie kehren ein. Und er teilt das Brot, segnet es und gibt es ihnen. Er spricht das Dankgebet über dem Wein, und sie erkennen ihn. Nicht an dem, was er sagt. Nicht an dem, wie er spricht. Nicht an seiner Stimme. Nicht an seinem Aussehen. Nicht am Kontext. Alles ist anders, als früher. Aber dann ist da dieser eine Blitzmoment, der die Assoziationen weckt. Dieser kleine Augenblick des Wiedererkennens. Ein Déja-vu. Ein erfüllter Augenblick. Ein Moment der Erkenntnis und der inneren Fülle. Das Mahl. Das Brot. Der Wein. Jesus lebt.
Aber du kannst diesen Moment nicht festhalten. Er kommt, und schon ist er wieder verflüchtigt. Und mit ihm entschwindet Jesus vor ihren Augen.
Und eine dritte Erkenntnis macht sich breit. Die erste, das waren die wenigen Worte, die noch fehlten in der Verwirrung. Die gerade Linie, die Jesus durch ihre Gedanken zog. Die zweite, das war das Déja-vu, der kleine Augenblick des Wiedererkennens. Und die dritte Erkenntnis: Er war es. Jesus selbst. „Brannte nicht unser Herz?“ Die Nostalgie hört auf. Die Augen werden wieder sehend. Die Ohren hören wieder hin. Die Jünger sind wieder in der Gegenwart angekommen. Sie trauern nicht mehr dem Phantom ihrer Erinnerung nach, sie gestalten wieder. Sie treten aus den alten Fußspuren heraus und prägen eigene Spuren.
Sie kehren zurück nach Jerusalem, um die anderen aus ihrer Verzagtheit herauszureißen. Um sich mitzuteilen. Sofort. An die Stelle ihres Zögerns und Zagens ist zupackendes Handeln getreten. Auferstehung, das heißt: Aufstehen. Jetzt. Los geht’s.
Amen.
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