Predigt zur Einführung am 30.10.2022

Predigt zur Einführung am 30.10.2022

Predigt zur Einführung am 30.10.2022

# Predigt

Predigt zur Einführung am 30.10.2022

Liebe Gemeinde, 

mein erstes Mal hier auf der Kanzel vor euch, vor der Prodekanin, vor denen, die mir im Amt vorangegangen sind, vor dem Mentor aus meiner Vikariatszeit, vor meiner Familie, vor Nachbarn hier im Offenbacher Viertel, vor ehemaligen Kolleginnen und Kollegen aus dem Magazinjournalismus und vor vielen anderen. Die Mitglieder der Bonameser und Kalbacher Miriamgemeinde kennen mich ja schon aus ihrer Kirche. 

Ich bin gespannt, wie es ausgeht. Aber noch viel mehr seid ihr gespannt, die ihr keine Probepredigt von mir gehört habt, die ihr mich im Alltag der vergangenen Wochen hin und wieder in persönlichen Gesprächen erlebt habt.

Es ist ein unfassbares Privileg, als Pfarrer in eine Gemeinde zu kommen. Wie viele Türen sich von vornherein öffnen, wie viele offene Gespräche man führt, wie viel Vertrauen einem entgegengebracht wird, Zuneigung, Hilfsbereitschaft, wie viele Menschen auch ihr Herz ausschütten! Für fast jeden anderen Menschen braucht es Jahre oder Jahrzehnte, in einer gewachsenen Nachbarschaft aufgenommen zu werden. Ihr habt mich innerhalb weniger Wochen aufgenommen. 

Danke. 


„Er küsse mich, mit dem Kusse seines Mundes“. So beginnt das Hohelied Salomos im Alten Testament. Eine junge Frau beschreibt, wie sie mit ihrem Geliebten im Bett liegt: „Seine Linke liegt unter meinem Haupte, und seine Rechte herzt mich.“ Und der Geliebte antwortet: „Wie schön ist deine Liebe, meine Schwester, liebe Braut! Köstlicher als Wein ist deine Liebe!“ 

Erotik in der Bibel, kann das sein?

Das Hohelied Salomos ist nicht das gleiche wie das Hohelied der Liebe im Ersten Korintherbrief, wo der Apostel Paulus die Liebe besingt: „Die Liebe ist langmütig und freundlich, die Liebe eifert nicht, die Liebe treibt nicht Mutwillen, sie bläht sich nicht auf“ – und: „Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei, aber die Liebe ist die größte unter ihnen“. 

In seinem Hohelied der Liebe des Paulus besingt eine andere Liebe als das Hohelied Salomos. Bei Paulus geht es um das, was wir meist für die christliche Liebe halten: die Nächstenliebe, die sich verschenkende Liebe, auf griechisch: Agape. Hier, im Hohelied Salomos, geht es um die begehrende Liebe, auf griechisch: Eros. 

Ich beginne die Predigt so, weil der Predigttext für den heutigen Sonntag aus dem Hohelied Salomos stammt. 

Es sind zwei Verse, die bei Hochzeitspaaren sehr beliebt sind und die oft als Trauspruch dienen. Sie stehen fast am Ende des Hoheliedes.

Ich lese vor aus dem Hohelied Salomos 8, Verse 6 bis 7:

„Liebe ist stark wie der Tod und Leidenschaft unwiderstehlich wie das Totenreich. Ihre Glut ist feurig und eine gewaltige Flamme. Viele Wasser können die Liebe nicht auslöschen noch die Ströme sie ertränken. Wenn einer alles Gut in seinem Hause um die Liebe geben wollte, würde man ihn verspotten.“ 

So ist die begehrende Liebe: Sie ist voll Leidenschaft, voll Glut und Feuer. Diese Liebe soll stark sein wie der Tod.

Vielleicht dachten die Menschen, die sich das damals formuliert haben, an eine Liebesgeschichte wie die von Isis und Osiris, eine sehr drastische Erzählung von der Kraft einer Liebe, die sogar den Tod überwindet. 

Die Geschichte beginnt übel – mit einem Brudermord: Osiris wird umgebracht und zerstückelt. Doch das bricht seine Geliebte Isis nicht. Sie sammelt die Leichenteile ein, fügt sie zusammen und – weckt für einen Moment Osiris zum Leben. 

