Predigt am Zweiten Advent 2022

Predigt am Zweiten Advent 2022

Predigt am Zweiten Advent 2022

# Predigt

Predigt am Zweiten Advent 2022

Liebe Gemeinde,

was ist für Sie Advent? Den Adventskranz schmücken. Plätzchen backen. Den Duft von Teepunsch durch die Küche ziehen lassen. Sterne ins Fenster hängen. Es sich in der Wohnung gemütlich machen. 

Rausgucken aus dem Warmen auf das schmuddelige Grau des Himmels, von dem man nur wenig sieht, weil die Kerzen sich in den Scheiben spiegeln. Sich fallen lassen, draußen die Welt vorbeiziehen lassen. 

Die Älteren unter uns hoffen vielleicht noch unverdrossen auf eine winterliche Weihnacht – die Jüngeren unter uns kennen so etwas ja gar nicht mehr, außer aus den Bilderbüchern der Kinderzeit: Schneebedeckte Tannenbäume, Buden auf Wintermärkten, von denen Eiszapfen herunterhängen, Schlittschuhfahren auf dem See. 

Und dann setzt uns die theologische Kommission der Evangelischen Kirche in Deutschland einen Predigttext für den heutigen Sonntag vor die Nase, der ganz und gar nicht dazu passen will. Einen Predigttext mit Liebesgeflüster. Mit Frühlingsgefühlen. Na, geht’s noch?

Ich lese Ihnen den Predigttext vor. Er steht im Hohelied Salomos im 2. Kapitel, Verse 8 bis 13:

„Da ist die Stimme meines Freundes! Siehe, er kommt und hüpft über die Berge und springt über die Hügel. Mein Freund gleicht einer Gazelle oder einem jungen Hirsch. Siehe, er steht hinter unsrer Wand und sieht durchs Fenster und blickt durchs Gitter. Mein Freund antwortet und spricht zu mir: Steh auf, meine Freundin, meine Schöne, und komm her! Denn siehe, der Winter ist vergangen, der Regen ist vorbei und dahin. Die Blumen sind hervorgekommen im Lande, der Lenz ist herbeigekommen, und die Turteltaube lässt sich hören in unserm Lande. Der Feigenbaum lässt Früchte reifen, und die Weinstöcke blühen und duften. Steh auf, meine Freundin, und komm, meine Schöne, komm her!“

Wie passt so ein Text in den Advent?

Vielleicht denken einige von Ihnen, dass der Advent eine Zeit der Vorbereitung, der Besinnung, des Rückzugs ist – streng genommen sogar eine Zeit der Buße. Jetzt schon davon zu schwärmen, dass der Winter vergangen und der Regen vorbei sei, und dass Blumen im Lande aufgegangen, das ist doch viel zu früh! 

Die Temperaturen draußen mögen herbstlich milde sein, und vielleicht kommt auch gar kein richtiger Winter mehr. Aber noch ist es dunkel und kalt. Und wenn, dann wird es in den nächsten Wochen noch dunkler und noch kälter. 

Frühlingsgefühle, Blütenträume, turtelnde Tauben, fruchtige Feigen und blühende Weinstöcke passen da schlecht ins Bild. 

Was genau passiert da in diesem Liebesgeflüster aus dem Hohelied Salomos? Eine junge, verliebte Frau erzählt, wie ihr Geliebter zu ihr kommt. Er ist auf dem Wege. Sie hört seine Stimme offenbar schon von weitem. Sie sieht, wie er kraftvoll und leichtfüßig zu ihr eilt. Sie hört, wie er sie durchs Fenster bittet, zu ihm zu kommen, wie er durchs Gitter ruft: „Steh auf, meine Freundin, und komm, meine Schöne, komm her!“ Und da endet die Szene auch schon. 

Noch trennt eine Wand das Liebespaar. Noch ist sie nicht bei ihm, noch ist er nicht bei ihr. „Siehe, er steht hinter unserer Wand und sieht durchs Fenster und blickt durchs Gitter.“ 

Der Geliebte ist nahe, aber noch durch eine Wand getrennt. Er ruft sie: „Siehe, der Winter ist vergangen, der Regen ist vorbei und dahin.“ Sie hört es, aber sie kommt noch nicht heraus. Sie bleibt da, wo man sich eben aufhält, wenn es Winter ist: drinnen im Haus. Sie ist noch nicht bei ihm – noch nicht da, wo der Feigenbaum seine Früchte reifen lässt, wo die Weinstöcke blühen und duften. 

Und er, der schon da ist, ruft: „Komm!“ Er will seine Geliebte aus dem Haus herauslocken – in die Freiheit der Liebe. 

