Predigt am Reformationstag 2022

Predigt am Reformationstag 2022

Predigt am Reformationstag 2022

# Predigt

Predigt am Reformationstag 2022

Liebe Gemeinde, 

was ist eigentlich für Sie Glaube? Was bedeutet Ihnen die Religion? Wo spielt sie, wo spielt der Glaube eine Rolle? Ich vermute, wir verbinden mit dem, was wir Glaube und Religion nennen, sehr unterschiedliche Lebenserfahrungen:

Für manche mögen es Kindheitserfahrungen sein, von Geborgenheit und Sicherheit, von Schönheit und Erhabenheit im Gottesdienst, von dem Geheimnis, das die Liturgie umweht. 

Für andere mögen menschliche Bindungen an frühere Pastoren oder Pastorinnen eine Rolle spielen, Erfahrungen von Angenommensein, Treueverhältnisse, vielleicht auch Erkenntnisse über das Leben, über theologische Fragen. Pastoren oder Pastorinnen, die da waren, als man sie brauchte. 

Wieder andere mögen im Leben Einschnitte erlebt haben, die sie an Grenzen führten, wo sie nicht mehr weiterwussten. Tiefe Schreckenserfahrungen, in denen ein biblisches Wort, ein Gebet oder auch ein Lied weiterhalfen. Vielleicht auch mystische Erfahrungen, Gottesbegegnungen in Momenten, in denen man ganz und gar leer war, zerschlagen, am Boden, wo man nicht tiefer hätte fallen können.

Ich möchte mit Ihnen heute über ein Lied der Reformation sprechen: „Ein feste Burg ist unser Gott“. Ein Kirchenchoral von Martin Luther. 

Es ist so viel Unsinn über dieses Lied verbreitet worden, vor allem im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Und viel von diesem Unsinn hängt dem Lied bis heute irgendwie nach, nur diffus, subcutan, man kann es gar nicht so genau benennen. 

Clemens Brentano veröffentlichte zwischen 1805 und 1808 eine mehrbändige Sammlung deutscher Volkslieder. „Des Knaben Wunderhorn“ heißt sie. Und sie war im 19. Jahrhundert und darüber hinaus weit verbreitet. Darin wird Luthers Choral als „Kriegslied des Glaubens“ bezeichnet.

Achim von Arnim, Ehemann der noch berühmteren Schriftstellerin Bettina von Arnim, dichtete ein Spottlied gegen den französischen Kaiser Napoleon: "Und wenn die Welt voll Teufel wär / und wollte uns verschlingen, / das fürchten Preußen nimmermehr, / es soll uns doch gelingen! / Der Feind dieser Welt, / wie wild er sich stellt, / tut er uns doch nichts, / er scheut ja doch das Licht. / Ein Schuss, der kann ihn fällen."

Luthers Glaubenslied mutierte zum blutigen Propagandasong, zum „Lied der Deutschen“. Hatte der Reformator noch Gottesreich und den Teufel im Widerstreit gesehen, so bezog man das Lied nun auf den preußischen Staat im Kampf mit Frankreich. Chauvinistische Überheblichkeit trat an die Stelle lutherischen Gottvertrauens.

Vor allem aus dem Ersten Weltkrieg sind die sonderbarsten Legenden überliefert. Ein verwundeter Soldat soll auf dem Operationstisch den Choral "Ein feste Burg" angestimmt haben. Und ein englischer Soldat soll berichtet haben: Unvorstellbar schrecklich sei ist, das Maschinengewehr auf ein Regiment zu richten, das mit dem Gesang des Lutherliedes heranstürmt.

Und ich könnte noch schlimmere Beispiele solcher Überheblichkeit und Anmaßung liefern. 

Hat irgendjemand von Ihnen eigene Glaubenserfahrung in diesen Beispielen wiedergefunden? Ich könnte fast wetten, dass das nicht der Fall ist. Gerade hier in der Friedenskirche, wo die Tradition der Bekennenden Kirche großgeschrieben wurde, sind wir – so hoffe ich – alle resistent gegen eine militaristisch-politische Vereinnahmung des Glaubens. 

Dass wir als Christinnen und Christen in bestimmten Situationen auch gefordert sein können, politisch Position zu beziehen, bleibt davon unberührt. Wie aber verbindet sich Luthers Lied „Ein feste Burg“ mit dem, was wir unter Glauben verstehen?

Als Luther dieses Lied gegen Ende der 1520er Jahre dichtete, ging es ihm richtig schlecht. Er litt körperlich von Jahr zu Jahr immer schlimmer an Nierenstein, was zu äußerst heftigen Schmerzattacken führen kann. Nicht nur deshalb erfüllte den Reformator TodesangstAnfang August 1528 starb das zweite Kind von Martin Luther und Katharina von Bora – Elisabeth – einjährig. Der frühe Tod der Tochter traf das Elternpaar sehr hart. 