Die Zeit reicht für den Liebesakt. Osiris zeugt Horus. So überwindet Isis den Tod. Ihr Verlangen nach Osiris ist stärker noch als der Tod. 

Bekannt ist das Liebesdrama von Romeo und Julia. Ein Junge und ein Mädchen aus zwei verfeindeten Familien verlieben sich. Die Familien wollen die Verbindung verhindern. Julia soll zwangsverheiratet werden.  

Sie täuscht vor, sie sei gestorben. Doch wegen eines dummen Zufalls erliegt auch Romeo der Täuschung und nimmt sich das Leben – weshalb schließlich auch Julia nicht weiterleben möchte. 

Großes Drama. 

Hier unterliegt die Liebe dem Tod. Aber der Drang zueinander ist dennoch so stark, dass die beiden selbst den Tod nicht scheuen. Die begehrende Liebe ist stark wie der Tod – allerdings auf andere Weise als bei Isis und Osiris. 

Das sind alles sehr große Gefühle, und man wundert sich doch ein wenig, dass von solchen Dingen in der Bibel die Rede ist, im Hohelied Salomos. 

Als Jugendlicher wurde mir erklärt, die erotische Dichtung im Hohelied Salomos habe nur durch einen Trick Eingang in die Bibel gefunden. Der Trick: Man deutete die Liebesdichtung um, bezog den Bräutigam auf Gott oder Christus und die Braut auf Israel oder die Kirche oder auf die gläubige Seele. Und schon hat man aus dem anstößigen Liebeslied ein frommes Stück gezaubert. Und niemand konnte mehr etwas gegen die erotischen Gedichte einwenden. 

Ich habe mich später mit den Theologen näher beschäftigt, die das Hohelied auf diese Weise umgedeutet haben. Und ich muss sagen: Mich fasziniert ihre Deutung. 

Denn sie sagen im Grunde genommen: dass ein Mensch auch in seinem Begehren wachsen und reifen kann. Die begehrende Liebe, wie wir sie aus den romantischen Liebesgeschichten kennen, sei grundsätzlich gut. Nur sei sie eben ein geringes Abbild dessen ist, wozu der Eros tatsächlich im Stande ist. 

Diesen Drang zum anderen Menschen, dieses unstillbare Verlangen, sich für einen anderen Menschen hinzugeben, alles für ihn aufzugeben, einen Drang, stark wie der Tod – den spüren nicht nur Sexualpartner. 

Dieser Drang könne einen Menschen auch dazu bringen, selbst in Todesgefahr den eigenen Kindern beizustehen, Verwandten in äußerster Not zu helfen, Freundinnen und Freunde ungewöhnlich nahe zu kommen. Selbst auf fremde Menschen könne sich dieser Drang richten.

Davon, dass Eltern einen Drang spüren, ganz für ihre Kinder da zu sein, auch davon erzählt die griechische Mythologie. 

Demeter, Göttin der Fruchtbarkeit, sucht verzweifelt ihre Tochter Persephone. Hades, der Gott des Totenreichs, hat Persephone in die Unterwelt geholt. Und nun lässt die Mutter Demeter alles stehen und liegen und tut nichts anderes mehr, als ihre Tochter zu suchen. Pflanzen gehen ein, die Natur erstirbt. Bis endlich Zeus ein Einsehen hat und die Tochter Persephone aus der Unterwelt entlässt. 

Aber nur einmal im Jahr im Frühling darf sie zur Mutter heimkehren. Im Herbst muss sie zurück in die Unterwelt. Mit der Erzählung über elterliche Liebe, stark wie der Tod, erklärt der Mythos den Wechseln der Jahreszeiten. 

Du kannst reifen in deiner Liebe, sagen die altkirchlichen Theologen. Du kannst so sehr reifen, dass du sogar den Drang verspürst, dich für Menschen einzusetzen, denen du nur zufällig begegnet. Der Eros, die begehrende Liebe, kann zum Antrieb werden für die Agape, die sich verschenkende Liebe – wenn dieses Begehren sich auf Christus richtet, den wahren Bräutigam der Seele.

Und das gibt es ja tatsächlich, dass jemand den Impuls verspürt, ins Wasser zu springen, um einem Ertrinkenden das Leben zu retten. Und wenn man solche Retter fragt, warum sie so selbstlos waren, sagen sie: "Ich konnte in dem Moment nicht anders."

