Predigt am Dritten Advent 2022

Predigt am Dritten Advent 2022

Predigt am Dritten Advent 2022

# Predigt

Predigt am Dritten Advent 2022

Liebe Gemeinde,

wer von Ihnen schon mal durch Israel gereist ist, kennt diese Schnellstraße. Sie ist eine gut ausgebaute, perfekt geteerte breite Straße, die sich aus der Jordansenke hinauf nach Jerusalem schlängelt. Sie steigt sanft an, kurvt um die zackigen hochragenden Sandsteinberge, die von tiefen Wadis durchzogen sind. Man rollt über glatten Asphalt. Breit und ruhig steigt der Weg an, von 420 Metern unterm Meeresspiegel im Jordangraben auf 760 Meter über Null in Jerusalem. Über 1000 Meter Anstieg auf 35 Kilometer Straße: 

Das ist die Schnellstraße 1. Oben in Jerusalem geht sie über in die Autobahn 1 und führt wieder hinab ans Mittelmeer bis in die Großstadt Tel Aviv.

Bereitet dem HERRN den Weg!
Macht in der Steppe eine ebene Bahn unserm Gott!
Alle Täler sollen erhöht werden,
und alle Berge und Hügel sollen erniedrigt werden,
und was uneben ist, soll gerade,
und was hügelig ist, soll eben werden;
denn die Herrlichkeit des HERRN soll offenbart werden,
und alles Fleisch miteinander wird es sehen;
denn des HERRN Mund hat’s geredet. 

Es ist, als sei eine Prophezeihung in Erfüllung gegangen. Die Schnellstraße 1 ebnet den Weg hinauf von Jericho nach Jerusalem. Alle Täler sind erhöht, alle Berge und Hügel erniedrigt. Was uneben war, ist nun gerade, was hügelig war, eben. 

Einen sanfteren Aufstieg durch die zerzauste Wüste   als den über die Schnellstraße 1 in Israel   kann man sich kaum vorstellen. Wenn der Prophet etwas vor Augen hatte – und das Bild in seinem Kopf war nun einmal die Landschaft der bergigen judäischen Wüste – dann ist seine Verheißung mit der Schnellstraße 1 in Erfüllung gegangen. Wenn jetzt der Messias von Osten in einer Limousine auf Jerusalem zugerollt käme, er hätte einen sehr bequemen Aufstieg. Aber kommt er auch?

„Tröstet, tröstet mein Volk!", spricht euer Gott.
"Redet mit Jerusalem freundlich
und predigt ihr, dass ihre Knechtschaft ein Ende hat,
dass ihre Schuld vergeben ist;
denn sie hat die volle Strafe empfangen von der Hand des HERRN
für alle ihre Sünden.“

So beginnt die Prophezeihung des Propheten Jesaja. Mit dieser Hoffnung ließ er sich vor zweieinhalb Tausend Jahren zum Propheten berufen. Seine Hoffnung: Der Trost kommt und die Erlösung naht und sie wird über diese Straße nach Jerusalem einziehen – aber erst, wenn die Knechtschaft ein Ende hat. Erst, wenn die Schuld nicht mehr auf einem lastet und einen bindet und in die Knie zwingt, sondern wenn die Schuld vergeben ist. Wenn die Strafe für das eigene Unrecht, die eigene Selbstgefälligkeit, die eigene Rücksichtslosigkeit abgeleistet ist – und zwar durch wirkliche Buße: Wenn man in seinem Herzen bereut, wenn man die eigenen Vergehen zu gestehen bereit ist, und wenn man durch seine Taten beweist: Ich habe verstanden; ich habe aus meinen Fehlern gelernt. 

Auf der sanft ansteigenden Schnellstraße 1 darf nicht jeder beliebige Mensch zu jeder Zeit fahren. Unten in der Jordansenke, wo es ins palästinensische Jericho geht, ist ein Checkpoint der jederzeit geschlossen werden kann, und der auch geschlossen wird, wann immer sich irgendwo ein Attentat ereignet, oder wenn Unruhen auf dem Tempelberg befürchtet werden, oder wenn dem israelischen Geheimdienst irgendwelche Attentatspläne zu Ohren kommen. Und auch oben, am Abzweig bei der israelischen Siedlung Maale Adumim, kurz vor dem Anstieg zum Ölberg, kann die Zufahrt ins palästinensische Al-Azariye jederzeit verriegelt werden. 

Palästinenser, die die wenigen Kilometer von Ostjerusalem nach Jericho reisen, müssen dann umständlich durch die Berge kurven, auf staubigen Wegen voller Schlaglöcher. Die Schnellstraße 1 durchtrennt die palästinensischen Autonomiegebiete. Für den Berufsverkehr und Warenverkehr braucht es auf wenigen Kilometern oft unnötige Stunden von Umwegen – und zwar immer dann, wenn gerade irgendwo ein Anschlag war, oder wenn irgendwo für Israel Gefahr lauert. 

