Predigt in der Christvesper am Heiligabend 2022

Predigt in der Christvesper am Heiligabend 2022

Predigt in der Christvesper am Heiligabend 2022

# Predigt

Predigt in der Christvesper am Heiligabend 2022

Liebe Gemeinde, 

draußen ist es eiskalt. Ein Mann findet etwas morsches Holz, kehrt in sein Zimmer zurück. Drinnen wartet seine Frau. Der Mann lacht, weil das morsche Holz süß riecht, wie Kuchen. Die Frau ermahnt den Mann, leise zu sein. Ihr Sohn schläft in einem Bettchen beim Ofen. Das Licht vom Feuer fällt auf das Baby. Es ist erst eine Stunde alt. 

Drinnen ist es nicht viel wärmer als draußen. Die Atemluft hängt weiß im Zimmer. Drei Invaliden, alle drei Kriegsheimkehrer, kommen herein, um ein wenig der Kälte draußen zu entkommen. Es sind Fremde. Sie sahen den Feuerschein. Dann rauchen sie mit dem Mann draußen vor der Tür eine Zigarette. Und dann machen sie dem Kind Geschenke. Einer hat in der Kriegsgefangenschaft einen Esel geschnitzt. Ein anderer holt Bonbons aus seinem Pappkarton. 

Der Schriftsteller Wolfgang Borchert hat diese Szene 1946 in seiner Kurzgeschichte „Die drei dunklen Könige“ beschrieben. In Borcherts Heimatstadt Hamburg waren damals vier Fünftel aller Wohnungen von Bomben zerstört. Die Kälte war unerträglich, der Hunger allgegenwärtig.

Die meisten von uns waren damals noch gar nicht geboren. Nur die Älteren unter uns erinnern sich an die Zeit damals.

Borchert beschrieb eine Szene, wie sie sich damals durchaus hätte zutragen können. Borchers nahm in seiner Kurzgeschichte selbst auch Bezug auf die Weihnachtsgeschichte. 

Aber man erkennt auch so die Weihnachtsgeschichte wieder: in der kalten Behausung, in der Konstellation Vater, Mutter, Kind, im zufälligen Besuch der fremden abgerockten Gestalten. 

Man kann sich diese Geschichte von Wolfgang Borchert auch heute gut vorstellen, in einem Kriegsgebiet der Ukraine, etwa. Oder da, wo Menschen aus bestimmten Ländern in großer Zahl hinfliehen, weil sie es zuhause nicht mehr aushalten, weil sie auch zum Opfer einer fernen Entscheidung irgendeines Politikers werden. 

In der Bibel beschließt irgendein ferner Politiker eine Volkszählung. Heute zetteln sie Kriege an oder schreiben Frauen vor, dass sie ihre Haare zu verhüllen haben. 

Heute irren Menschen aus Russland, aus dem Iran, aus Afghanistan durch die Welt, wie es einst Maria und Josef taten. Heute sind sie die Heimat- und Obdachlosen, wie die Figuren aus Wolfgang Borcherts Kurzgeschichte. Denn dort, wo sie dann ankommen, sind meist schon so viele vor ihnen angekommen sind, dass sie keine Unterkunft finden. 

Man könnte also diese Weihnachtsgeschichte bestimmt in unendlich vielen Variationen heute modern nacherzählen, und man würde immer wieder Anklänge an die biblische Weihnachtsgeschichte erkennen. 

Nur an einem Punkt wird die biblische Weihnachtsgeschichte dann doch etwas ungewöhnlich: Beim Auftritt der Engel. Da wird es dann phantastisch, fast schon märchenhaft. Denn da beschreibt der Evangelist Lukas in seiner Weihnachtsgeschichte folgende Szene:

Und des Herrn Engel tritt zu ihnen – also zu den Hirten. Die Klarheit des Herrn leuchtet um sie. Sie fürchten sich sehr. 

Aber der Engel sagt: 

„Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids.“

Spätestens mit dem Auftritt der Engel geht es Lukas nicht mehr darum, die traurige menschliche Realität abzubilden. 

