08/08/2024 0 Kommentare
Predigt am Vierten Advent 2022
Predigt am Vierten Advent 2022
# Predigt
Predigt am Vierten Advent 2022
Liebe Gemeinde,
für den vierten Adventssonntag, den letzten Sonntag vor Heiligabend, ist ein Abschnitt aus dem Philipperbrief als Predigttext vorgesehen. Ich lese vor aus Philipper 4,4-7:
Freuet euch in dem Herrn allewege, und abermals sage ich: Freuet euch! Eure Güte lasst kund sein allen Menschen! Der Herr ist nahe! Sorgt euch um nichts, sondern in allen Dingen lasst eure Bitten in Gebet und Flehen mit Danksagung vor Gott kundwerden! Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, wird eure Herzen und Sinne bewahren in Christus Jesus.
Zwei Dinge fallen den meisten Predigern zu diesem Abschnitt ein: ein Theologenwitz und eine Frage. Erst der Theologenwitz:
Wenn Sie Theologie studieren, müssen Sie sich mindestens einmal komplett durch die Bibel gelesen haben und sich merken, was wo steht (das war noch nicht der Witz, nur die Erklärung vorweg). Denn irgendwann steht eine Bibelprüfung an, das sogenannte Biblicum.
Von einem Theologiestudenten wird überliefert, er sei im Biblicum gefragt worden: „Was steht denn so im Philipperbrief?“
Da merkte dieser Student: Ups, da bin ich leider völlig blank. (Also, er dachte das, und sagte nichts.) Aber dann fiel ihm ein Vers ein, und er sagte: „Freut euch im Herrn allewege.“
„Jaa“ – der Prüfer nickte freundlich, und fügte hinzu: „Und – was steht da noch so?“
Worauf der Geprüfte ins Schwitzen kam und schnell ergänzte: „Und abermals sage ich: Freuet euch.“
Okay, warum wird dieser Witz am Anfang jeder zweiten Predigt erzählt? Weil der Theologiestudent mit dieser Antwort wohl gar nicht so schlecht lag. Im Philipperbrief wiederholt Paulus nämlich mehrmals, dass sich die Gemeinde freuen soll.
Das zweite, was den Predigern zu diesem Text einfällt, ist eine Frage: Kann man Freude befehlen? Kann man Leute dazu auffordern, sich zu freuen? Oder ist Freude nicht vielmehr etwas, das spontan von innen kommt – und sei es als Reaktion auf ein freudiges Ereignis?
Einfach so, jemanden auffordern sich zu freuen - was erwartet Paulus da? Und dann strampeln sich die Predigerinnen und Prediger an dieser Frage ab.
Und ich finde, keine Predigt, die ich dazu gelesen habe, kommt zu einer vernünftigen Antwort. Denn es ist wohl so: Freude kommt spontan aus mir heraus. Und selbst wenn ich mit meiner Freude auf ein freudiges Ereignis reagiere – ich schaffe die Freude nicht aus mir heraus. Ich habe selbst nicht in der Hand, mich zu freuen oder nicht zu freuen. Kein guter Vorsatz löst Freude aus.
So viel vorweg: Ich werde mich in dieser Predigt nicht an dieser Frage abmühen. Denn wenn man sich klar macht, warum Paulus das schreibt, in welcher Situation er sich befindet und was er seinen Adressaten damit mitteilen möchte, dann erübrigt sich die Frage von selbst.
Denn während Paulus seinen Brief an die Gemeinde in Philippi schreibt, befindet er sich im Gefängnis. Aus seinem Brief geht hervor, dass er nicht weiß, ob er die Gefangenschaft überlebt oder nicht. Aber egal wie sein Prozess ausgeht: Er empfiehlt der Gemeinde: Freut euch. – Warum soll sich die Gemeinde freuen? Weil die Wiederkunft Christi unmittelbar bevorsteht.
Man muss sich also einfach nur klar machen: Hier schreibt jemand aus dem Gefängnis, aus einer absoluten Notlage, in der er um sein Leben bangen muss. Und er jammert und klagt nicht. Er bittet nicht um Mitleid. Er verlangt nicht nach Trost und Beileidswünschen, sondern er tröstet und sagt: „Freut euch“.