Verständlich, dass Israels Militär das Leben und die Gesundheit der eigenen Bürger irgendwie absichern will. Israel ist ein Staat, der sich um seine Bürgerinnen und Bürger kümmert. Das Problem ist nur: Alle Palästinenser müssen unter den Sicherheitsmaßnahmen, unter den Abriegelungen und Kontrollen leiden. Sie alle werden in Kollektivhaftung genommen, während Autos mit israelischem Kennzeichen weiter ruhig über die Schnellstraße 1 rollen. 

Technischer Fortschritt gaukelt vor, wir Menschen könnten alle unsere Probleme lösen. Und dann scheitert es an Rücksicht, an Fairness, an Verständnis füreinander, an der nötigen Geduld, am nötigen Vertrauen. Das ist nicht nur auf der Schnellstraße 1 in Israel zu beobachten. Das geht schon vor der eigenen Haustür los, bei mir, bei dir, bei uns hier in Offenbach zwischen den Vierteln, im eigenen Büro, in der Schule, in den Familien. 

Wir sagen es nicht so offen, aber wir handeln zu oft danach, intuitiv, in kurzen Reaktionen, in kleinen, unmissverständlichen und schmerzhaften Gesten: „Du und deinesgleichen, ihr gefährdet meine Sicherheit. Also halte ich mich von dir und deinesgleichen fern. Du und deinesgleichen, ihr denkt anders, habt andere Umgangsformen, begrüßt einander anders, redet anders miteinander, tragt andere Kleidung, feiert andere Feste, verkörpert eine andere Kultur. Wir sind nicht neugierig aufeinander, nein, wir wollen nichts voneinander lernen, gar nichts. Wir halten uns gegenseitig vom Leib.“ 

Wir tragen solches Gerede nicht offen vor uns her. Es ist ja auch kein nettes Gerede. Wir suchen eher die subtile Abgrenzung voneinander. Zwischen Menschen unterschiedlicher Herkunft. Zwischen Menschen unterschiedlicher sozialer Umgangsformen. Zwischen Menschen unterschiedlicher sozialer Schichten. Da kann sich niemand über den anderen erheben. Und deshalb endet die Prophezeiung des Jesaja auch mit jeder Menge Skepsis.

Es spricht eine Stimme: „Predige!“,
und ich sprach: „Was soll ich predigen?
Alles Fleisch ist Gras,
und alle seine Güte ist wie eine Blume auf dem Felde.
Das Gras verdorrt, die Blume verwelkt;
denn des HERRN Odem bläst darein.“ 

Ja, Gras ist das Volk!
Das Gras verdorrt, die Blume verwelkt,
aber das Wort unseres Gottes bleibt ewiglich. 

Jesaja ist zum Propheten des Trostes berufen. Er soll seinem Volk Israel Hoffnung predigen. Aber er schaut sich um, und sieht, dass alles beim Alten bleibt. Alles Menschliche ist vergänglich, sogar die Güte, die Freundlichkeit, die Zuneigung des Menschen ist wie eine Blume auf dem Felde, die verdorrt und verrottet. Heute lächele ich dich an, morgen habe ich es schon wieder vergessen. Ein falsches Wort, eine falsche Geste, irgendetwas, das mein Misstrauen erregt, und dich trifft die gleiche Abneigung, der gleiche Zorn, die gleiche Verachtung, die ich schon Vorgestern für dich hatte. Was für ein Trost deutet sich da an?  

500 Jahre nach diesem Jesaja, nach dem Propheten des Trostes folgte ein anderer Prophet. Er gleitete nicht in einer Limousine die Schnellstraße hinauf. Sondern er trottet auf einem Esel durch die Gassen Jerusalems. Er kam nicht mit machtvoller Geste daher. Sondern er mahnte vor Selbstgerechtigkeit. 

Er malte keine großen politischen Visionen an die Wand. Er sah das Gottesreich im Kleinen kommen, deutete auf die kleinen Anzeichen der Hoffnung. Er bestrafte die Übeltäter nicht mit harter Hand. Sondern er gab sich selbst zum Opfer hin.

Er klagte niemanden an, er richtete und verurteilte nicht. Sondern nahm die Schuld der anderen auf sich, er trug unsere Schuld. 

Im Advent versetzen wir uns zurück in die Rolle des Jesaja, den wir auch den Propheten des Trostes nennen. Wir werden wieder Wartende. Wir üben uns in der Erwartung, dass dieser Heilsbringer in unsere Herzen einzieht, dass er unsere Selbstgerechtigkeit bricht, dass er unseren Mut aufrichtet, dass er uns zum Opfer bereit macht. 

Und wir wissen: Er kommt. 

Amen.

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