Wenige Wochen später waren in Schärding am Inn, das ist etwa 15 Kilometer südlich von Passau, zwei von Luthers Anhänger auf einem Scheiterhaufen lebendig verbrannt worden. Stellen Sie sich vor: Von Ihnen geht ein Gedanke aus, der die Runde macht. Und dann erfahren Sie, dass deswegen Menschen zu Tode gekommen sind! Niemand kann sich seiner Sache so gewiss sein, dass ihn solch eine Nachricht nicht erschüttern würde. 

Im Oktober 1528 wütete dann auch noch die Pest in Wittenberg. Martin Luther und Katharina von Bora hatten kurz zuvor ihre Tochter verloren. Nun mussten sie auch noch um ihren zweijährigen Sohn Johannes fürchten. 

Luther schrieb an einen Freund: „Satan hängt sich an mich mit mächtigen Stricken, um mich in die Tiefe zu ziehen, aber der schwache Christus überwindet noch immer durch neue Gebete und streitet wenigstens tapfer.“ In dieser Situation schrieb Luther: „Ein feste Burg ist unser Gott.“ 

Es ist die Nachdichtung von Psalm 46, dem Predigttext von heute. Wir haben ihn vorhin gemeinsam gesprochen. Ich lese ihn noch mal vor. Lesen Sie ruhig mit, unter der Nummer 725 im Gesangbuch. 

Gott ist unsre Zuversicht und Stärke, eine Hilfe in den großen Nöten, die uns getroffen haben. Darum fürchten wir uns nicht, wenngleich die Welt unterginge und die Berge mitten ins Meer sänken, wenngleich das Meer wütete und wallte und von seinem Ungestüm die Berge einfielen. Dennoch soll die Stadt Gottes fein lustig bleiben mit ihren Brünnlein, da die heiligen Wohnungen des Höchsten sind. Gott ist bei ihr drinnen, darum wird sie festbleiben; Gott hilft ihr früh am Morgen. Die Völker müssen verzagen und die Königreiche fallen, das Erdreich muss vergehen, wenn er sich hören lässt. Der Herr Zebaoth ist mit uns, der Gott Jakobs ist unser Schutz. Kommt her und schauet die Werke des Herrn, der auf Erden solch ein Zerstören anrichtet, der den Kriegen ein Ende macht in aller Welt, der Bogen zerbricht, Spieße zerschlägt und Wagen mit Feuer verbrennt. Seid stille und erkennet, dass ich Gott bin! Ich will der Höchste sein unter den Heiden, der Höchste auf Erden. Der Herr Zebaoth ist mit uns, der Gott Jakobs ist unser Schutz.

Wenn Sie oben auf der rechten Buchseite schauen: Diese beiden Zeilen ganz oben hatten es Luther besonders angetan: „Der Herr Zebaoth ist mit uns, der Gott Jakobs ist unser Schutz.“ 

Diese Zeilen kommen ganz am Ende noch mal vor. Und ganz am Anfang des Psalms heißt es auch ganz ähnlich: 

„Gott ist unsre Zuversicht und Stärke, eine Hilfe in den großen Nöten, die uns getroffen haben.“

Das sind die Zeilen, die Luther in dieser extrem schweren Zeit getröstet haben – und die er dann umdichtet zu: „Ein feste Burg ist unser Gott“.

Luther ist verzagt, seine Nerven und seine Kraft liegen danieder, und dieser Situation dichtet er gegen die Depression an. Er lässt sich von seiner Haltlosigkeit, von seinem Gefühl, dem bösen Schicksal ausgeliefert zu sein, von seiner tiefen Verunsicherung nicht fortreißen. Sondern er setzt ein trotziges Dennoch der Verzweiflung entgegen: 

„Und wenn die Welt voll Teufel wär, und wollt uns gar verschlingen, so fürchten wir uns nicht so sehr, es soll uns doch gelingen. Der Fürst dieser Welt, wie sauer er sich stellt, tut er uns doch nicht, das macht, er ist gericht. Ein Wörtlein kann ihn fällen.“

Was ist für Sie Glaube, was ist für dich Glaube? Vielleicht ist Glaube für dich – ähnlich wie bei Luther – das trotzige Dennoch 

  • gegen das Ungemach des eigenen Schicksals
  • gegen das Alleinsein, die unfreiwillige Isolation während der Pandemie
  • gegen die Sorge vor Krieg
  • gegen die Verunsicherung in Zeiten der Inflation

Vielleicht ist Glaube für dich, dass du dir den Gekreuzigten vor Augen hältst, das Bild von dem, den wir gestern im Gottesdienst in einem Lied bekannten als den Sohn, „der annimmt unsere Not, litt unser Kreuz, starb unsern Tod“. Dass du dir den vor Augen hältst, der mit dir durch dein Leiden geht. 

Vielleicht ist es auch die Erfahrung, dass in der Zeit der Not eine Kraft in dir hochsteigt, ein Lebenswille – oder auch die Gewissheit: Du kannst nicht tiefer fallen als in Gottes Hand. Wenn du das spürst, wenn du dir deine eigene Machtlosigkeit eingestanden hast, wenn die spürst, dass dir nur noch eine höhere Macht helfen kann, und wenn du bereit bist, dich dieser Macht anzuvertrauen, dein Leben in ihre Hand zu legen – 

dann bist du Gott begegnet.  Amen.

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