Dass jemand das Leben riskiert und in ein brennendes Haus rennt, um Menschen den Weg hinauszuweisen. 

Oder auch dass jemand nicht anders kann als einen Fremden für eine Nacht aufzunehmen, einen Menschen, der einfach keine Unterkunft gefunden hat. 

Mich beeindruckt, was der polnische Kinderarzt Janusz Korczak und seine Mitarbeiterin Stefania Wilczyńska getan haben. Die beiden leiteten ein jüdisches Kinderheim, zuletzt im Warschauer Ghetto. Im August 1942 sollten die Kinder nach Auschwitz deportiert werden. Korczak und Wilczyńska wussten, was auf die Kinder zukam, der Tod.

Janusz Korczak hatte bis zum Zeitpunkt der Deportation die Möglichkeit, ins Ausland zu fliehen. Lieber blieb er bei den Kindern. Stark wie der Tod kann die Liebe sein – nicht weil man sich aufopfert, es ist kein negativer Akt, sagen die altkirchlichen Theologen. Es ist ein Drang. Die gereifte und deshalb Christus begehrende Liebe treibt dich dazu.

Nun mögen Sie sagen: Was ist das für ein Anspruch, was wird da von mir abverlangt? Ich weiß ja noch nicht mal, ob ich das für mein eigenes Kind tun würde. Dazu zwei Anmerkungen: 

  • Zum einen wissen wir nicht, wie wir handeln, wenn wir herausgefordert sind.  
  • Und zum anderen sollten wir nie vergessen, von wie viel Liebe wir sowieso schon umgeben sind. 

Dietrich Bonhoeffer hat einmal formuliert: „Ich glaube, dass Gott uns in jeder Notlage so viel Widerstandskraft geben will, wie wir brauchen. Aber er gibt sie nicht im Voraus, damit wir uns nicht auf uns selbst, sondern allein auf ihn verlassen. 

Wenn wir uns klarmachen, dass hinter allem, was um uns herum gebaut und geschaffen wird, viel Mühe, viel Einsatz, auch viel Liebe steckt..., wenn wir uns klar machen, wie viel Mühe und Liebe es erfordert, eine Stadt wie Offenbach aufzubauen..., wie viel Nachsicht und Geduld es erfordert, eine so bunte und multikulturelle Stadt lebendig zu halten, dass alle irgendwie ihr Auskommen finden, ihre Nische – oder zumindest doch die allermeisten ...,wenn man sieht, wie viel Mühe und Liebe Menschen täglich in diese Stadt, in ihr Gemeinwesen, in ihre kleinen Lädchen und Geschäfte investieren, um alles am Laufen zu halten ...

und wenn wir dann die Bilder vom russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine dagegenhalten, wie schnell all dies zerstört ist, dann muss man sagen: Diese ganze schöne und hässliche, aber doch betriebsame und stets bemühte Welt um uns herum führt uns plastisch vor Augen, wie viel stärker Liebe und Wohlwollen in der Welt wirken, wie viel langfristiger sie wirken, als Wut und Zerstörung es jemals vermögen. 

Wir baden förmlich in Liebe. Wir werden getragen und gehalten von Liebe. Und wir tun gut daran, uns den Blick dafür zu bewahren und ihn uns anzugewöhnen.

Ihr seid die Auserwählten Gottes, die Heiligen und Geliebten – schreibt Paulus im Kolosserbrief – so zieht nun an herzliches Erbarmen, Freundlichkeit, Demut, Sanftmut, Geduld; ertragt einander, vergebt einander!

Der erste Johannesbrief beschreibt die Liebe, von der wir umgeben sind, so: „Gott ist Liebe, und wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott und Gott in ihm“. 

Ich habe kleine Erinnerungskärtchen mit diesem biblischen Vers dabei. Jette, ich habe sie aus deinem Nachlass im Pfarrbüro übernommen. Und heute werde ich sie all denen nach dem Gottesdienst verschenken, die so ein Kärtchen zur Erinnerung mitnehmen möchten. Solange mein kleiner Vorrat reicht. Ein Merkzettel. Denn ihr seid die Auserwählten Gottes, die Heiligen und Geliebten. 

Amen.

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