Wieso "für mich" gestorben?

Wieso "für mich" gestorben?

Wieso "für mich" gestorben?

# Predigt

Wieso "für mich" gestorben?

Liebe Gemeinde!

Haben Sie sich auch schon mal gefragt, warum Jesus für unsere Sünden gestorben ist? Warum hat Jesus nicht einfach für unsere Sünden gelebt? Warum muss überhaupt jemand sterben für meine Sünden? Ich war doch noch gar nicht geboren, als Jesus gelitten hat, an mich war noch nicht einmal zu denken, damals. Und im Übrigen will ich auch gar nicht, dass Jesus für meine Sünden leidet. Für das, was ich verbockt habe, dafür möchte ich gerne selber geradestehen. Und das erwarte ich auch von allen anderen: Du kannst dich nicht darauf berufen, dass ein anderer stirbt, nur damit du davon kommst! - Haben Sie darüber auch schon mal nachgedacht?

Was heißt es denn überhaupt, dass Jesus für uns gestorben ist? Ich finde, das ist eine der schwierigsten Fragen christlicher Theologie. Ich finde sie so schwierig, dass ich sie heute in dieser Predigt nicht abschließend beantworten kann. Aber ich kann Ihnen erzählen, wie ich mir selber versuche das zu erklären, dass Jesu Leben und Sterben etwas mit meinem Leben zu tun hat. Und wie es mit meinem Leben zu tun haben könnte. 

Anlass dazu bietet der Predigttext für den heutigen Sonntag. Ich glaube, dass er hilft, bei der Beantwortung dieser Frage noch mal ganz von vorne anzufangen. Und die Gedanken in einen anderen Zusammenhang zu rücken. Und wenigstens ein bisschen zu sortieren. 

Ich fange an mit dem lebenden Jesus, wie ich ihn mir vorstelle. Dann erzähle ich, wie ich mir sein Sterben vorstelle. Dabei hilft mir der Predigttext. Und dann versuche ich anhand des Predigttextes zu erklären, was das Besondere an Jesu Tod war – und heute noch ist. 

Ich stelle mir oft vor, ich sei mit Jesus unterwegs. Nicht wirklich. Ich bin nicht schizophren. Sondern ich stelle es mir nur vor, es ist ein Gedankenspiel. 

Gestern zum Beispiel, auf dem Weg zum Markt. Ich stelle mir vor, wir beide radeln durch Offenbach, durch die Geleitsstraße, an der Kaiserstraße links ab. In der Großen Markstraße steigen wir von den Rädern ab und schieben. Vorm Komm-Shopping-Center kniet ein Bettler. Das heißt, er liegt mit angewinkelten Beinen, den Oberkörper nach vorne ausgestreckt, die Stirn auf dem Boden, die Arme nach vorne gestreckt, in den Händen hält er einen leeren Plastikbecher. 

Jesus stellt das Rad ab und geht zum Bettler. Ich sage noch: „Nee, Jesus, wir haben keine Zeit, wir müssen auf den Markt.“ Aber Jesus lässt sich nicht beirren. Er bückt sich neben dem Bettler, spricht ihn an. Der Bettler blickt verwundert hoch. Ich sage noch: „Jesus, ich habe echt jetzt keine Zeit! Wir schaffen den Einkauf heute nicht, ich geh jetzt zum Markt!“ Aber Jesus lacht nur, er hat vollstes Verständnis. Er winkt mir, ich solle schon mal vorfahren, er bleibe noch ein Weilchen. 

Und tatsächlich schiebe ich mein Fahrrad weiter, am Bettler vorbei. Und als ich auf dem Markt ankomme, fängt plötzlich ein Regenschauer an. Alle Leute fliehen ins Trockene. Ich finde Platz unter einer Markise und muss warten. Der Regen kommt kübelweise runter, es blitzt, es donnert. Was Jesus und der Bettler wohl gerade machen? Bestimmt sind sie ins Komm-Center gegangen, sitzen auf einer Bank und plaudern. 

Und ich komme ins Grübeln: Jetzt stehe ich tatenlos unter der Markise; da hätte ich doch genauso gut mit Jesus beim Bettler bleiben können. Ich ärgere mich über mich selbst. Aber ich weiß auch, dass Jesus bei solchen Gelegenheiten immer nur sagt: „Mach dir nicht so viele Sorgen. Lebe einfach, lebe einfach.“ Aber ich grüble weiter. Und ich nehme mir vor: Irgendwann halte ich doch mal beim Bettler an und rede mit ihm. 

Wenn ich Jesus sage: Warum kannst du das, warum kann ich das nicht? Dann sagt er: „Ich bin doch der Menschensohn.“ Er meint, dass er der Messias sei, der König, nicht ich. Er zeigt mir den Weg, das muss ich doch gar nicht tun. 