Sondern in seiner Weihnachtsgeschichte ist der Auftritt der Engel so etwas wie ein Fingerzeit, ein Ausrufungszeichen, ein Hinweisschild: Guckt mal, da, in der Krippe, da liegt der Heiland, der Retter der Welt. 

Dafür fährt Lukas dafür viel Personal auf: die Menge der himmlischen Heerscharen. Denn hier soll etwas Großes geschehen. Der Auftritt der Engel soll anzeigen: Hier geschieht etwas Einzigartiges, etwas nie Dagewesenes, und etwas, das sich nie wiederholen wird. Der Auftritt der Engel weist auf die Zeitenwende hin, die die Geburt Jesu bedeutet. Auf die universale Bedeutung dieser kleinen unscheinbaren Geburtsszene am Rande der Zivilisation. 

Gott wird Mensch. 

Er wird nicht Mensch im Zentrum der Macht; er kommt auch nicht als einer, der sich alles leisten kann; auch nicht als Professor oder Oberpriester. Er kommt in einer verzweifelten Lage zur Welt. Er erleidet mit, was die Menschen ständig auf der Erde erleiden, sogar heute noch erleiden. Er ist nicht theoretisch da. Er ist real präsent, in diesem Kind in dem ärmlichen Futtertrog. 

Und es ist eine Zeitenwende, nicht nur in der Geschichte, sondern auch in uns selbst. Der Auftritt der Engel markiert eine Wendung.

Warum kommt er? Weil Gott ist ein mitleidender Gott ist. Weil er mitleidet.

Das Wort „Mitleid“ spielt bei uns im Gottesdienst eine sehr wichtige Rolle. Das griechische Wort dafür heißt: „Eleos“. Wer öfter mal in den Gottesdienst kommt, weiß, dass wir oft singen: „Kyrie eleison“, dann heißt das: „Herr, habe Mitleid mit uns“. Oder: „Herr, erbarme dich“ – Mitleid hat ja in unseren Ohren auch etwas Herablassendes. Gemeint ist aber Empathie. 

Gehirnforscher sagen: Mitleid oder Empathie können wir nur empfinden, weil wir sogenannte Spiegelneuronen haben. Wenn ein Mensch beobachtet, wie jemand anderes Schmerzen erleidet, dann zeigen seine Nervenzellen das gleiche Aktivitätsmuster, als würde er dieselben Schmerzen bei sich spüren. 

Das heißt: Wir kennen den Schmerz der anderen Person und erkennen ihn am Ausdruck der anderen Person wieder. 

Mitleid hat also jede und jeder. Das ist uns sozusagen mit der Architektur unseres Gehirns mitgegeben. 

Aber mit dem Auftritt der Engel geschieht eine Wendung. Gott hat nicht nur Mitleid, wie jemand Mitleid hat, der andere aus der Ferne beobachtet. Sondern er leidet selbst mit. Aus Mitleid wird Zuwendung. Und darauf weisen die Engel hin.

"Er kommt aus seines Vater Schoß“, heißt es in dem Lied, das wir gleich singen werden:
„und wird ein Kindlein klein,
er liegt dort elend, nackt und bloß
in einem Krippelein.

Er äußert sich all’ seiner G’walt,
wird niedrig und gering,
und nimmt an sich ein’s Knechts Gestalt,
der Schöpfer aller Ding’. 

Gott spricht kein Machtwort, er beseitigt nicht einfach so mal eben das Elend. Das müssen wir schon selber tun. Sondern Gott durchlebt das Schicksal dieser kleinen galiläischen Familie, die vor 2022 Jahren fremd durch die Berge der judäischen Wüste tapste. 

Gott ist den Menschen nahe, die glauben, dass er ferne sei, weil sie traurig sind, oder weil sie einsam sind. Und alle anderen will Gott mit seiner Gegenwart berühren. Gott wird Mensch, damit wir Menschen werden. 

„Heut’ schließt er wieder auf die Tür“, so geht das Lied, das wir gleich singen, weiter.

„Heut’ schließt er wieder auf die Tür
zum schönen Paradeis;
der Cherub steht nicht mehr davor,
Gott sei Lob, Ehr' und Preis. 

Amen. 

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