Und das erinnert mich an Briefe von beeindruckenden Menschen aus der Haft. Es erinnert mich auch an beeindruckende Reden von Menschen unter Lebensgefahr. Dietrich Bonhoeffer schrieb am 19. Dezember 1944 – also fast genau vor 78 Jahren – seiner jungen Verlobten Maria von Wedemeyer einen Brief und fügt ihm ein paar Verse an, die ihm an den Abenden zuvor eingefallen waren. Die Verse waren gedacht – Zitat – „als „Weihnachtsgruß für Dich und die Eltern und Geschwister“. Bonhoeffer schrieb aus der Todeszelle:
Von guten Mächten treu und still umgeben,
behütet und getröstet wunderbar,
so will ich diese Tage mit euch leben
und mit euch gehen in ein neues Jahr.
Noch will das alte unsre Herzen quälen,
noch drückt uns böser Tage schwere Last.
Ach Herr, gib unsern aufgeschreckten Seelen
das Heil, für das du uns geschaffen hast.
Und reichst du uns den schweren Kelch, den bittern
des Leids, gefüllt bis an den höchsten Rand,
so nehmen wir ihn dankbar ohne Zittern
aus deiner guten und geliebten Hand.
Bonhoeffer weiß zu dem Zeitpunkt nicht, ob er die Gefangenschaft überleben wird. Aber er fordert nicht Trost ein, sondern er tröstet die Daheimgebliebenen. Und er stellt ihnen das Heil in Aussicht, für das Gott uns geschaffen hat.
Auch Nelson Mandela tröstete am 28. Dezember 1970, fast genau vor 52 Jahren, seine Frau Winnie Mandela aus dem Gefängnis auf eine so unnachahmlich liebevoll-sarkastische Weise, dass man darüber lachen muss („Freuet euch“). Und er stellte ihr Besserung in Aussicht – nicht sofort, sondern erst nach sehr langer Haft. Er bleibt damals auch mit seiner kühnsten Hoffnung ein Realist. Nelson Mandela schreibt an seine Frau:
Mach Dir keine Sorgen, mein Schatz, ich hoffe, länger als Methusalem zu leben und bei Dir zu sein, wenn Du die Menopause längst hinter Dir hast, wenn nicht einmal mehr Zeni und Zindzi (das sind die Töchter von Nelson und Winnie Mandela) sich um Dich kümmern werden, wenn all Dein jetziger Glanz vergangen ist und Dein Körper, auch Dein schönes Gesicht, faltig und Deine Haut hart sein wird wie bei einem Rhinozeros. Ich werde Dich pflegen und mich um Dich kümmern.
Nicht eine Spur von Selbstmitleid. Aber ganz viel Trost und unverstellte Liebe sprechen aus dieser Ermutigung.
Nicht in die Serie der Ermutigungen aus dem Gefängnis, wohl aber in die Serie von Ermutigungen in Todesgefahr passt die letzte Predigt von Martin Luther King am Vorabend seiner Ermordung. Sie ist ein beeindruckendes Beispiel dafür, wie ein Prediger seiner Gemeinde ein sehr reales Heil, eine sehr reale Erlösung in Aussicht stellt: das Ende der Segregation, das Ende von Rassismus und willkürlicher, grundloser Erniedrigung. Martin Luther Kings Predigt am Abend des 3. April 1968, am Tag, bevor er in Memphis, Tenessee, erschossen wurde, endete mit diesen Worten:
Ich war auf dem Berggipfel. Ich sorge mich nicht. Wie jeder andere würde ich gern lange leben. Langlebigkeit hat ihren Wert. Aber darum bin ich jetzt nicht besorgt. Ich will nur Gottes Willen tun. Er hat mir gewährt, auf den Berg zu steigen. Und ich sah von dort hinüber. Ich habe das Gelobte Land gesehen. Vielleicht gelange ich nicht dorthin mit euch. Aber ihr sollt heute Abend wissen, dass wir, als ein Volk, ins Gelobte Land gelangen werden. Und deshalb bin ich glücklich heute Abend. Ich mache mir keine Sorgen wegen irgend etwas. Ich fürchte niemanden. Meine Augen haben die Herrlichkeit des kommenden Herrn gesehen. Amen.
Und wenn man diese Ermutigungen nebeneinanderlegt, dann verwundert es überhaupt nicht, dass Paulus wiederholt die Philipper auffordert: „Freuet euch.“ Er will sie ermutigen und trösten. Er will ihnen sagen, dass das, was den Philippern und auch Paulus selbst in Aussicht steht, so groß ist und so bedeutend, dass Paulus sich gar nicht um sein eigenes Leben sorgen muss, und auch niemand sonst.
Ob das die Philipper ermutigt hat, ob sie sich dann wirklich gefreut haben, das wissen wir nicht. Aber wenn jemand so ergriffen ist von seiner Hoffnung, wie Paulus, Dietrich Bonhoeffer, Nelson Mandela und Martin Luther King es waren, dann – so kann ich mir vorstellen – färbt diese Hoffnung ab, hinterlässt sie Spuren bei denen, die sie damit ansprechen.