Aber er zeigt mir einen subversiven Weg, so wird man niemals Herrscher. Er sagt Dinge wie: „Du weißt doch, die als Herrscher gelten, halten ihre Völker nieder, und ihre Mächtigen tun ihnen Gewalt an. Aber so ist es unter euch nicht; sondern wer groß sein will unter euch, der soll euer Diener sein; und wer unter euch der Erste sein will, der soll aller Knecht sein.“ 

Tja, so ist Jesus in meiner Vorstellungswelt. 

Jetzt naht die Karwoche, und ich überlege, wie es weiterging mit diesem so ganz anderen König, mit diesem auf seine ganz eigene Weise so subversiven Jesus. Nein, ich stelle mir seine Verhaftung, sein Verhör, die Folter und all das nicht in Deutschland vor. Ich stelle mir Deutschland als einen Rechtsstaat vor. Da gibt es so etwas nicht. Da soll es so etwas nicht geben. 

Und ich will mir auch nicht Jesus im aktuellen Russland oder in Nordkorea oder Saudi Arabien oder Iran vorstellen. Ich versetze mich zurück in den Garten Gethsemane, damals in der Provinz Judäa unter den Römern. Ich folge dem nächtlichen Trupp, der Jesus abführt, ich folge von ferne. Ich versuche mir ein Bild zu machen, wie Jesus das alles durchsteht: Verleumdung, Folter, die Qualen am Kreuz. 

Jesus wird gekreuzigt, wie ein Aufständischer. Wie einer, der sich zum König macht, um die herrschende Klasse zu stürzen. Richtig ist ja: Er will Menschen verändern, und je mehr Menschen er fasziniert, desto mehr eckt er an. Ich bin ja auch fasziniert, aber ich sehe auch, wie sich sein Weg mit meinem Leben beißt. Was, wenn er nicht nur mich, sondern wenn er die ganze Gesellschaft in Unordnung bringt? 

Jedenfalls soll er sterben, das hat die religiöse Oberschicht beschlossen. Die frommen Priester und Bischöfe wollen ihn wie einen Aufrührer aussehen lassen, wie einen Revoluzzer. Dann wird Pilatus schon wissen, was er tun muss. Denn Pilatus ist bekannt und berüchtigt als ein besonders grausamer Statthalter. Und Pilatus tut es. Ihm ist es egal, wie viele Leute er als Aufständische kreuzigt. Hauptsache, er kann das Volk einschüchtern. 

Und wie ergeht es Jesus? Ich bin nicht dabei. Ich kann nur im Neuen Testament nachlesen und mir ein Bild machen. Die Evangelisten zeichnen in ihren Passionsgeschichten ein Bild von einem Jesus, der relativ gefasst bleibt. Der nicht schreit, nicht jammert, nicht klagt. Und das, trotz dieser unvorstellbaren Tortur. 

Aber jetzt kommt mir der heutige Predigttext dazwischen. Er öffnet mir ein kleines Guckloch. Vielleicht öffnet er ja den Blick auf die traurige Wirklichkeit der Passion. Ich lese ihn vor, er steht im Hebräerbrief 5,1-10. Da heißt es über Jesu Leiden und Sterben:

Und er hat in den Tagen seines irdischen Lebens Bitten und Flehen mit lautem Schreien und mit Tränen vor den gebracht, der ihn aus dem Tod erretten konnte; und er ist erhört worden, weil er Gott in Ehren hielt. So hat er, obwohl er der Sohn war, doch an dem, was er litt, Gehorsam gelernt. Und da er vollendet war, ist er für alle, die ihm gehorsam sind, der Urheber der ewigen Seligkeit geworden, von Gott genannt ein Hoherpriester nach der Ordnung Melchisedeks.

Hier endet der Predigttext. 

So also ist Jesus gestorben. Qualvoll. Ganz fürchterlich mit Bitten und Flehen, mit lautem Schreien und mit Tränen. Kein anderer Autor des Neuen Testaments gibt das zu. Dieser Predigttext erscheint mir wie ein Leak, wie eine Information, die keiner sich traut durchzustechen. 

Nein, der Jesus, der mit mir durch Offenbach geradelt ist und der sich für den Bettler gestern noch Zeit genommen hat, der ist ein ganz normaler Mensch. Und er empfindet wie ich. Und er spürt Schmerzen wie ich. Und er hat Angst wie ich.  

Aber nun sagt der Autor dieser Zeilen im Hebräerbrief, Jesus sei erhört worden. Sein Bitten und Flehen seien erhört worden. Wohl nur posthum, denn Jesus starb, so viel ist klar. Aber der Autor des Hebräerbriefs ist sich sicher: Das war für Jesus nicht das Ende, sondern es ging für ihn weiter, und Jesus hat noch zu seinem Recht gefunden. Wie? – das bleibt hier offen. 