Ganz so, wie Gott uns herausruft aus allem, was uns Sicherheit, zugleich aber auch Einschränkung bedeutet. Ganz so, wie Gott um unser Vertrauen wirbt. Komm, meine Schöne, komm her!

Und jetzt kann ich mich fragen, können Sie sich fragen:  In welchem Haus habe ich es mir bequem und gemütlich gemacht?  In welchen Gewissheiten wiege ich mich in Sicherheit?  Welche Wand steht jetzt zwischen Gott und mir?  Aus welchem inneren Gefängnis versucht Gott, mich herauszurufen?  In welchem Winter stecke ich noch fest?

Vielleicht ist etwas in mir festgefroren durch Schmerz und Verlust.  Vielleicht ist Winter in meiner Seele, weil zu viele um mich herum gestorben sind.  Vielleicht habe ich eine menschliche Enttäuschung erlebt, eine Liebe ist zerbrochen, etwas Wichtiges ist mir versagt geblieben. 

Vielleicht ist aber auch gar nichts Dramatisches passiert, sondern ich bin einfach nur eingehaust in einer Routine des Lebens und Glaubens, die durchaus gut läuft, aber ohne besondere Ausschläge. Alles schön eingespielt und vertraut, alles ruhig, berechenbar und sicher wie das sprichwörtliche Amen in der Kirche. Warum sollte ich das aufs Spiel setzen?

Vielleicht steht zwischen mir und Gott auch eine Wand des Misstrauens. Vielleicht habe ich etwas erleben und erleiden müssen, bei dem ich mich von Gott im Stich gelassen fühlte. Das wird mir nicht nochmal passieren, denke ich. 

Ich lasse Gott nicht mehr ganz an mich heran. Auf Gott kann ich mich nicht verlassen, nur auf mich selbst. Und Abenteuer gibt es bei mir schon lange nicht. Zu viele Enttäuschungen. Zu viele Verletzungen. 

Gott höre ich allenfalls durch vergitterte Fenster mir zurufen, indirekt, in schönen Konzerten vielleicht oder kultivierten Predigten, aber mein Herz, meine Seele bleiben unter Kontrolle und geschützt.

„Steh auf! Mach schnell!“ Gott möchte dich mitnehmen, neu aufbrechen mit dir, dich wieder neugierig machen. 

Gott möchte mit dir unerhört Neues erleben, möchte mit dir Menschen entdecken, möchte dich sich mit dir freuen, wenn du frohe Tage erlebst! Mit dir mitleiden, wenn es anders kommt als gedacht. 

Gott steht vorm Haus und schaut schon durchs Fenster hinein. Er blickt in dein Herz und sieht, dass noch so viel Leben in dir ist.

Deshalb: „Mach schnell!“ „Komm heraus!“ Aus deinem Schneckenhaus. Aus deiner selbstgemachten Isolation. Aus deiner Einbildung, dass dich niemand mag. Aus deinen Einreden, dass man von anderen Menschen doch nichts erwarten und schon gar nicht annehmen kann

Genau darum geht es auch im Advent, und das ist das Thema dieses Sonntags: Sich bewegen lassen und noch etwas vom Leben und von Gott erwarten.

Die Schauspielerin und Poetry-Slammerin Julia Engelmann hat ein Gedicht für all diejenigen geschrieben, die einmal in ihrem Leben beweglich waren, aber es jetzt nicht mehr sind. Oder die kurz davorstehen, keine Erwartungen mehr an das Leben zu haben. In ihrem Gedicht „Aufgehört zu träumen“ schreibt sie:

„Wann haben wir aufgehört zu träumen? Wann haben wir angefangen zu sagen: ‚Die Dinge sind, wie sie sind, und so nehmen sie ihren Lauf?‘ Wann haben wir angefangen zu denken: ‚Dafür bin ich schon zu alt‘ und ‚Dafür habe ich keine Zeit.‘ Denn dass ich mich darum sorge, kostet mich auch freie Zeit.“

Advent kann heißen: Spüren, wo noch Winter ist. Wo die Wand ist. Erkennen, was uns von Gott fernhält, was ihn von uns fernhält, und sich dem stellen.

Aber Advent kann auch heißen: Gott sehnsüchtig erwarten – wie eine Liebende. Liebende sehen mehr. Liebende wachsen über sich hinaus, weil sie füreinander da sind und erkennen, was andere brauchen. Leidenschaftlich Liebende können einander ins Herz schauen. 

Gott kommt nicht als „holder Knabe im lockigen Haar“, sondern wie ein leidenschaftlich Liebender, der unbedingt bei uns sein möchte. Gott steht schon vor der Tür. Und heute hören wir seine zärtliche, sehnsüchtige Werbung um uns: „Steh auf, meine Freundin, und komm.“ 

Amen.

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