***
Sie merken: Der Predigttext hatte ursprünglich gar nichts mit dem Advent und dem bevorstehenden Weihnachtsfest zu tun.
Ist es also nichts als ein kreatives Missverständnis, wenn wir die Aufforderung „Freuet euch“ auf den vierten Advent deuten – als Vorfreude auf Weihnachten? Und wenn wir die Hoffnung auf die Wiederkehr Christi, „der Herr ist nahe“, darauf beziehen, dass Weihnachten naht.
Paulus glaubte immerhin noch, die Wiederkunft Christi stehe unmittelbar bevor. Wir rechnen jetzt nicht unbedingt mehr damit, dass Christus im Laufe der nächsten Monate auf einer Wolke zu uns hinabgleitet, dann die Toten auferstehen und das Jüngste Gericht beginnt – zumal in den vergangenen 2000 Jahren auch nichts in dieser Hinsicht geschehen ist.
Und wir haben die Erwartung der Wiederkunft Christi längst ritualisiert. Wir haben sie in unseren Jahreskalender eingebunden. Wir machen aus dem Warten auf die Wiederkunft Christi – das Warten auf Weihnachten.
Ja, man kann das ein kreatives Missverständnis verstehen. Man kann aber auch sagen: Wer immer diesen Predigttext dem vierten Advent zugeordnet hat, er oder sie will, dass wir Weihnachten auf eine ganz bestimmte Weise verstehen und deuten.
Wie also sollen wir Weihnachten verstehen, wenn wir „Freuet euch, der Herr ist nahe“ im Sinne des Paulus verstehen?
Vielleicht so: Wir sollen das Warten auf Weihnachten nicht als Vorfreude auf einen Konsum- und Geschenketaumel verstehen. Sondern als Vorfreude darauf, dass der Erlöser kommt. Als Trost für das Jetzt. Als Trost, der uns gilt. Als Trost, der uns freudig stimmen soll.
Und auch als Trost für diejenigen, die jetzt in unrechtmäßig Haft sitzen und auf reale Erlösung warten, auf ihre Befreiung, auf ein Wunder. Auch als Trost für diejenigen, die nicht die Möglichkeit haben, sich mit Briefen an die Außenwelt zu wenden.
Wie würde man die Botschaft des Paulus für sie übersetzen?
Wie zum Beispiel könnte man der belarussischen Oppositionellen Maryja Kalesnikawa Mut machen?
Sie erinnern sich vielleicht: Maryja Kalesnikawa hatte nach den gefälschten Wahlen 2020 in Belarus öffentlich protestiert. Sie wurde verhaftet. Und sie soll sich einer Ausweisung aus Belarus widersetzt haben. Aktuell ist sie ohne Kontakt zur Außenwelt irgendwo in einem belarussischen Gefängnis. Und wir wissen nicht, was ihr dort widerfährt.
Ich habe natürlich keine abschließende Antwort darauf, was Maryia Kalesnikawa Mut machen würde. Aber vielleicht wirken heute Zeilen aus einem Lied von Wolf Biermann wie eine entsprechende Ermutigung. Biermann lebte 1968, als er das Lied schrieb, noch als kritischer Künstler in der DDR. Er widmete das Lied seinem Freund, dem Lyriker Peter Huchel, der damals der StaSi überwacht und isoliert wurde. Biermanns Lied beginnt so:
Du, lass dich nicht verhärten
in dieser harten Zeit.
Die allzu hart sind, brechen,
die allzu spitz sind, stechen
und brechen ab sogleich.
Du, lass dich nicht verbittern
in dieser bittren Zeit.
Die Herrschenden erzittern,
sitzt du erst hinter Gittern –
doch nicht vor deinem Leid.
Biermanns Lied endet mit der Vorfreude auf Erlösung:
Wir wolln es nicht verschweigen
in dieser Schweigezeit.
Das Grün bricht aus den Zweigen,
wir wolln das allen zeigen,
dann wissen sie Bescheid.
Wir sollen uns auf Weihnachten als auf ein Fest der Freiheit freuen. Der Wegbereiter der Freiheit kommt zur Welt. Er setzt aller Tyrannei ein Ende. Er stößt die Gewaltigen vom Thron und erhöht die Niedrigen. Und ja, das ist nicht nur eine passive, es ist auch eine kämpferische Hoffnung.
Denn es ist nur eine Frage der Zeit, dann kommt auch der Böseste zu Fall. Freuet euch.
Amen.
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