Viel interessanter ist aber, warum der Autor des Hebräerbriefs meint, das Jesus erhört wurde: Weil er Gott in Ehren hielt und gehorsam war. Gehorsam, das muss ich dazu sagen, meint nicht: Jesus habe sich Gott wie einer strengen und fordernden Autorität unterworfen. Sondern Luther hat hier bewusst das Wort „gehorsam“ gewählt, weil in ihm das andere deutsche Wort „hören“ steckt. Im griechischen Urtext finden wir das gleiche Wortspiel. Der Gehorsam, ὑπακοή, kommt vom Hören, ἀκούειν. 

Gehorsam sein und sich dabei unterwerfen, das ist das eine. Hinhören und dann aus freien Stücken Folge zu leisten, das ist etwas ganz anderes. 

Der Hebräerbrief meint also: Jesus hat auch in seinem Klagen, Bitten und Weinen, in seinem lauten Schreien und unter Tränen dennoch auf Gott gehört. Wie er auf den Bettler vorm Komm-Center gehört hat. 

Er hat die Ohren nicht verschlossen, er hat sich nicht abgewendet, ihm wurde die Stimme Gottes nicht lästig, er hielt sich offen und transparent nicht nur für sein Leid, sondern für Gottes Anklage des Menschenleides, jedes Menschenleides.  

Wie Hiob, der leidende Gerechte, blieb sich auch Jesus im Sterben treu, blieb Jesus auch Gott in seinem qualvollen Tod treu. Er entäußert sich all seiner Gewalt, wird niedrig und gering, und nimmt an sich eines Knechts Gestalt, er nimmt an die Gestalt eines Gefolterten, eines elend zugrunde gehenden Menschen. Und dennoch hält er sich offen für Gottes Stimme, auch dann noch, wenn er sie nicht mehr hört und am Kreuz ruft: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen. 

Für den Autor des Hebräerbriefs ist Jesus der wahre Hohepriester. Er ist ein Priesterkönig. Nicht so einer, wie die Bischöfe, die sich teure, prachtvolle, mit Perlen bestickte Gewänder anziehen. Sondern ein echter Priesterkönig wie seinerzeit Melchisedek, der Priesterkönig, dem Abraham begegnete. 

Auf jeden Fall keiner, der unschuldige Lämmer am Kinn greift und ihnen die Kehle durchschneidet – wie es die Hohepriester zur Jesu Zeiten taten. Sondern Jesus ist das Gegenteil. Er mordet nicht. Lieber lässt er sich ermorden. Er hält selbst die Kehle hin, so als wäre er das Opferlamm.

Aber tut er das für mich? So viel vorweg: Ich finde es unerträglich, wenn Theologen sagen: Es sei ein großes Glück für die Menschheit, dass Jesus für unsere Sünden gestorben sei. Nein. Richtig ist, jeder qualvolle Tod, jede Ungerechtigkeit von dieser Dimension ist eine Katastrophe. Auch der qualvolle Tod Jesu. 

Richtig ist aber auch: Jesus war der erste Gerechte, zumindest in unserem kulturellen Gedächtnis der erste, der diesen qualvollen Tod auf sich genommen hat, und dabei nicht von seinem Weg der Gerechtigkeit, der Güte, der Zuwendung abgewichen ist. Jesus ist uns vorangegangen und hat in uns ein Bild geprägt. Und wie dieses Bild über Jahrhunderte Menschen in ihrem Leid getröstet und gestärkt hat, das beschreibt Paul Gerhardt in einer Liedstrophe von seinem Choral „O Haupt voll Blut und Wunden“. Da heißt es:  

Erscheine mir zum Schilde, / Zum Trost in meinem Tod / Und lass mich sehn dein Bilde / In deiner Kreuzesnot.

Da will ich nach dir blicken, / Da will ich glaubensvoll / Dich fest an mein Herz drücken. / Wer so stirbt, der stirbt wohl.

Tausende Menschen aus unserem Kulturkreis sind so gestorben, mit diesem Bild vor Augen: Von Jesus, ihrem Lebensbegleiter, der doch so viel mehr gelitten hat und darüber nicht bitter und zornig und hartherzig wurde. Sondern der auf Gott hörte, bis zum Schluss. 

Hat Jesus meine Sünden auf sich genommen? Ich komme von der Vorstellung nicht los, dass Jesus mir am Komm-Center zuruft: „Fahr schon mal weiter, ich kümmere mich.“ Dieser Jesus ist mir ein Vorbild, ich wäre so gern wie er. Aber ich bin nicht so. Ich bin schwach, und ich sehe auf seine Stärke. Er lässt mich gehen, auch wenn ich weiß: Es wäre richtig zu bleiben und mit dem Bettler zu reden. Es wäre richtig, mehr Gottvertrauen zu haben, mehr die Dinge auf sich zutreiben zu lassen. 

Vielleicht komme ich mal in die Lage, in der ich eine große Prüfung vor Gott bestehen muss. Vielleicht bestehe ich. Vielleicht aber auch nicht. Und dann sehe ich diesen Jesus vor mir, der mir zuruft: "Fahr schon mal weiter, ich kümmere mich." 

Amen. 

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